Anne Renzenbrink
„Massive Angriffe auf die Pressefreiheit“
Es gab einige bemerkenswerte investigative Berichte über Covid-19. Doch die Zahl der Angriffe auf Journalist*innen nimmt zu, und die Pressefreiheit wurde während der Pandemie immer weiter beschnitten. Selbst in demokratischen Gesellschaften ist Pressefreiheit keine Selbstverständlichkeit mehr.
Von Chaitanya Marpakwar
Anne Renzenbrink ist Pressereferentin bei Reporter ohne Grenzen (ROG) in Berlin, Deutschland, wo einige der größten Anti-Corona-Demonstrationen in Europa stattfanden. Nach Angaben von Anne leisten einige „Helden der Information“ enorme Aufklärungsarbeit im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie. Nichtsdestotrotz habe das Vertrauen in die Medien in jüngster Zeit insgesamt einen neuen Tiefstand erreicht und Gewalt gegen Journalist*innen habe massiv zugenommen. Eine bisherige Bilanz der Angriffe auf Journalist*innen und ihre Sicherheit seit Ausbruch der Pandemie lasse laut Anne einen besorgniserregenden Trend bei Gewalt und Machtmissbrauch gegenüber Medienschaffenden erkennen. Sie rät Journalist*innen zu Wachsamkeit und Vorsicht und außerdem dazu, jeden Missbrauch oder Übergriff bei den Behörden, in den sozialen Medien oder auf Plattformen für Journalisten wie RSF zu melden.
Auszüge aus einem Gespräch
Was waren Ihrer Meinung nach die besonderen Merkmale der Covid-19-Berichterstattung in den Medien? Gab es bestimmte Dinge, die besonders hervorstachen?
Es gab einige bemerkenswerte investigative Berichte zur Covid-19-Pandemie. Ich bin zwar keine Wissenschafts- oder Gesundheitsjournalistin, doch mir ist aufgefallen, dass viele Medienkanäle in ihrer Covid-19-Berichterstattung Zahlen ohne Angaben zum Kontext veröffentlichten. Andere wiederum verglichen sie mit Bevölkerungszahlen und machten bestimmte Zusammenhänge besser deutlich. Die Arbeit einiger Kolleg*innen hat mich sehr beeindruckt. Es gab viele bemerkenswerte investigative Berichte. Darauf können wir stolz sein. Doch es war für uns alle eine Lernerfahrung. Gesundheits- und Wissenschaftsjournalismus sollte viel häufiger auf den Lehrplänen von Journalismusschulen stehen. Wir müssen uns mit diesen Themen auseinandersetzen. Die Gesundheitsberichterstattung muss mehr in den Fokus rücken. Ich möchte an dieser Stelle nicht Kolleg*innen kritisieren, die von der Situation überwältigt waren und einfach nur weiter ihre Arbeit gemacht haben. Doch wir müssen uns in Zukunft mehr auf diesen Bereich konzentrieren und das Thema auch an Journalismusschulen behandeln.
Wie hat sich Ihre Arbeit während der Pandemie verändert?
Ich habe seit März aus dem Homeoffice gearbeitet und bin im Oktober ins Büro zurückgekehrt. Auch bei uns hat sich seit März einiges geändert, denn wir haben auf unserer Website eine neue eigene Rubrik zur Pressefreiheit in der Corona-Krise gestartet. Wir mussten feststellen, dass sich die Covid-19-Beschränkungen ausgesprochen negativ auf die weltweite Pressefreiheit ausgewirkt haben. Aus diesem Grund haben wir uns im März und April auf die Arbeitsbedingungen von Journalist*innen und die Reaktionen der verschiedenen Regierungen konzentriert.
Sie arbeiten für Reporter ohne Grenzen (ROG). In welcher Weise hat die Pandemie der Pressefreiheit geschadet?
Die Pressefreiheit hat weltweit abgenommen. Unsere Nachforschungen zum Zusammenhang zwischen Pressefreiheit und Covid-19 brachten mehrere zentrale Aspekte zum Vorschein. Wir sind auf verschiedene Formen der Einschränkung von Pressefreiheit gestoßen. Es gab die klassische Form der Zensur, wie wir sie bereits kennen, bei der Reportagen und Artikel von Websites gelöscht werden. In vielen Ländern wurden Journalist*innen inhaftiert und instruiert, ausschließlich die offiziellen Verlautbarungen der Regierung zu veröffentlichen. Einige Länder haben Gesetze erlassen, um diese Form der Zensur zu untermauern. Es gab also sehr unterschiedliche Formen. Sogar in den demokratischen Staaten der Europäischen Union (EU) waren beunruhigende Entwicklungen zu beobachten.
Wie steht es um die Pressefreiheit in Deutschland in Zeiten der Pandemie?
In Deutschland ist es schon in einer sehr frühen Phase der Pandemie zu Übergriffen gekommen. Es hat viel Gewalt gegen Journalist*innen gegeben. Die Menschen protestierten gegen Corona-Beschränkungen und Journalist*innen berichteten darüber. Doch der Protestbewegung schlossen sich auch Rechtsextreme an, die den Medien schon immer misstrauisch gegenüberstanden. Entsprechend hoch war die Zahl der tätlichen Angriffe. Journalist*innen und Kameraleute wurden getreten und geschlagen. In vielen Fällen kam es auch zu verbalen Übergriffen. Wir haben unsere Prüfung zwar noch nicht abgeschlossen, doch die Zahl der Angriffe gegen Medienschaffende hat gegenüber dem Vorjahr definitiv zugenommen.
Welche dieser Angriffe gegen Pressevertreter*innen waren besonders beunruhigend?
Physische und verbale Gewalt gegen Journalist*innen ist besorgniserregend. Wir haben Sorge, dass Medienschaffende aus Angst nicht mehr zu Demonstrationen gehen. Einige von Ihnen haben in Tweets mitgeteilt, dass sie bestimmte Proteste meiden oder nicht mehr filmen wollen. Wird diese Form der Gewalt gegen Presseleute nach der Pandemie wieder verschwinden? Die Frage beunruhigt mich. Dies ist eine besonders negative Folge der Ereignisse, die in diesem Jahr in den Medien zu beobachten waren.
Konnten Sie grundlegende Unterschiede zwischen Asien und Europa bei der Berichterstattung über die Pandemie feststellen?
Weltweit wurde die Arbeit der Presse weiter eingeschränkt. Und das nicht nur in China; wir haben Beispiele aus aller Welt zusammengetragen. Auch wenn das Ausmaß der Einschränkungen nicht überall gleich ist, hat sich die Lage der Pressefreiheit auf internationaler Ebene insgesamt verschlechtert. Dies mag auf sehr unterschiedliche und vielfältige, auf subtile oder auf offensichtliche Weise geschehen sein, doch es ist ein globales Problem.
Sie sagen, dass die Pressefreiheit weltweit zunehmend unter Druck gerät. Können Sie dafür einige Beispiele nennen, die Sie besonders schockiert haben?
Das Ausmaß der Gewalt in Deutschland hat mich bestürzt. Im Mai gab es einen brutalen Angriff auf ein Kamerateam des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, das über eine Demonstration gegen Corona-Beschränkungen berichtete. Nur selten müssen die Opfer solcher Übergriffe wie in diesem Fall im Krankenhaus behandelt werden. Das hat mich schockiert. Wie groß muss die Wut der Menschen auf die Medien sein? Ein positiver Aspekt ist dagegen, dass sich viele an vorderster Front für die Pressefreiheit engagieren. Die Berichterstattung aus China war trotz des harten Vorgehens gegen Medien und Whistleblower beeindruckend. Es gab einige hervorragende Berichte. Dies ruft uns in Erinnerung, dass die Entwicklung auch positive Seiten hat. Es gibt die Helden der Information. Zum Beispiel Dr. Li Wenliang, der schon frühzeitig vor dem Ausbruch des tödlichen Coronavirus warnen wollte. Die chinesische Regierung löschte seine Meldungen unter dem Vorwand, es handele sich um falsche Angaben. Doch zahlreiche Aktivist*innen haben diese Informationen wieder und wieder geteilt und in verschiedene Sprachen übersetzt. Außerdem gab es auch wichtige investigative Berichte über Fälle, in denen die Behörden nicht schnell genug reagiert oder Vertuschungsversuche unternommen haben.
Worüber wurde in den Medien nicht berichtet?
Es fehlten Beiträge, in denen der menschliche Aspekt im Vordergrund steht. Verständliche Erläuterungen spielten eine wichtige Rolle. Nicht alle Menschen haben medizinische Kenntnisse oder sind Datenexpert*innen. In der Anfangsphase war auch ich überwältigt. Ich machte mir Sorgen um meine Freunde und meine Familie und beschäftigte mich dann näher mit dem Thema. Um zu sehen, wie Regierungen auf dieses tödliche Problem reagieren. Ich war emotional überfordert. Doch es ist meine Aufgabe, Menschen zu verteidigen, die an vorderster Front über diese Pandemie berichten und sich dabei unter knallharten Bedingungen unglaublich großen Gefahren aussetzen. Für zahlreiche Reporter*innen besteht zudem das Risiko einer Ansteckung. Und auch die inhaftierten Kolleg*innen konnten sich im Gefängnis infizieren. Das ist tatsächlich vorgekommen.
Denken Sie, dass es auch zu Fällen von Selbstzensur kam? Und wird es solche Fälle auch nach der Pandemie noch geben?
Ich denke, es gab auch Fälle von Selbstzensur. Doch wir müssen dafür sorgen, dass sich ein solches Verhalten nicht fortsetzt und in den Köpfen der Menschen verankert. Die Verteidigung der Pressefreiheit hat auch in Gesellschaften mit freier Presse stark an Bedeutung gewonnen. Die freie Verfügbarkeit von Informationen kann während einer Pandemie lebensrettend sein. Menschen müssen Zugang zu Informationen aus vielfältigen Quellen und nicht nur von Seiten der Regierung haben. Die Medien müssen in der Lage sein, über alle Aspekte der Pandemie zu berichten. Für Zensur ist hier kein Platz. Sie ist hochgefährlich. Der Zugang zu unabhängigen Informationen muss gewährleistet sein.
Welche wichtigste Lehre ziehen Sie aus der Pandemie?
Wir können die Pressefreiheit nicht einmal in Ländern mit freier Presse als Selbstverständlichkeit erachten. Sogar in Deutschland und der EU war eine beunruhigende Entwicklung zu beobachten. Die Menschen protestieren, weil ihre Grundrechte durch die Einschränkungen beschnitten werden, gehen aber gleichzeitig auch gewaltsam gegen Medienschaffende vor. Obwohl die Pressefreiheit ebenfalls zu den Grundrechten gehört.
Wie sieht es mit dem Vertrauen in die Medien aus? Befindet es sich ebenfalls auf einem neuen Tiefstand?
Das Vertrauen in die Medien ist zurückgegangen, was ich allerdings nicht mit Daten belegen kann. Vertrauen in die Medien und Übergriffe gegen Journalist*innen bedingen einander, sie gehen Hand in Hand. Sie sind miteinander verknüpft. Wenn die Medienfreiheit abnimmt, sinkt auch das Vertrauen in die Medien. Ab diesem Punkt geht es nur noch abwärts. Ich denke, genau das geschieht zurzeit.
Was sollten Journalist*innen tun, die Angriffen ausgesetzt waren? Können sie etwas tun, um sich und die gesamte Mediengemeinde zu schützen?
Angriffe auf Journalist*innen müssen gemeldet werden. Medienschaffende müssen alle Übergriffe melden. Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Fälle sachlich und wahrheitsgetreu wiederzugeben. In Zeiten wie diesen können wir uns keine Fehler erlauben. Eine gute und sachliche Berichterstattung ist einfach das A und O. Es ist wichtig, über diese Angriffe zu sprechen und sie öffentlich zu machen. Reporter*innen müssen in den sozialen Medien erzählen, was ihnen passiert ist. Die Behörden müssen über derartige Angriffe oder Beschimpfungen informiert werden. Die Opfer von Angriffen müssen zur Polizei gehen und in Foren und Verbänden für Medienschaffende darüber berichten. Es geht darum, dass derartige Vorfälle verifiziert und dokumentiert und die Angreifenden zur Rechenschaft gezogen werden können. Außerdem müssen Polizeikräfte unbedingt im Umgang mit Journalist*innen geschult werden. Und die Polizei muss wissen, dass die Medien das Recht haben, über Proteste und Demonstrationen zu berichten. Dies ist ebenfalls ein wichtiger Punkt.