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Teil Eins
ZURÜCK IN DEN HIMMEL

Meetei Mayek alphabet
Meetei Mayek alphabet | © Lawai BemBem

Wenn ich in einem neuen Land lande, schaue ich immer als Erstes in den Himmel. Ich verorte meine Entfernung von zu Hause immer durch den Himmel. Ich bemesse mein Gefühl für das neue Land durch den Himmel.

Der Himmel ist Atiya. Atiya ist der letzte Buchstabe des aus 18 Buchstaben bestehenden Meetei Mayek-Alphabets, der Schrift von Meeteilon, meiner Muttersprache. Die ersten 17 Buchstaben sind alle nach Körperteilen benannt, von Kok (Kopf) bis Pham (Plazenta). Meine Lieblingserklärung, warum Atiya unser letzter Buchstabe ist, lautet: Wir gehen auf den Himmel zurück – unsere sterblichen Überreste gehen zurück in den unsterblichen Raum da oben.

Dass ich nach Dresden reiste, hat viel mit Sprache, Körper und Atiya zu tun.

Ich bin einer der bangaloREsidents-Expanded von 2019, im Rahmen eines Projekts des Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan Bangalore. Ich verbrachte fünf Wochen in einer Residency im Zentralwerk, Dresden, wo ich an meinem neuen Projekt Yaang-Huuk-Uun: K(C)onfabulations zu arbeiten begann. Dafür benutze ich das Meetei Mayek-Alphabet als Körper-Schrift-System, um Körpersprachen und Bewegungen zu untersuchen, die in der sozialen, kulturellen und politischen Assimilation verloren gehen. Ich arbeitete dabei mit der südostasiatischen Gemeinde in Dresden zusammen – mit asiatischen Restaurantangestellten, Verkäufern und Studierenden. In einer von mir als Teil meiner Performance-Arbeit entwickelten Einzelgesprächsbefragungstechnik verwendete ich jedes der Alphabet-Körper-Teile als Ausgangspunkt, um über Körperbewegungen im Assimilationsprozess (zu dem man im Deutschen auch „Integration“ sagt) ins Gespräch zu kommen. Ich zeichnete die kleinen & großen Arten und Weisen auf, in denen Körper Dinge im Prozess der Migration und Anpassung vergessen/erinnern und verlieren/aufnehmen. Meetei Mayek dient dabei auch als memotechnisches Hilfsmittel. Wie Faschismus/Kolonialismus/Kapitalismus die Körpersprache/Bewegung politisch verletztlicher Menschen verändert/auslöscht/zerteilt, stand im Zentrum von Yaang-Huuk-Uun: K(C)onfabulations.

Interessanterweise sind die Buchstaben im Meetei Mayek-Alphabet nach menschlichen Körperteilen benannt. Die Bedeutungen sind mit den untenstehenden Buchstaben beschrieben. Die Aussprache wird mit den in Klammern gesetzten Buchstaben beschrieben.
kok = Kopf; sam = Haar; Lai = Sgrn; mit = Auge; pa = Augenbraue; na = Ohr; chil = Lippen; til = Spucke; ngou = Rachen; thou = Brust; wai = Nabel; yang = Wirbelsäule; huk = untere Wirbelsäule; un = Haut; ee = Blut; Oham = Plazenta; atiya = Himmel

Die genauen Umstände meiner Reise nach Dresden erläutere ich in meinem nächsten Aufsatz. Dies ist ein dreiteiliger Essay über meine Zeit und meine Arbeit in Dresden. Dieses ist der erste Teil.

Wir nahmen den Zug vom Flughafen Dresden. Begrüßt wurde ich am Flughafen von D, einem der Künstler am Zentralwerk, und seiner Tochter E und ihrer Freundin T. Sobald wir die S-Bahn-Station Pieschen verlassen und um die Ecke in die Riesaer Straße in Richtung Zentralwerk eingebogen waren, sah ich große Stellen mit Wildblumen, die den Bürgersteig ganz natürlich umfassten. Mein erster Gedanke: Wie schön für die Kinder! Ich wuchs in einem Hinterland voller Wildblumen und wilder Gewächse auf und die Unordnung aus Farben und Formen und Gerüchen und Texturen wie auch die verschiedenen Formen von Hautausschlag, die ich beim Stromern durch das Pflanzen-Chaos davontrug, waren ein prägender Eindruck in meinem Herzen, der mich auf die produktive Einsamkeit und die nicht-menschengemachte Welt vorbereitete.

Der Hof des Zentralwerks ist ein RIESIGES Rechteck, das von Gebäuden verschiedener Größen und Formen eingefasst wird, so dass ich als erstes nur die Farbe/n der Wände wahrnehmen konnte. Als ich die große Schaukel in der Mitte entdeckte, wurde ich wie von selbst von dem Ort eingenommen. Später erfuhr ich, dass sie während des TEH TREFFEN 2019 aufgehängt wurde, welches Mitte Mai stattgefunden hatte. TEH steht für Trans Europe Halles, einem “Netzwerk aus Grasswurzel-Kulturzentren”, das “verwahrloste Gebäude in ganz Europa in belebte Zentren für Kunst und Kultur” umgestaltet. Das erklärte auch die Stapel von Veranstaltungszetteln, die ich im Eingang des Hauptgebäudes entdeckte.
 
Während meiner fünf Wochen im Zentralwerk erfuhr ich nach und nach viel von den verschiedenen Geschichten des Gebäudes. Ich suchte gar nicht selbst-bewusst nach ihnen. Die Geschichten kamen in Gesprächen wie von selbst zu mir – in Fragmenten –, und ich ließ es zu. Ich habe eine Abneigung gegen ein Zuviel an Informationen über Orte, die ich aufsuche. Zeit und Zufall geben von einem Ort viel Wichtigeres preis, wenn man Glück hat.
 
Als ich erfuhr, dass eine Bildhauerin das Gäste-Atelier im Zentralwerk eingerichtet und viele andere Künstler und Künstlerinnen an der Gestaltung des gesamten Gebäudes beteiligt gewesen waren, konnte ich den atmosphärischen Puls des Ortes erspüren. Von dort blickt man auf ein angrenzendes Wohngebäude. Und erstmals in meinem Leben erfuhr ich, dass alte deutsche Damen beim ersten Anzeichen von Regen oder Gewitter dünne Plastikfolien ausbreiten, um ihre Balkonpflanzen vor dem Wolkenbruch zu schützen. Ich wurde nicht müde, mir das Spektakel anzuschauen – wie die Schutzdecken mit aller Vorsicht gehalten und dann über die empfindlichen Blumen ausgebreitet und schließlich mit Klammern festgesteckt werden, so dass sie nicht wegfliegen.

Was mir an meinem Atelier gefiel, war ganz einfach. Es erfüllte mich – es war ruhig, atmosphärisch, geräumig und es gab die Nachbarbalkone, die ich beobachten konnte. 
 
Wenn ich nicht für mich arbeitete, verbrachte ich einen Gutteil der Zeit mit K. Als gelernte Malerin verwandelte K ihr Atelier für uns in einen Ort zum Kaffeetrinken. Wir tranken zu einer festen Zeit des Tages immer Kaffee. Durch das Arbeiten mit ihr, die gemeinsamen Gespräche und Beobachtungen von ihr und ihrer neugeborenen Tochter begann ich – ganz behutsam – Dresden und seine Bewohner zu begreifen. 
 
Am Tag, an dem wir uns erstmals trafen (meinem zweiten in Dresden) nahm sie mich zum Stadtteil-Fest Sankt Pieschen mit, wo ich sah, dass die Elbe wie eine Wirbelsäule durch Dresden verläuft.

An meinem dritten Tag vor Ort, am Sonntag, den 2. Juni 2019, gab ich vor einer Gruppe von Künstlern und Künstlerinnen, die im Zentralwerk arbeiten, ein Künstlergespräch. Ich sprach über meine bisherige Arbeit und meine Pläne für die Zeit im Zentralwerk. Wovon ich eigentlich etwas mitteilen wollte, war die Figur, mit der ich meine Selbstdarstellung begann.
 
WARUM? Weil ich aus einem Land komme, in dem die Auslöschung stattfand, als ich aufwuchs und zu jung war, um zu wissen, was und wie man etwas betrauerte. Meine Arbeiten im Erwachsenenalter, die ich Kunst nenne, sind Zeugnisse über Zeit und Raum hinweg, die an mein Land und die Menschen erinnern, die verschwunden sind.
Blut ist Ee, der 16. Buchstabe des Meetei Mayek.

Ich arbeite auch als Theaterautorin. Ich habe den britischen Dramatiker Martin Crimp sehr genau gelesen. In einem langen Interview mit dem Theaterkritiker Aleks Sierz für dessen Buch The Theatre of Martin Crimp wurde Crimp nach Entwürfen und Workshops gefragt. In seiner Antwort fand ich etwas für mich Treffendes: “An Workshops ist nichts auszusetzen. Man muss aber stark und erfahren sein, um von ihnen zu profitieren.”

Nach den fünf Wochen im Zentralwerk nahmen die Worte von Crimp für mich eine ganz neue Bedeutung an. Die in Dresden entstandene Arbeit wäre vor zehn oder sogar fünf Jahren noch nicht möglich gewesen. Ich hatte damals noch nicht die Stärke und die Erfahrung, um sie in solcher Klarheit und mit einer solchen moralischen Aussage zu gestalten. Das Zentralwerk ist auch einer jener Orte für Kunstschaffende, der einen ganz anderen Geist erfordert – für mich war es der perfekte Ort, um in produktiver Einsamkeit zu arbeiten und die Weltgestaltung an einem Ort wahrzunehmen, der mir neuerlich fremd war. Ich sage “neuerlich fremd”, denn Deutschland ist mir nicht fremd. Vor zehn Jahren lebte ich in München. Aber Dresden ist nicht München.

Dies ist das Ende des ersten Teils dieses dreiteiligen Essays. Fortsetzung folgt, wie man so sagt…

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