Yom HaShoah
Wer war Wilfrid Israel? - Eine Annäherung.
© Wilfrid Israel Museum
Von Ruth Przybyla und Yael Goldman
Nie in meinem Leben war ich in Kontakt mit einem Wesen so edel, so stark und so selbstlos, wie er war - in Wahrheit ein lebendiges Kunstwerk.
(1) Albert Einstein an Wilfrid Israels Mutter Amy. 14.6.1943.
Als am 1. Juni 1943 der KLM-Flug 777 von deutschen Jägern über der Biskaya abgeschossen wurde, wussten nur wenige, dass sich hinter dem Kürzel W.I. der Passagier Wilfrid Israel verbarg. Damals wie heute war die Rolle, die er während der Shoa spielte, nur wenigen bekannt. Auf einem Stolperstein in der Spandauer Str. 26-32, Berlin, wird seiner als Kaufhauserbe und Retter jüdischer Kinder gedacht. Wer war Wilfrid Israel, der mit Menschen wie Albert Einstein, Adam von Trott (einer von Hitlers Attentätern), Leo Baeck, Martin Buber, Chaim Weitzman, Lord Samuel und Mahatma Ghandis Freund C.F. Andrews freundschaftlich verbunden war? Wer war dieser Alleinerbe des „Harrod‘s von Berlin“, Kunstsammler, Reformator, Pazifist und Retter tausender Menschenleben?
Dieser Frage widmet sich zurzeit die Künstlerin Nevet Itzhak. Zum 70-jährigen Jubiläum des Wilfrid Israel Museums im Kibbutz HaZorea bereitet sie mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes eine Ausstellung vor, mit der sie die Kunstsammlung Wilfrid Israels in einen neuen künstlerischen Kontext setzen will. Die für Mitte Juni geplante Ausstellungseröffnung möchten wir zum Anlass nehmen und diesem großen Humanisten gedenken, der sein Leben und Vermögen Werten wie Mut, Mitgefühl und Mitmenschlichkeit opferte.
Für den Alleinerben eines der größten Berliner Kaufhäuser und Besitzer doppelter Staatsbürgerschaft (seine Mutter war Engländerin) (2) wäre es 1933 ein leichtes gewesen, durch eine rasche Liquidation der Firma sich und sein Vermögen in Sicherheit zu bringen. Schon früh hatte Wilfrid begriffen, dass Juden in Deutschland keine Chance mehr haben würden. Denn bereits in den ersten Monaten nach der Machtergreifung wurde Wilfrid Israel zweimal von der SA verhaftet: Das erste Mal, weil die SA bei der Durchsuchung des Antikriegsmuseums in Berlin Briefe von Wilfrid an Ernst Friedrich, dem Direktor des Museums, gefunden hatte (Wilfrid Israel war im Ersten Weltkrieg Pazifist), das zweite Mal, als er an einem Treffen der Werkleute (3) teilnahm. Doch anstatt Deutschland zu verlassen, „sah [er] in der Firma N. Israel einen Zweck, der jenseits von Kommerz und Patronage lag. … wenn die Tradition des Hauses N. Israel irgendeinen Sinn hatte, dann den, die Verantwortung nicht nur für das Leben der eigenen Angestellten zu übernehmen, sondern auch für das Leben derer, die in weniger gefestigten jüdischen Firmen arbeiteten.“ (4)
Offiziell Geschäftsmann - inoffiziell Emissär im Untergrund
© Wilfrid Israel Museum Als Geschäftsmann, der in den ersten Jahren nach der Machtergreifung Hitlers weder ein öffentliches Amt innehatte noch offiziell eine Institution oder Organisation vertrat, wurde Wilfrid Israel in den Jahren vor der Kristallnacht-Pogromen zwar von der Gestapo überwacht und wiederholt verhört, hatte aber eine gewisse Freiheit und entging den üblichen Befragungen, wenn er bei seinen häufigen Abstechern ins Ausland angeblich auf Geschäftsreise war. Dieser Status des Geschäftsmanns ermöglichte das Doppelleben, das Wilfrid Israel in diesen Jahren in Deutschland zu führen begann: Offiziell war er Geschäftsmann; inoffiziell arbeitete er als Emissär im Untergrund und wies im Ausland unermüdlich auf die dringliche Lage der Juden in Deutschland hin. Überlebende Mitarbeiter berichteten später, dass er eines der Hauptverbindungsmitglieder zwischen der Führung der Juden in Deutschland und der Welt draußen gewesen sei und dass ausländische Besucher, die sich über die Lage der deutschen Juden informieren wollten, immer zu ihm gekommen seien.
In den Notizen des britischen Diplomaten Robert Vansittart findet sich im August 1936 der Bericht einer Begegnung mit Wilfrid Israel, der „völlig verängstigt“ durch die Hintertür der britischen Botschaft hereingeschmuggelt worden war. Israel klärte Vansittart sofort auf, dass ihn dieser Besuch das Leben kosten könne und wies ihn darauf hin, dass ein weiterer antisemitischer Gewaltausbruch bevorstünde, wenn Großbritannien nicht im Interesse der Juden intervenieren würde. Alles was Vansittart Wilfrid Israel anbieten konnte, war, ein „mäßigendes Wort“ einzulegen. Vansittart notierte, dass dies Israel nicht beruhigte und dieser die Botschaft „zitternd und niedergeschlagen“ wieder durch die Hintertür verließ. (5)
„… seit Jahr und Tag drängt es mich, Sie wissen zu lassen, mit welcher Selbstverständlichkeit und unmittelbarer Empfindung der Nähe … ich an Sie denke. Seit … (damals) … habe ich meinem Maßstab gemäß zu leben und mich einzusetzen versucht.“ (6) Wilfrid Israel 1939 an Albert Einstein
1937 begann Wilfrid Israel inoffiziell für den Hilfsverein zu arbeiten, der sich zu einer leistungsfähigen deutsch-jüdischen Auswanderungsstelle entwickelt hatte und die Überfahrt von Juden in alle möglichen Länder außer Palästina organisierte. Schon bald spielte Israel hier eine führende Rolle. Corder Catchool, Wilfrid Israels britischer Quäker-Freund, stellte ihn 1938 in einem Schreiben an Lord Halifax als den „…wichtigsten Direktor des Jüdischen Hilfsvereins“ vor. Als Wilfrid Israel dort zu arbeiten begann, reorganisierte er als erstes die Antragsannahme, sodass auch Christen jüdischer Abstammung und andere „Nichtarier“ sich an diese Organisation wenden konnten.
Wie sehr Wilfrid Israel über die Lage der Juden informiert war und wie stark er sich für sie engagierte, zeigt ein Brief, den er nur eine Woche nach den ersten Massenverhaftungen und Deportationen von Juden in die Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen an Lord Samuel schrieb:
„Sie werden ohne Zweifel von der Notlage gehört haben, in welche viele unserer Glaubensgenossen seit ihrer Verhaftung in der letzten Woche geraten sind (es können 2-3000 sein). Sie stehen nun Höllenqualen durch in einem der neuen Konzentrationslager und dessen sogenannten Todessteinbrüchen. Die meisten lässt man wie Sklaven 14 bis 16 Stunden am Tag Steine hauen und schleppen. Ihre Aufseher greifen unter diesem oder jenem Vorwand nur allzu gern zur Peitsche. Für Disziplin wird gesorgt, indem man Junge und Alte auf einen Holzbock schnallt und verprügelt, während die anderen dieser Quälerei zusehen müssen. … Viele sehen nur noch einen einzigen Ausweg, dieser Tortur zu entkommen, und rennen in den unter Hochspannung stehenden Drahtverhau. … Verlieren sie keine Minute Zeit und sorgen Sie dafür, dass ein britischer Truppentransporter gechartert wird, der nach Hamburg abgeht und diese verlorenen Kreaturen unter britischem Geleitschutz und unter Überwachung durch das Rote Kreuz, …, auf irgendeine Insel bringt.“ (7)
Die Leute kamen zu Wilfrid Israel und baten ihn um Hilfe, damit ihre Angehörigen aus den Lagern entlassen würden. „Israel übergab die erforderlichen Mittel an seinen Assistenten Hubert Pollack, dieser besorgte Dokumente und Captain Frank Foley, Leiter der Passabteilung des britischen Konsulats [und inoffiziell Chef des britischen Geheimdienstes in Berlin (M16)], erteilte jenen ein Visum, von denen Israel und Pollack versicherten, dass sie ehrbare und nur von der Gestapo angeschwärzte Leute seien. Dieses Verfahren war anscheinend geraume Zeit vor den Kristallnacht-Pogromen zur Standardprozedur geworden. Jeder der drei war ein unentbehrliches Glied in der Kette: Pollack hatte Kontakte zur Gestapo, Wilfrid Israel besaß Geld und direkte Verbindungen zu Förderern im Ausland, und Foley war für die Visaerteilung verantwortlich.“ (8)
… in diesen Zeiten des Massenunglücks, denen so wenige standhalten können, spürt man die Gegenwart dieses » Auserwählten« als Befreier von der Verzweiflung für die Menschheit.
[9] Albert Einstein an Amy Israel
Nach der Reichspogromnacht waren die meisten jüdischen Führungspersönlichkeiten in den Lagern oder hielten sich versteckt; ihre Stimmen waren in der Öffentlichkeit verstummt und ihr Einflusses unterdrückt. Umso mehr liefen zu diesem Zeitpunkt die Fäden bei Wilfrid Israel zusammen, der von nun an keine Nacht mehr am selben Ort verbrachte. Mit Hilfe des jüdisch-deutschen Frauenbundes, der Quäker und führender britischer Juden leitete er den Exodus von 10.000 Kindern nach England in die Wege. Unablässig drängte er auf die Errichtung eines Durchgangslagers, wo die Jüngeren aus den Konzentrationslagern untergebracht werden sollten – was noch einmal 8000 Menschen das Leben rettete. Im Hilfsverein bemühte er sich mit seinen Kollegen darum, Juden in jeden Winkel der Welt, einschließlich Shanghai, zu verhelfen. (10)
Bis zu 2.000 Anfragen pro Tag erhielt der Hilfsverein nach den Kristallnacht-Pogromen. Insgesamt konnten etwa 52.000 Menschen dank des Hilfsvereins Deutschland noch kurz vor Kriegsausbruch verlassen. 52.000 – das waren mehr als bei jeder anderen Organisation. (11)
© Wilfrid Israel Museum Die Verordnung zur Zwangsverwaltung jüdischen Eigentums führte dann auch zum Zwangsverkauf der Firma N. Israel zu einem Bruchteil ihres Wertes. Die 125-jährige Ära des Kaufhauses N. Israel war zu Ende gegangen und das Familienvermögen verloren. Die jüdischen Mitarbeiter, denen ein Bonus von zwei Jahresgehältern ausgezahlt worden war, hatten alle inzwischen das Land verlassen. Mit ein paar Reichsmark in der Tasche fuhr Wilfrid Israel selbst am 15.5.1939 nach England.
In einem Brief vom 7.6.1939 schrieb Albert Einstein an Wilfrid Israel: „Ich habe mich ungemein über Ihren freundlichen Brief gefreut und insbesondere darüber, Sie endlich in Sicherheit zu wissen. Was Sie getan haben, war wirklich heroisch, aber ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass Sie für diese Welt zu gut seien, aber hauptsächlich für jene Umgebung, in der Sie so lange ausgeharrt haben.“ (12)
In Großbritannien setzte Wilfrid Israel seine humanitäre Arbeit fort und half den hier internierten jüdischen Flüchtlingen. Im März 1943 reiste Israel nach Portugal, um dort 200 Einreisezertifikate nach Palästina an jüdischen Flüchtlinge zu verteilen. Seine Maschine, der KLM-Flug 777 von Lissabon nach Bristol, in der Israel am 1.6.1943 saß, hat sein Ziel nie erreicht.
(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Wilfrid_Israel
(2) Wilfrid Israel war sowohl deutscher als auch britischer Staatsbürger.
Die britische Staatsbürgerschaft hat er nicht von seiner Mutter geerbt. Er war britischer Staatsbürger, weil er in London geboren worden war.
(3) Die Werkleute waren eine jüdische-sozialistisch Organisation. Ihre Mitglieder sind nach Palästina ausgewandert und haben dort den Kibbutz HaZorea gegründet, dem Wilfrid Israel seine Kunstsammlung vermachte.
(4) Naomi Shepherd, Wilfrid Israel, Siedler Verlag, Berlin 1985, S.148. Im Folgenden zitiert als N. Shepherd.
Die Biografie wurde aus dem Englischen von Eike Geisel übersetzt. Die englische Originalausgabe erschien 1984 bei Weidenfeld & Nicolson (London) unter dem Titel „Wilfrid Israel: German Jewry’s Secret Ambassador“.
(5) Wilfrid Israel war gewarnt worden, nicht die britische Botschaft zu zu besuchen, weil er ununterbrochen beschattet wurde. Vansittarts Schilderung ist veröffentlicht in: A busman’s Holiday, September 1936, Churchill College, Cambridge, Vnst 1/17. N. Shepherd, S. 173.
(6) Wilfrid Israel 1939 an Albert Einstein, N. Shepherd, S. 246.
(7) House of Lords, Samuel Papers. General Political Papers, A 155X
(8) N. Shepherd, S. 195.
(9) https://en.wikipedia.org/wiki/Wilfrid_Israel
(10) N. Shepherd, 222.
(11) ebd., S. 13
(12) https://archive.org/details/israelfamily_01_reel01/page/n353/mode/2up