Adelheid Duvanel „Fern von hier. Sämtliche Erzählungen“
Limmat Verlag, Zürich 2021
© Penguin Random House Verlagsgruppe
S. 328, 377, 391
Gelächter
Es war drückend heiß; der Himmel glich einer beschlagenen Fensterscheibe, und die Bäume standen wie große, schwarze Straußenvogel beidseitig des Flusses; sie warfen keine Schatten. Sylvia, die jeden Tag ihr Haar zerschnitt, hatte einen ihrer freien Tage. Fünf Tage in der Woche arbeitete sie neun Stunden in einer Fabrik, setzte Plüschtieren Glasaugen ein. Zwei wichtige Dinge hatte sie nie gelernt: einen Ballon aufzublasen und zu pfeifen. Ein kurzbeiniger Mann, der halbnackt auf einer Treppenstufe am Wasser lag, äugte durch seine Sonnenbrille zu Sylvia herauf; sie kannte ihn nicht und erschrak über seine wulstigen Lippen. Er erzählte ihr eine Geschichte; sie begriff nichts. Sie hatte ein Bier in einem Restaurant getrunken, hatte sich jedoch nicht in den Garten gesetzt, sondern hatte im dunklen Raum allein an einem Tisch ausgeharrt; der Schweiß war über ihr Gesicht geronnen und auf ihr Kleid getropft. Die Serviererin hatte zu der Frau hinter der Theke gesagt: «Da stimmt etwas nicht», was Sylvia auf sich bezogen hatte.
Auf den Treppenstufen saßen und lagen vor allem Drogenabhängige; ihre Hunde wirkten besonders treu. Sylvia fuhr mit der Fähre über den grünen Fluss. Als sie ausstieg, stand der Kurzbeinige mit den dicken Lippen vor ihr. Sie hatte nie einen Mann an sich herankommen lassen; sie sagte auch jetzt mit hoher, zitternder Stimme: «Ich schlafe allein in meinem Schneewittchenbett.» In der Fabrik lachte man über sie. Auch der halbnackte Mann lachte.
Stefanie
Die Stadt war wie mit Asche zugeschüttet, aber überall glommen Lichter: Wörter, die für Restaurants, Kinos, Bars, Diskotheken, Zigarettenmarken und anderes mehr warben. Und
unter dem weißen, runden Mond flogen zwei Möwen. Ein Fräulein, das zu klein gewachsen war und immer ein Taschentuch im linken Ärmel der Bluse oder des Pullovers trug, ging eifrig auf dem Trottoir. Es hatte ein Hasengesicht und geschwollene Beine. Es hieß Stefanie und schrieb ein Buch. Die Tatsache, dass das Buch vielleicht später in vielen Läden zu kaufen war und einen Leineneinband, einen Schutzumschlag, einen Klappentext und Seitenzahlen aufweisen würde, versetzte Stefanie in ständige Aufregung, auch in ein Wohlbehagen. Stefanie war in einer Klosterschule unterrichtet worden und hatte in der knapp bemessenen Freizeit immer gehäkelt. Sie konnte nicht lügen, wusste aber nicht sicher, was Wahrheit ist. Sie vermutete, Wahrheit sei rot oder blau oder grün, eckig oder oval, flach oder spitz. Aber was hatte Fräulein Stefanie zu schreiben; Stefanie wusste nichts von leidenschaftlicher Liebe, von Zorn, Panik, Hass, Erpressung, Rache, Terror. Sie saß an Werktagen in einem Büro am Computer und an Sonntagen in der Kirche. Aber nun ist etwas zu sagen, das Fräulein Stefanie in einem ganz andern Licht erscheinen lässt: Stefanie hatte Fantasie! Fantasie ist die fliegende, flatternde, Purzelbäume schlagende Schwester der steifbeinigen Wahrheit. Und Stefanie kannte die Zärtlichkeit und die Enttäuschung; deshalb konnte sie ihr Buch häkeln. Nun, da sie so eifrig auf dem Trottoir ging, sah sie einen jungen Mann in zerrissenen Jeans, der unter einer Straßenlampe am Boden saß und in einem Buch las. Ihr Herz flog ihm zu, was der junge Mann nicht bemerkte. Sie dachte: «Ich bin keine Schriftstellerin, aber ich schreibe ein Buch, das er später vielleicht genauso konzentriert lesen wird.»
Der Himmel wurde finster, und die beiden Möwen nahmen Reißaus, als Stefanie in eine Seitengasse einbog. Sie läutete an der Tür eines schmalen, schwarzen Hauses. Die Tür war von innen dreifach verschlossen: mit einer Sicherheitskette, einem breiten, wuchtigen Riegel und einem Sicherheitsschloss. Eine Stimme flüsterte durchs Schlüsselloch:
«Losungswort?» —«Stammtisch», murmelte Stefanie, worauf die Tür umständlich geöffnet wurde. Stefanie trat ein und nahm an einem Tisch Platz, um mit ihrer Freundin Tee zu trinken, die ein wenig schielte und im Haus immer barfuß ging, damit niemand sie horte.
Vom Recht, lebensuntüchtig zu sein
Benjamin war ein nervöser, magerer Mann mit einem einzigen, leuchtenden Auge. Er liebte Julie. Benjamin konnte Spiegelschrift schreiben, was für seine Arbeit als Angestellter eines Reinigungsinstituts nicht wichtig war. Er wohnte schwarz bei seinen Eltern in einer Alterssiedlung. Niemand der alten Leute wusste, dass er bei Vater und Mutter lebte; man dachte, er besuche sie oft. Er war wie ein Balletttänzer, der gerne fliegen möchte, dies aber nur mit angestrengter Beinarbeit ausdrücken kann. Als Kind hatte er Julie, seine kleine Spielgefährtin, dafür bezahlt, dass sie ihm die Füße kitzelte. Er sammelte Kunstkarten mit der Leidenschaft vermögender Leute, die Bilder sammeln. Er erinnerte sich täglich an einen Film, der hauptsächlich aus Schritten bestand: Schwarzgekleidete Menschen schritten durch weiße Räume, durch den Regen, über den Schnee und über Treppen. Benjamin las jeden Tag «Maigret». Er kannte alle Figuren: die wackeren Polizisten, die verdächtigen Arzte, die braven Concierges und die Menschen, die aus verschiedenen Gründen zu Verbrechern wurden. Er freute sich bei jedem Buch, das er stahl, auf die Bekanntschaft mit neuen Personen; sie waren für ihn wirklicher als die Leute auf der Straße, die er vom Sehen kannte. Freunde hatte er keine: Der trinkfeste Kommissar Maigret war sein Freund. Benjamin schrieb Tagebuch: Die Augenblicke wurden festgehalten, damit er und die Zeit nicht zerflossen und versickerten; er hatte Angst, nichts greifen zu können.
Die Sonne stand tief; über dem Balkongeländer brannte sie, zwischen einem Hausgiebel und einer Birke, zum Zimmer herein in Benjamins einziges Auge. Es war Anfang September, sieben Uhr abends; nachdem die Sonne schon untergegangen war, floss aus ihr viel Gold und verteilte sich auf dem Himmel. Als das Gold erloschen war, blickte Benjamin, der auf einem Stuhl saß, immer noch wie gebannt aus der Glastür, die ein wenig offen stand. Er sah die Straße nicht, nur Dächer und Himmel, und er lauschte auf die Schritte der Menschen. Er wartete auf Schritte, die auf ihn wie eine helle, frohe, hüpfende Melodie wirken sollten. Endlich horte er sie; er stellte sich Julie in ihrem roten Kleid und mit den großen Ohrringen vor, die bald bei ihm erscheinen würde. Als sie noch die Schule besuchte, hatte sie einen Aufsatz mit dem Titel: «Vom Recht, lebensuntüchtig zu sein» geschrieben.