Terezia Mora „Muna oder Die Hälfte des Lebens"
© Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
München 2023
S. 5-6 und 10-12
Nachdem sie meine Mutter mit Blaulicht weggebracht hatten, ging ich in den Hof, wo das Fahrrad stand, und schon wieder hatte es einen Platten. Ihr miesen Arschlöcher! Der Innenhof schallte.
Eine junge Dame schreit doch nicht so laut! Und was für Worte!
Die alte Frau Mäder. Vorhin war ich noch Herzchen. Was ist los, Herzchen? Deine arme Mutter? Das ist ja furchtbar, Herzchen, was ist passiert?!
Meine Mutter hat genau eine Woche bis nach meinem achtzehnten Geburtstag durchgehalten, bevor sie zu viel Tabletten mit zu viel Alkohol eingenommen hat, das ist passiert.
Ich kann Sie nicht verstehen, wenn Sie so heulen, maulte die Dispatcherin, aber dann schickte sie die Rettung doch an die richtige Adresse. Keine Minute später war auch die Polizei da. Sie ließen mich nicht mit dem Krankenwagen mitfahren, sie befragten mich in der Wohnung, die Tür stand die ganze Zeit offen. Frau Mäder traute sich nicht einzutreten, sie stand im Hausflur, das Wesentliche wird sie auch so mitbekommen haben. Was für Alkohol ist nicht so wichtig, Rotwein, die Tabletten sind wichtig, was für Tabletten. Die nahmen sie mit, mich ließen sie da, obwohl sie auch ins Krankenhaus fuhren. Die Polizei ist kein Taxiunternehmen. Mein Haar war ganz verschwitzt, und ich hatte zu kurze Trainingshosen an, ich schaffte es nicht, mich umzuziehen, meine Hände zitterten so stark, aber abgesehen davon hatte ich mir die Worte der Dispatcherin durchaus zu Herzen genommen, mich zusammenzureißen, sonst wäre ich keine Hilfe. Ich war bereit, mit dem Fahrrad ins Krankenhaus zu fahren, aber dann war das Rad schon wieder platt, und immer nur dann, wenn ich es ans Geländer der Kellertreppe stellte, ich hatte sogar schon den Boden untersucht, ob da vielleicht Nägel waren oder Glassplitter, die man nicht sah, aber nichts. Jemand aus dem Haus, der nicht wollte, dass ich das Rad dort hinstellte, stach mir immer den Gummi auf, immer abwechselnd, mal vorne, mal hinten, ihr miesen Arschlöcher! Und Sie, Frau Mäder, belehren Sie mich nicht, ich rede, wie ich will!
Meine Mutter stirbt vielleicht, schrie ich in den Innenhof hoch, und ihr stecht mir das Rad auf? Verreckt doch alle!
Frau Mäder war immer noch dagegen, wie ich mich benahm, so kann man sich doch nicht benehmen. Die anderen duckten sich. Eben hingen noch alle in den Fenstern und Türen, Rettung und Polizei, Zinkwanne, oder nicht?, aber jetzt war alles wieder verrammelt. Ich zerrte das Rad aus dem Hof, direkt zur Reparatur, wo man mich schon kannte und wo Ehrke, der ehemalige Rennfahrer, bis morgen gesagt hätte, weil du es bist. Aber es war ein gottverdammter Sonntag, die Werkstatt hatte zu. Ich ließ das Rad einfach dort stehen. Ehrke würde es erkennen, wenn es bis dahin nicht geklaut wäre.
(…)
Rotwein, Cognac und Dessertwein waren die Lieblingsgetränke meiner Mutter, im Winter Glühwein. Nach dem Tod meines Vaters trank sie all das allein. Es gab ein kurzes Programm und ein langes. Sie konzentrierte sich darauf, bei der Arbeit mehr oder weniger nüchtern zu bleiben, aber sobald der Vorhang gefallen war, trank sie das erste Glas Wein noch im Theater, den Rest der Flasche dann zu Hause, das war das kurze Programm. Anfangs kippte sie seinen Teil davon in die Spüle, später konnte sie so eine Verschwendung nicht mehr übers Herz bringen. Dem langen Programm gab sie nur an Tagen nach, an denen sie keinen Auftritt hatte. Das lange Programm hatte eine fröhliche, soziale Form, bei der sie noch draußen unterwegs sein konnte. Sie hat sich im Antikladen einen Flachmann gekauft, sie kicherte darüber, aber später wurde sie wütend, weil der Verschluss nicht dicht war. Man müsste ihn zurücktragen und ihn ihnen vor die Füße schmeißen, aber sie traute sich nicht.
Ich habe Angst vor den Frauen in den Geschäften. Vor allen Frauen in allen Geschäften, den Verkäuferinnen. Warum muss es überall Verkäuferinnen geben? Warum gibt es nur im Schraubenladen männliche Verkäufer? Mit denen komme ich viel besser klar.
Das lange Programm, bei dem sie zu Hause blieb, dauerte in der Regel zwei Tage. Sie blieb im Schlafzimmer, soff, hörte alle Schallplatten durch und tanzte, solange sie noch tanzen konnte. Sie tanzte zu Chansons ebenso wie zu Symphonien. Ich mochte dieses lange Programm mehr als das kurze oder das lange, bei dem sie draußen unterwegs war, weil dieses ihr am meisten Erleichterung verschaffte. Eine schön komprimierte Erleichterung. Danach war es über Wochen viel besser. Sie tanzte sehr schön, selbst als sie nur noch taumelte.
Meine Mutter hatte keine guten Freunde oder Freundinnen. Sie hatte Kollegen, Bekannte, Konkurrentinnen und Verehrer. Sie vertraute Frauen nicht und schätzte Männer ausschließlich für ihr Können. Meine Mutter kümmerte sich viel um ihr eigenes Aussehen, das der Männer interessierte sie nicht, Ämter, Titel oder Vermögen konnten sie auch nicht beeindrucken. Ausschließlich die Genialität.
An einem Mann interessiert mich ausschließlich seine Genialität.
In diesem Sinne bewunderte sie manche Regisseure (während sie andere verachtete), manche Schriftsteller und Künstler anderer Sparten sowie ihren Friseur. Er ist ein genialer Friseur, in Berlin könnte er ein Star sein. Und noch woanders ein Weltstar.
Ich verehre Ihre Kunst, sagte meine Mutter allen Ernstes zu ihrem Friseur.
Die Frau des Friseurs war Kosmetikerin. Sie hatte scharfe schwarze Augenbrauen. Nein, ich möchte meine Augenbrauen nicht gefärbt haben, sagte meine Mutter. Das machen die im Theater, wie es ihnen passt, weißt du. Die Kosmetikerin mochte die kokette falsche Blondine, die meine Mutter angeblich war, nicht, aber sie fanden ein Thema, hinter dem man das gut verstecken konnte: Theaterklatsch. Meine Mutter erkaufte sich mit Theaterklatsch das Wohlwollen der eifersüchtigen Kosmetikerin. Sie fummelt mir schließlich im Gesicht herum. Man müsste woanders hingehen, aber das ist schwierig. Es ist schwierig zu sagen: Ich geh zum Mann, dem Friseur, aber nicht zu seiner Frau, die nebenan die Kosmetik macht.
Solange mein Vater noch lebte, hatten sie öfter Gäste, seine Leute von der Uni, ihre vom Theater kamen zu Rotwein und Zigaretten, ich schlief nebenan oder schlief nicht, der Rauch zog an der undichten Tür vorbei in mein Zimmer, ich mochte das. Nach seinem Tod kamen sie noch eine Weile, um sie zu trösten, und tatsächlich wurden alle allmählich wieder fröhlicher, bis die Nachbarn Beschwerde wegen Lärm- und Geruchsbelästigung einlegten. Mit Hinweis auf die notwendige Nachtruhe der arbeitenden Bevölkerung und auf mich. Eine minderjährige Schutzbefohlene. Es gab sogar ein Gespräch mit einer Mitarbeiterin der Jugendhilfe. Ich trug einen Strickpullover mit Blümchen. Hat den deine Mama gestrickt? Ja. (Nein.) Dass ich eine sehr gute Schülerin war und nie Probleme in der Gemeinschaft hatte, wurde mehrfach lobend erwähnt. Meine Mutter fürchtete sich vor den Nachbarn und der Jugendhilfe, und es gab keine Zusammenkünfte mehr bei uns.
(…)