Kirche in Deutschland
Eine Religion für Zweifelnde. Wie glauben die Deutschen?
2020 gab es in Deutschland 22,2 Millionen Katholiken und 20,2 Millionen Protestanten. Im vergangenen Jahr traten 220 000 Mitglieder aus der evangelischen und 221 390 aus der katholischen Kirche aus.
Von Joanna Strzałko
Es ist nicht einfach, einen Platz am Johann-Sebastian-Bach-Gymnasium in Mannheim-Neckarau zu bekommen. Die Warteliste ist lang. Der Elternbeitrag beträgt zwischen 33 und 77 Euro (darüber hinaus erhält die Schule Zuschüsse durch das Land Baden-Württemberg und die Evangelische Landeskirche in Baden). Alle Schülerinnen und Schüler nehmen am Religionsunterricht teil (evangelisch oder katholisch) und besuchen Gottesdienste und Andachten in der benachbarten Matthäuskirche.
„Nehmt ihr nur gläubige Kinder an“, frage ich Amelie Mieg, die seit zwei Jahren als evangelische Religionslehrerin am Bach-Gymnasium arbeitet, und Cornelia Breyer, die dort seit 15 Jahren katholischen Religionsunterricht erteilt.
„Aber nein!“, antworten meine beiden Gesprächspartnerinnen und schütteln energisch die Köpfe.
„Wir sagen auch nicht, dass unsere Konfession die einzig richtige ist“, erklärt Amelie Mieg. „Einige unserer Schüler – Atheisten, Muslime, Buddhisten – haben Angst, dass wir ihren Glauben kritisieren. Aber das tun wir nicht. Für uns ist wichtig, wie sie an Probleme herangehen, und nicht, woran sie glauben. Durch die religiöse Vielfalt in unserer Gruppe sind die Diskussionen um vieles interessanter und inspirierender. Auch weil sich vor allem in den höheren Klassen immer mehr Schüler von der Kirche als Institution distanzieren und ein eigenes Verhältnis zum Glauben entwickeln.
„Viele Menschen sehen schließlich, dass die Kirche, die doch eigentlich Gutes tun sollte, für vieles Schlechte in der Welt verantwortlich ist“, seufzt Cornelia Breyer. „Ich versuche, meinen Schülern zu erklären, dass auf jeden schlechten Priester fünf gute kommen, von denen jedoch niemand spricht, weil die, die Schlechtes tun, die ganze Aufmerksamkeit auf sich konzentrieren. Ich denke, dass dies der Hauptgrund dafür ist, dass unsere Schüler – abgesehen von den Schulgottesdiensten – nicht mehr in die Kirche gehen. Religion ist für sie nicht mehr so wichtig wie für frühere Generationen, und viele von ihnen bezeichnen sich nicht einmal als gläubig. Sie engagieren sich im sozialen Bereich, kämpfen gegen den Klimawandel und für mehr Gleichberechtigung – für all das, was ihnen im am Herzen liegt. Mit der Kirche haben sie dabei nicht viel am Hut.“
„Wegen der Werte, die wir vermitteln“, erklärt Amelie Mieg. „Wir sagen, dass nicht das Geld im Mittelpunkt steht, sondern der Mensch. Dass es wichtig ist, soziale Verantwortung für die Schwächeren zu übernehmen. Unsere Schüler machen Berufspraktika in diakonischen Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe. Ich versuche, ihnen auch beizubringen, andere Religionen und Weltanschauungen zu respektieren. Ich betone dabei, dass wir alle gleich sind. Ich erkläre ihnen, was es bedeutet, ein Teil unser Gemeinschaft zu sein, versuche jedoch nicht, sie auf unsere Seite zu ziehen.“
„Selbstverständlich sprechen wir viel über Gott und über Jesus und beschäftigen uns auch mit dem Judentum, dem Islam und den östlichen Religionen“, fügt Cornelia Breyer hinzu. „Es geht mir jedoch vor allem darum, eine offene Gesprächskultur zu schaffen. Ich möchte, dass die Schüler lernen, eine eigene Meinung zu entwickeln und Sachverhalte kritisch zu hinterfragen. Darauf lege ich großen Wert. Mein Ziel ist es, dass die Schüler sich trauen, Fragen zu stellen und offen ihre Meinung zu vertreten.“
„Und schafft ihr es, diese Ziele zu verwirklichen?“, frage ich nach.
„Vor zwei, drei Jahren hatten wir einen kleinen Skandal an unserer Schule“, lacht Cornelia Breyer. „Einer unserer Religionslehrer, der inzwischen pensioniert ist, behandelte mit den Schülern das Thema Ehe. Er erklärte ihnen, warum die gleichgeschlechtliche Ehe aus Sicht der katholischen Kirche nicht als Sakrament gelten kann. Doch die Schüler hatten den Eindruck, dass er sich gegen homosexuelle Ehen aussprach. Das sorgte für einen Sturm der Empörung! Es gab Proteste und Diskussionen! Es war beeindruckend, zu sehen, wie die Schüler sich zusammenschlossen und offen ihre Meinung vertraten. Der Lehrer nahm das Ganze mit Humor und hängte monatelang eine Regenbogenfahne in seiner Klasse auf, um keinen Zweifel an seinen Anschauungen aufkommen zu lassen.“
Die Schulglocke unterbricht unser Gespräch, und wir gehen zum Unterricht.
Die Schüler hören aufmerksam zu, während sie belegte Brote essen, Saft trinken und auf ihre Tablets schauen. Cornelia Breyer stört das nicht. „Und was ist mit Abtreibung?“, fragt eine der Schülerinnen. „Die Kirche bezeichnet Abtreibung als Mord“, antwortet die Lehrerin. „Aber niemand hat das Recht, dir zu sagen, was du tun sollst. Es ist deine Entscheidung, und du allein musst mit den Folgen dieser Entscheidung leben.“
Die Schulglocke bringt mich wieder auf die Erde zurück.
Bevor wir die Schule verlassen, zeigen mir die Lehrerinnen den schuleigenen Eine-Welt-Laden, ein Projekt zur Förderung des fairen Handels. In dem Ladengeschäft, das von Schülerinnen und Schülern, Eltern sowie Lehrerinnen und Lehrern ehrenamtlich geführt wird, kann jeder einkaufen. Der gesamte Erlös aus dem Verkauf der T-Shirts, Accessoires und Lebensmittel wird für Projekte und Menschen in ärmeren Ländern der Welt gespendet. „Die Kinder lernen hier schon früh, was es bedeutet, anderen Menschen zu helfen. Wahrscheinlich gibt es deshalb in Deutschland so viele Menschen, die sich sozial engagieren“, sage ich nachdenklich.
„Ich denke, dass viele Menschen sich sozial engagieren, um ihr Gewissen zu erleichtern“, sagt Cornelia Breyer, als wir uns verabschieden. „Sie denken sich: Es gibt so viel Leid auf der Welt, und mir geht es so gut, also sollte ich etwas tun, um anderen Menschen zu helfen.“
Die Armen speisen
„Ja, solange ich denken kann, haben meine Familie und die Schule mich dazu angehalten, einen Teil meiner Freizeit für das Wohl der Allgemeinheit zu opfern“, sagt Hans-Jürgen Sehrt, der Leiter der Tafel in Worms. „Selbstverständlich könnte ich auch den ganzen Tag im Café sitzen, Kaffee trinken und Zeitung lesen – ich bin schließlich Rentner, wie die meisten meiner 90 Kollegen, die ehrenamtlich für die Tafel arbeiten. Aber dann würde ich mich zu Tode langweilen.“„Wer kommt alles zu euch?“, frage ich.
„Wir helfen jedem, unabhängig von seiner Religion, seiner Herkunft und seiner Kultur“, erklärt Hans-Jürgen Sehrt mit unverhohlenem Stolz. „Zu unseren Kunden zählen Bulgaren, Polen, Russen und Syrer, aber auch Deutsche. Jeder, dem nach Abzug der Miete und Nebenkosten weniger als 430 Euro im Monat zur Verfügung stehen. Also auch Rentner, die 600 Euro Rente erhalten, von denen ihnen gerade einmal 200 Euro im Monat zum Leben bleiben. Auch Flüchtlinge, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind, gehen bei uns nicht mit leeren Händen nach Hause. In den meisten Fällen schickt die Kirche sie zu uns.“
„Unterstützt die Kirche eure Organisation?“
„Soweit es ihr möglich ist, ja. Schließlich geht es der Kirche derzeit auch nicht gerade gut. Zum Glück haben der Priester und ich – obwohl er katholisch ist und ich evangelisch bin – ein gutes Verhältnis. Als wir unsere Ausgabestelle während des Lockdowns schließen mussten, rief ich ihn an und sagte ihm: »Wir brauchen 40 ehrenamtliche Helfer, die Lebensmittel ausfahren«. Und er erkundigte sich sofort bei seinen Gemeindemitgliedern, und schon hatten wir jede Menge Freiwillige. Auf diese Weise erhielten unsere Kundinnen und Kunden ihr Essen jeden Tag nach Hause geliefert. Manchmal veranstalten wir auch gemeinsame Aktionen, zum Beispiel die Aktion »Fasten und Gutes tun«, bei der die Gläubigen nach dem Gottesdienst einen kleinen Betrag, zum Beispiel zwei oder fünf Euro, an unsere Einrichtung spenden können.“
Es gibt in Deutschland 12 5000 katholische Priester (1997 waren es noch circa 18 000). In der evangelischen Kirche sank die Zahl der Theologiestudenten von 7 800 in den 90er-Jahren auf 2 400 in den 2000er-Jahren.
Gott liebt alle Menschen gleich
Das katholische Pfarrhaus ist nur wenige Minuten zu Fuß von der Tafel entfernt. Es ist ein großes, weißes Haus, von dem an manchen Stellen der Putz abbröckelt. Die großen, grünen Fensterläden stehen weit offen. Die Fenster bieten einen Blick auf den Wormser Dom, eine über 1000 Jahre alte Kathedrale aus rotem Sandstein. Das Pfarrhaus liegt fernab vom Lärm der Innenstadt, die von Dönerimbissen, Shisha-Bars, asiatischen Massagesalons und Nagelstudios dominiert wird. Auch das monumentale Denkmal zu Ehren Martin Luthers, der 1521 auf dem Reichstag zu Worms vor Kaiser Karl V. seine Thesen verteidigte, ist von hier nicht sichtbar.„Wie geht es Ihrer Gemeinde in einer Stadt, in der eine der ältesten Kirchen in Deutschland steht?“, frage ich Tobias Schäfer, den Probst am Wormser Dom, einen schlanken, grau melierten Herren in einem grauen Hemd mit weißem Priesterkragen, einer aufgeknöpften schwarzen Strickjacke und einer dunklen Hose. Tobias Schäfer lächelt traurig, trinkt einen Schluck Kaffee und erzählt mir:
„Worms ist seit 500 Jahren, also seit der Reformation, eine protestantische Stadt. Viele Menschen, die unseren Dom besuchen, wundern sich darüber, dass wir eine so große Kirche aber nur eine so kleine Gemeinde haben. Ja, wir haben immer weniger Mitglieder, vor allem nach dem Bekanntwerden der Fälle sexuellen Missbrauchs. Aber die, die bleiben, sind tief gläubige Menschen.“
Laut einer von der Deutschen Bischofskonferenz veröffentlichten Studie wurden zwischen 1946 und 2014 3 677 Minderjährige von 1 670 Klerikern missbraucht, was einem Anteil von 4,4 Prozent der geprüften Geistlichen entspricht. Die Opfer waren überwiegend Jungen, über die Hälfte von ihnen war unter 13 Jahre alt.
Tobias Schäfer erklärt, wie die Kirche auf die Veröffentlichung der MHG-Studie reagierte: „Wir haben ein Konzept entwickelt, um den Opfern zu helfen und dafür zu sorgen, dass sich derartige Fälle nicht mehr wiederholen. Sämtliche Geistlichen und Mitarbeiter kirchlicher Institutionen müssen einen Verhaltenskodex unterschreiben, ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen und an speziellen Schulungen teilnehmen. Sicherlich geht die Aufarbeitung vielen Betroffenen zu langsam. Man muss jedoch bedenken, dass einige der Fälle bereits Jahrzehnte zurückliegen. Das macht das Ganze schwierig und zeitaufwendig.“
„Haben sich die Skandale auf die Zahl der Priesterweihen ausgewirkt?“, frage ich.
„Als ich vor 30 Jahren am Priesterseminar Mainz studierte, waren wir über hundert Seminaristen“, erzählt Tobias Schäfer. „Heute sind es nur noch zehn, davon 4 aus Afrika. Meine Generation geht allmählich in den Ruhestand. Wir sind gerade dabei, uns neu zu organisieren.“
„Es werden also keine neuen Kirchen mehr gebaut?“, frage ich.
„Wir haben jetzt schon zu viele!“, antwortet der Probst. „Außerdem haben wir kein Geld dafür.“
„In den Niederlanden werden ehemalige Kirchen bereits an Privatpersonen und Firmen verkauft“, werfe ich ein. „Eine von ihnen wurde zu einem Trampolinpark umgebaut, eine andere zu einem Café.“.
„In Deutschland stehen die meisten Kirchen unter Denkmalschutz, wir können sie also gar nicht verkaufen“, sagt Tobias Schäfer. „Es gab aber auch in Deutschland schon Fälle, bei denen nicht denkmalgeschützte Kirchen profaniert wurden.“
„Aber ihr dürft Regenbogenfahnen hissen? Ich habe bereits einige an katholischen Kirchen gesehen. Ist das ein Zeichen der Solidarität mit der LGBTQ-Community?“, frage ich.
„Als wir im März dieses Jahres ein Schreiben vom Vatikan erhielten, in dem uns untersagt wurde, gleichgeschlechtliche Paare zu segnen, erhoben viele von uns dagegen Protest“, erzählt der Probst. „Ich selbst stellte daraufhin ein Video-Statement ins Netz, in dem ich klarmachte, dass ich diese Entscheidung nicht unterstütze. Denn wenn wir davon ausgehen, dass Gott alle Menschen gleich liebt, wie kann ich dann jemandem den Segen verweigern, nur weil er homosexuell oder transgender ist? Wir müssen selbstverständlich einen Dialog führen, weil es auch in der deutschen katholischen Kirche konservative Kräfte gibt, aber die Zeiten, in denen der Papst uns einfach alles vorschreiben konnte, sind ein für alle Mal vorbei. Die Gesellschaft verändert sich, die Wissenschaft schreitet voran, und wir müssen ihre Erkenntnisse akzeptieren.“ „Sie haben betont, dass Gott alle Menschen gleich liebt. Bietet die Kirche in Deutschland also auch Flüchtlingen ihre Hilfe an? Ich frage nur, weil wir in Polen gerade eine humanitäre Katastrophe an unserer östlichen Grenze erleben und viele polnische Geistliche dazu schweigen.“
„Als 2015 eine große Zahl von Flüchtlingen nach Deutschland kam [über eine Million Menschen – Anm. d. Aut.], war es für uns selbstverständlich, dass wir diesen Menschen helfen mussten. Wir bauten daraufhin das Dachgeschoss unseres Pfarrhauses zu Wohnungen für 15 Flüchtlingsfamilien um. Diese Wohnungen werden übrigens bis heute als Flüchtlingsunterkünfte genutzt. Außerdem bildeten wir eine Gruppe, die sich um die Flüchtlinge kümmerte und ihnen bei der Integration, beim Erlernen der deutschen Sprache und beim Ausfüllen der komplizierten Formulare half.“
„Habt ihr ausschließlich Menschen katholischen Glaubens geholfen“, frage ich nach.
„Aber natürlich nicht“, empört sich Tobias Schäfer. „Wir haben allen geholfen, unabhängig von ihrer Konfession. Aber es stimmt schon, dass es auch bei uns Menschen gibt, die dafür kein Verständnis haben.“
„Wie wird es mit der katholischen Kirche weitergehen? Sehen Sie optimistisch in die Zukunft?“
„Ein gewisser Optimismus liegt schließlich in der Natur meines Glaubens“, lacht Tobias Schäfer. „Ich vertraue darauf, dass Gott uns leitet und uns nicht im Stich lässt. Ich weiß selbstverständlich nicht, wie die Welt in zehn Jahren aussehen wird, aber ich bin überzeugt davon, dass am Ende alles gut wird.“
Auf der Suche nach dem Feuer
„Ich sehe die gegenwärtige Krise als eine Chance für die Kirche, sich neu zu öffnen“, sagt Dr. Gabriele Metzner, oberste Pfarrerin und Superintendentin im evangelischen Kirchenkreis Wittenberg. Wir sitzen gemeinsam in ihrem Büro im ersten Stock eines denkmalgeschützten Gebäudes in der Wittenberger Altstadt, in unmittelbarer Nähe der Stadtkirche St. Marien, in der Martin Luther einst seine Predigten hielt. Die 25-jährige Anna-Nicole Heinrich wurde in diesem Jahr zur Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gewählt. Außerdem wurde Annette Kurschus zur neuen Ratsvorsitzenden und die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs zu ihrer Stellvertreterin gewählt. „Kann die Besetzung solch wichtiger Posten mit Frauen als ein Zeichen kommender Veränderungen gewertet werden?“, frage ich.„Das ist ein wichtiges Signal“, sagt Gabriele Metzner. „Ich möchte aber darauf hinweisen, dass Frauen nicht erst seit heute in unseren Strukturen präsent sind. Bereits in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in der evangelischen Kirche eine Bewegung für mehr Gleichberechtigung. Während des Zweiten Weltkrieges übten auch Frauen das Pfarramt aus, damals jedoch noch inoffiziell. Und sie waren enttäuscht, als sie von den aus dem Krieg heimkehrenden Geistlichen wieder aus dem Amt gedrängt wurden. Erst in den 60er-Jahren wurde erstmals eine Frau zur Pfarrerin ordiniert. Anfangs mussten Pfarrerinnen unverheiratet sein, weil man der Meinung war, Frauen seien nicht in der Lage, das Pfarramt auszuüben und gleichzeitig ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter zu erfüllen. Seit dieser Zeit hat sich viel verändert. Der Pastorenberuf ist bei uns schon seit Langem keine Männerdomäne mehr.“
„Kann es sein, dass die Kirche so viele hohe Posten mit Frauen besetzt hat, um sich von den Missbrauchsskandalen zu distanzieren?“, frage ich nach.
Seit 1950 wurden den zuständigen Kommissionen der Landeskirchen 881 Fälle sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche und der Diakonie gemeldet. Die meisten Fälle betreffen Einrichtungen der Diakonie und Kinderheime.
„Nein, das Problem ist wesentlich komplexer“, antwortet die Superintendentin. „Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch betonen, dass wir uns auf allen Ebenen darum bemühen, den Opfern zu helfen und zukünftige Missbrauchsfälle zu verhindern. Aber um auf ihre Frage zurückzukommen: Beide Geschlechter tragen sowohl das Gute als auch das Böse in sich. Deshalb kann man dieses Problem meiner Ansicht nach nicht aus der Welt schaffen, indem man sagt: Männer sind böse, und Frauen gütig. Vor allem, weil auch Frauen unter den Tätern oder Mittätern waren.“
„Vielleicht betrachte ich dieses Problem aus der polnischen Perspektive – einem Land, in dem ältere, kinderlose Männer versuchen, die Rechte von Frauen einzuschränken“, sage ich.
„Das kann ich gut verstehen, aber solange wir in Stereotypen denken, werden wir keine Veränderungen herbeiführen, weder in der Gesellschaft noch in der Kirche“, seufzt Gabriele Metzner. „Wir sollten nicht von Frauen und Männern sprechen, sondern von Menschen, die nun einmal unterschiedlich sind.“
„Dürfte also – wie es bereits in Schweden geschehen ist – auch eine lesbische Frau, die verheiratet ist und Kinder hat, in ein hohes Kirchenamt gewählt werden“, frage ich nach.
„Aber selbstverständlich!“, antwortet die Pfarrerin. „Es gibt in unseren Strukturen sowohl Schwule als auch Lesben. Die sexuelle Orientierung spielt bei der Besetzung von Posten überhaupt keine Rolle. Ich denke, dass sie auch für Gott keine Rolle spielt, weil er schließlich alle Menschen gleich liebt. Außerdem hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland – bitte bedenken Sie, dass die evangelische Kirche von Vielfalt geprägt ist und anders als die katholische Kirche nicht mit einer Stimme spricht – keinen Unterschied zwischen gleichgeschlechtlichen und verschiedengeschlechtlichen Ehen zu machen, worüber ich mich sehr gefreut habe.“
„Was muss die evangelische Kirche also tun, um weitere Kirchenaustritte zu verhindern?“, frage ich.
„Wir müssen lernen, uns zu wichtigen Themen zu äußern, auch wenn sie unbequem sind. Also auch zu der humanitären Krise an der Grenze zwischen Weißrussland und Polen, zum Klimawandel und zum Anstieg von Ungleichheit und Intoleranz“, sagt Gabriele Metzner. „Wir dürfen keine Angst vor Kritik haben. Wir müssen furchtlos sein und dem Bösen entgegentreten. Wir müssen den Menschen dabei helfen, wieder das Feuer in sich zu spüren. Damit sie von sich sagen können: »Ja, ich brenne!«“
Zwölf Kirchen – ein Postskriptum
Ich lebe in Deutschland. Es gibt in meiner unmittelbaren Umgebung sechs Dörfer die einen, höchsten zwei Kilometer auseinanderliegen. In diesen sechs Dörfern gibt es zwölf Kirchen. Warum so viele? Weil die Protestanten den Katholiken, sobald diese eine Kirche gebaut hatten, nicht nachstehen wollten, und umgekehrt.
Die zwölf Kirchen machen mit lauten Glockenschlägen auf sich aufmerksam. Jede Viertelstunde dringt ihr Geläut zu den über die Hügel verstreuten Häusern. Und jeden Sonntag rufen die Glocken zur Messe. Doch an dieser Stelle wird es kompliziert: Weil es nicht genügend Geistliche und Gläubige gibt, finden die Messen nach dem Rotationsprinzip statt. Man muss schon genau die Ankündigungen im Internet oder die Pfarrnachrichten verfolgen, wenn man nicht den Überblick verlieren will.
Als ich an einem Sonntag schließlich die richtige Kirche gefunden habe, stelle ich fest, dass lediglich 13 Personen am Gottesdienst teilnehmen, also rund zwei aus jedem Dorf. Und nur zwei der Anwesenden sind nicht bereits ergraut.
Quellen:
1. Anzahl der katholischen Priester* in Deutschland von 1997 bis 2020
2. Statistiken zur Evangelischen Kirche
3. Statistiken zur Katholischen Kirche
4. Statistiken zur Kirche
5. Anzahl der Katholiken in Deutschland von 1950 bis 2020
6. Missbrauch in der katholischen Kirche Deutschland
oto niemcy
Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Reportagen „Oto Niemcy“ (Das ist Deutschland), die das Goethe-Institut gemeinsam mit dem Magazin Weekend.gazeta.pl veröffentlicht.