Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich und den USA ist die Geschichte des polnischen Comics voller Lücken, die es auszufüllen gilt. Bevor Adam Rusek 2001 sein Buch Tarzan, Matołek i inni veröffentlichte, waren polnische Comics aus den Jahren 1919–1939 praktisch unbekannt.
Selbst für kulturell Interessierte begann die Geschichte des polnischen Comics erst ungefähr 1949, mit der ersten Ausgabe der Zeitschrift „Świat Młodych“ – die Zeit davor war gewissermaßen eine Terra incognita. Folglich wurde oft die These vertreten, der polnische Comic sei ein einzigartiges Phänomen, das sich unabhängig von der europäischen Tradition entwickelt habe. Die Studie von Adam Rusek, einem Mitarbeiter der Biblioteka Narodowa und bis heute einzigem aktiven Forscher zur Geschichte des polnischen Comics, widerlegte diese These.
Autor: Kazimierz Grus, Quelle: Aus dem Privatarchiv von Adam Rusek
„Zeichenserien“ und „Bilderserien“ Nach dem Ersten Weltkrieg gab es in Polen, das nach Jahren der Unterdrückung endlich seine Unabhängigkeit erlangt hatte, ein äußerst reges politisches Leben und eine sich rasch entwickelnde Presselandschaft – umso mehr, als das Gebiet der neugegründeten Republik aus drei ehemaligen Teilungsgebieten mit eigenen regionalen Medien bestand. Der polnische Comic entwickelte sich somit parallel zur polnischen Presse und war untrennbar mit ihr verbunden. Insbesondere Zeitungen für die niederen Schichten setzten auf Bildergeschichten, doch es gab auch satirische Publikationen, wie die Zeitschrift „Szczutek“, die sich an wohlhabendere Leser richteten. In grafischer Hinsicht unterschied sich der polnische Comic der Vorkriegszeit kaum von seinen französischen oder belgischen Pendants. So wie an der Seine standen die Texte anfangs unterhalb der Bilder (die Sprechblase entstammt der amerikanischen Tradition). Die zu jener Zeit als „Zeichenserien“ oder „Bilderserien“ bezeichneten Comics schilderten den polnischen Alltag, sprachen gesellschaftliche und politische Themen an und machten sich über Sowjetrussland und das Deutsche Reich lustig. Die polnischen Autoren waren sich der Entwicklung in der westeuropäischen Comicszene durchaus bewusst. Es gab polnische Versionen bekannter Figuren wie Pat und Patachon (in Polen Wicek und Wacek) und Übersetzungen von Disney-Comics, doch daneben entstanden auch äußerst populäre einheimische Serien, die später in Albumform erschienen. Ein gutes Beispiel ist Ogniem i mieczem, czyli przygody Szalonego Grzesia, das von den Abenteuern eines polnischen Soldaten erzählt, der sowohl gegen die Deutschen als auch gegen die Russen um die polnische Unabhängigkeit kämpft. Ein eher ungewöhnlicher Held war der „Bezrobotny Froncek“, dessen Abenteuer in Schlesien spielen und die ein ausgezeichnetes Bild der gesellschaftlichen Stimmungen in den Jahren 1932–1939 vermitteln.
Franciszek Struzik; Aus dem Privatarchiv von Adam Rusek
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte der Comic auf die Zeitungsseiten zurück, wo er zunehmend der kommunistischen Zensur unterworfen war. Es überwogen Abenteuer- und Unterhaltungsgeschichten, die zunächst ideologisch neutral waren, später jedoch (vor allem in den Jahren 1949-1955) den Kommunismus verherrlichten und gegen den westlichen Imperialismus wetterten. Nach wie vor gab es eine strenge Unterscheidung zwischen „Bilderserien“ (mit Texten unterhalb der Bilder), die eher wohlwollend betrachtet wurden, und „Comics“, die als eine Invasion der kapitalistischen amerikanischen Kultur galten.
Das Jahr 2000 war der Beginn eines wahren Comic-Booms. Es gab von Jahr zu Jahr mehr Verlage (diese Zahl wurde inzwischen vom Markt korrigiert) und neue Autoren. Die Verleger waren zunehmend bereit, auch polnische Comics zu veröffentlichen – auch wenn niemand mehr von Auflagen von 300.000 Exemplaren zu träumen wagte. Der Comic entwickelte sich zu einer Nischenkunst, die jedoch über eine äußerst aktive Fanszene aus Verlegern, Autoren, Publizisten, Festivalorganisatoren und Lesern verfügt. Zwischen 2000 und 2010 verringerte der polnische Comicmarkt zunehmend seinen Rückstand gegenüber dem Westen, und immer mehr einheimische Autoren und Autorinnen betraten die Szene. Zu den Bekanntesten zählen Michał Śledziński (der Autor von Osiedle Swoboda), Tomasz und Bartosz Minkiewicz mit ihrer bissigen Serie Wilq über einen Superhelden aus Oppeln sowie Rafał Skarżycki und Tomasz Lew Leśniak, die Schöpfer von Jeż Jerzy, einen Skateboard fahrenden Igel, dessen Abenteuer inzwischen sogar verfilmt wurden.
Der polnische Comic hat das Image eines Mediums für Kinder erfolgreich abgestreift, neu erschienene Alben erhalten landesweite mediale Aufmerksamkeit und sind nicht mehr nur in Kiosks, sondern auch in Buchhandlungen erhältlich (wenn auch nur in größeren Städten). Trotzdem ist der Comic nach wie vor eine Nischenkultur und hat im Gegensatz zu Literatur, Film und bildender Kunst keine großen Aussichten auf finanzielle Förderung. Er steht nach wie vor ein wenig abseits oder vielmehr zwischen den anderen Künsten.