Geteilte Blicke
Hartnäckige Rollenbilder und wirksame Stellschrauben
„Klebrig“ nennt die Soziologin Jutta Allmendinger die kulturellen Strukturen, die es sowohl Frauen als auch Männern schwer machen, die alten Rollenmuster des Patriarchats zu durchbrechen. Jutta Allmendinger ist Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität in Berlin und frühere Leiterin des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung.
Von Christine Pawlata
Im Rahmen der Veranstaltungsreihe Geteilte Blicke traf Allmendinger im Auditorium San Felice in Mailand auf den italienischen Psychoanalytiker Massimo Recalcati. Die beiden Wissenschaftler diskutierten über die langsamen Veränderungen von Rollenbildern, Gewalt gegen Frauen und Identitätskrisen bei Männern. Wir sprachen vorab mit der Soziologin. Frau Allmendinger, wo stehen wir heute in Deutschland in Bezug auf Gleichstellung?
Ich sehe Fortschritte auch durch eine Partei wie die AfD bedroht, die Gleichstellung und Basisprinzipien wie Selbstbestimmung über den eigenen Körper, Reproduktionsmedizin und Identitäten, zurückdrehen möchte.
Wie sehen Sie die aktuelle Gleichstellungssituation in Italien im Vergleich zu Deutschland?
Die Erwerbstätigkeit von Frauen in Italien liegt 20 Prozentpunkte unter der in Deutschland; jedoch arbeiten Frauen dort häufiger Vollzeit und besetzen öfter „Männerjobs“ in den STEM-Berufen. Dadurch ist die Gender Wage Gap in Italien kleiner; es gibt auch mehr Frauen in Führungspositionen. Die Polarisierung ist in Italien aber viel größer. Man muss darauf achten, dass sich nicht auf der einen Seite eine Elite von Frauen in Führungspositionen bildet, während auf der anderen Seite Frauen aus finanziellen Gründen gezwungen sind, ihre Erwerbstätigkeit zu reduzieren, um den Haushalt über Wasser zu halten.
Wie kann man Männer mehr in die Familienarbeit einbinden?
Die Männer der Generation zwischen 20 und 30 sagen, dass sie die Arbeit partnerschaftlich teilen wollen, doch in der Praxis fallen sie in die traditionellen Rollen zurück. Wenn Männer Väter werden, steigern sie ihre Erwerbstätigkeit, während Frauen ihre massiv reduzieren. Damit haben Männer dann auch nach dem Wiedereinstieg von Frauen, der meistens in Teilzeit erfolgt, die besseren Karrieren und über ein ganzes Leben hinweg gesehen über 1 Million Euro mehr an Lebenseinkommen als Frauen.
Man muss Männern daher Anreize setzen, ihre Lebensmodelle auch tatsächlich umsetzen zu können. Das Koalitionsprogramm in Deutschland sieht mehr Partnermonate und eine höhere Lohnersatzquote vor. Diese liegt im Moment bei 66%. Wenn Väter in Elternzeit gehen, sehen wir, dass sie aufgrund des höheren Durchschnittsalters in besserverdienenden Jobs sind. Berechnet man das Haushaltseinkommen, erkennt man, dass es sich für die Familie nicht lohnt, wenn der Vater in Elternzeit geht. Dagegen haben die Frauen keine Argumentationsmacht. Würden wir die Lohnersatzquote auf 80 oder 90% erhöhen, dann wäre dieses Argument weg. Ich bin mir absolut sicher, dass Männer dann eher Teilzeit und auch längere Elternzeit nehmen würden.
Ist Gleichstellung auch für Männer gut?
Viele Männer erkennen Gleichstellung als Vorteil, weil sie bei ihren eigenen Vätern erlebt haben, wie sie diese wichtigen Jahre im Leben ihrer Kinder verpasst haben. In Deutschland sind Mütternormen jedoch noch immer tief verwurzelt. Wir haben in den letzten Jahren im Rahmen eines Forschungsprojekts Zehntausende von Initialbewerbungen an große Organisationen verschickt. Es handelte sich jeweils um 40-jährige Frauen: Eine Frau hat zwölf Monate Elternzeit genommen, die andere Frau zwei Monate Elternzeit. Man konnte beobachten, dass Frauen, die zwölf Monate Elternzeit nehmen und deren Mann entsprechend gar keine, wesentlich häufiger zu Vorstellungsgesprächen eingeladen wurden. Als wir fragten, warum das so sei, wurde uns gesagt, dass eine Frau, die nur zwei Monate Elternzeit nimmt, eine schlechte Mutter sei. „Sie ist überambitioniert. Sie passt mit Sicherheit nicht in unser Team.“
Das ist natürlich eine No-Win-Situation. Wenn man zwei Monate unterbricht, dann ist die Karriere quasi unbeschädigt. Wenn man zwölf Monate unterbricht, dann hat man extreme Karriere- und finanzielle Einbußen und verfestigt die Ungleichheit innerhalb von Paarbeziehungen.
Ähnlich beim Datingmarkt: Eine Frau, die genauso attraktiv ist wie eine andere, aber einen typischen „Frauenjob“ hat, erhält deutlich mehr Aufmerksamkeit. Sie bekommt mehr Herzchen, wird häufiger gedatet, hat höhere Heiratschancen im Vergleich zu einer Frau, die in einem „Männerberuf“ arbeitet.
Das bedeutet, dass wir in einer Kultur leben, die es Frauen schwer macht, aus der traditionellen Frauenrolle auszubrechen, aber auch Männern Schwierigkeiten bereitet, diese klebrige Kultur zu durchbrechen. Männer müssen sich ständig rechtfertigen, warum sie Teilzeit arbeiten oder länger zuhause bleiben. Diese Normen müssen wir überwinden – und das erfordert, glaube ich, die Anstrengungen von uns allen.