Ein Gespräch mit Miriam Meckel
Wiedersehen mit Taiwan nach 30 Jahren

Eine Karrierefrau bewältigt den Burnout. „Brief an mein Leben“ - Buchvorstellung
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei

Als die Frankfurter Buchmesse deutsche Autoren fragte, ob sie zur Taipei International Book Exhibition im Februar 2019 mitreisen wollten, sagte Miriam Meckel als eine der ersten zu. Grund für die Kurzentschlossenheit: Meckel hatte bereits Taiwan-Erfahrung. Fast 30 Jahre ist es her, dass sie als Studentin ein Jahr lang in Taipeh lebte. Es war Ihr Wiedersehen mit Taiwan – und auch ein Wiedersehen in Taiwan. Aber dazu kommen wir später.

Meckel ist Autorin, Journalistin und einiges mehr. Sie ging ihren Weg besonders schnell, war Fernsehmoderatorin, wurde in den neunziger Jahren mit Anfang 30 Deutschlands damals jüngste Professorin, für Kommunikationswissenschaft, und dann Regierungssprecherin und Staatssekretärin in der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. Einige Jahre später erlitt sie einen Burn-Out, den sie im Buch „Brief an mein Leben“ (寫給我的生活的信) verarbeitete. Es erschien 2011 übersetzt auch in Taiwan. In den vergangenen Jahren wurde Meckel zuerst Chefredakteurin und 2017 Herausgeberin des renommierten Magazins „Wirtschaftwoche“. Sie befasst sich aktuell viel mit technologischen Transformationen und den Auswirkungen aufs menschliche Denken und Verhalten. 2018 erschienen ihr Buch „Mein Kopf gehört mir: Eine Reise durch die schöne neue Welt des Brainhacking“.

Gespräch in Taipeh

Gespräch: Künstliche Intelligenz - Ein Expertengespräch
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei
Bevor all das in ihrem Leben passierte, lebte sie aber ab 1990 ein Jahr lang in Taiwan. Ich frage sie danach während der Buchmesse am deutschen Stand, kurz bevor sie für eine Diskussion zu Thema künstliche Intelligenz auf die Bühne muss.

„Ich war begeistert über die Anfrage. Damals hatte ich eine wahnsinnig schöne Zeit in Taipeh, und dies ist eine großartige Möglichkeit, zurückzukommen und zu schauen, was sich alles verändert hat.“

1990 studierte Meckel unter anderem Sinologie in Münster. Das bedeutete vor allem: Konfuzius und andere klassische Texte. Weil sie gern modernes Chinesisch sprechen und traditionelle Schriftzeichen schreiben wollte, kam sie nach Taipeh an die National Taiwan Normal University (NTNU, Shida), die schon damals berühmt für ihr Sprachlernzentrum war.

„Ich habe mitten im Zentrum gelebt, an der Songjiang Road, bei einer taiwanischen Familie. Das war einfach wunderbar. Ich war sehr jung und habe ganz viel gelernt, habe mich reingeworfen in alles, einfach alles ausprobiert. Ich bin viel zu Fuß gelaufen, was ich immer mache, um mir eine Stadt zu erobern. Weil man dann ganz andere Beobachtungen machen kann.“

Das Taipeh des Jahres 1990 unterschied sich von Münster oder anderen deutschen Städten damals noch stärker als heute.

„Es gab keine englischen Straßenschilder, es gab keine U-Bahn, es war ein unfassbarer Verkehr. Die meisten liefen mit Gesichtsmasken rum, weil Millionen von Mopeds die Luft verpesteten in einer Art und Weise, die im Hochsommer wirklich schwierig war. Da hatte man manchmal Atemnot. Dass es heute noch Kritik an der Luftqualität gibt, glaube ich. Aber in Deutschland haben wir ja auch Diskussionen über Luftverschutzung, Fahrverbote und so weiter. Es ist immer relativ zum Stand der Entwicklung und den Möglichkeiten, die man hat. Nach meinem Eindruck ist die Luft heute viel besser als damals. Aber das heißt nicht, dass sie gut genug ist oder man sich nicht bemühen sollte, sie noch zu verbessern.“

„Es war eine tolle Zeit“

Ihre Zeit verbrachte Meckel sowohl mit der damals überschaubaren Gruppe internationaler Studenten als auch mit gleichaltrigen Taiwanern.

„Das war gar kein Problem. Man fand sofort Anschluss. Sie haben mich in die besondere Art und Weise des Frühstücks eingeführt und in die Kunst, grünen Tee zuzubereiten auf 87 verschiedene Arten und Weisen. Wir waren auch mal im Kino zusammen oder im sogenannten MTV, wo man sich einen Film auslieh und dann mit einer kleinen Gruppe in so einem Kabüffchen saß, um ein bisschen Privatsphäre zu haben. Denn man lebte in Taipeh schon auf sehr engem Raum. Vieles entstand so aus dem Nichts heraus. Im Univiertel bei der Shida gab es Pop-Up-Bars. Da stieg man irgend eine Hühnerleiter hoch, und dann war da ein Raum, da standen zum Beispiel ganz viele alte Himmelbetten. In denen saß man dann. Da lagen Erdnüsse, da hingen Flaschenöffner, und dann trank man in diesem Himmelbett sitzend Bier, und zwar so lange, bis man hintenrüber fiel und dann seinen Rausch ausschlief. Das gab es alles damals. Und insofern war es echt eine tolle Zeit.“

Drei Jahre nach Aufhebung des Kriegsrechts war Taiwan 1990 noch keine Demokratie. Das war für Meckel damals aber nebensächlich.

„In China hatte es gerade erst das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens gegeben. Verglichen damit fühlte man sich in Taiwan deutlich besser. Visafragen waren allerdings noch sehr mühsam und bürokratisch. Es war nicht immer klar, ob alles klappte. Einige Kommilitoninnen mussten ausreisen und dann wieder einreisen. Ich habe auch noch eine große Militärprozession zu Ehren von Chiang Kai-Shek erlebt, wo Soldaten vier mal vier Meter große Porträts von ihm durch die Stadt trugen. Aber es war auch eine Zeit, in der ganz viele Dinge in Taiwan anfingen sich zu verändern. Es begann ja die Demokratisierung. Es begannen die ersten Ausläufer der Umweltbewegung, die ersten Akzente der Frauenbewegung und so weiter. Das alles habe ich damals mitbekommen, und das war unfassbar spannend.“

Eine Abenteuerreise

Gespräch: Alles Fake?
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei
Nicht nur in Taipeh machte Meckel ihre Erfahrungen. Sie reiste per Bus an die Ostküste nach Hualien.

„Das war eine ziemlich wilde Fahrt, vorbei an Abgründen, wo gerade ein Erdrutsch die Hälfte der Straße weggefegt hatte. Mitten durch Gebiete, wo zivilisatorisch noch eine ganz andere Situation war, wo Bäuerinnen und Bauern einfache Landwirtschaft betrieben. Ich habe mir Teeplantagen angeschaut. In Hualien im Hotel kam erst eine Überschwemmung, bei der das Wasser 20 Zentimeter hoch im Zimmer stand, und dann gab es mehrere Erdstöße. Man durfte dann auch nicht durch die Tarokoschlucht fahren, weil es absturzgefährdet war. Das war eine Abenteuerreise, an die ich mich sehr gerne erinnere.“

Für junge Reisende heute kaum noch vorstellbar: Nicht nur gab es damals kein Internet, sondern noch nicht einmal Mobiltelefone.

„Ich war total abgeschnitten von meiner sonstigen Welt. Die Kommunikationsmöglichkeiten waren zum einen das Telefon. Ab und zu habe ich mit meinen Eltern telefoniert, die mich auf dem Festnetz der Gastfamilie anriefen. Und ansonsten Luftpostbriefe.“

Bei der Gastfamilie hatte Meckel engen Familienanschluss. Lange Jahre hielt der Kontakt nach ihrer Abreise noch, erzählt sie. Aber irgendwann ist er dann doch abgebrochen.

„Ich habe die Briefe von damals aufbewahrt und jetzt im Vorfeld meiner Reise noch einmal gelesen. Dabei habe ich auf dem Briefumschlag eines Briefes, den mein Vater mir geschrieben hatte, die Adresse meiner Gastfamilie wiedergefunden. Wenn ich meine Termine bei der Buchmesse hinter mit habe, werde ich dort hin gehen und gucken, ob es das Haus noch gibt. Und wenn es noch steht, werde ich einfach klingeln und schauen, was passiert.“

Ihr Chinesisch war nach dem einen Jahr recht gut geworden, sagt Meckel. Aber viel ist davon nicht übrig geblieben. Nach Taiwan war sie all die Jahre nicht zurückgekehrt.

„Manchmal entwickeln sich Leben eben anders, als man es geplant hat“

„Ich hatte immer den Traum, Auslandskorrespondentin zu werden und die Sprache wirklich verwenden zu können, und das leider nie geklappt. Deshalb ist mein Chinesisch nahezu weg, weil ich es einfach fast nie anwende. Ich kann sagen, ich esse kein Fleisch, oder ich brauche ein Taxi, aber richtig unterhalten kann ich mich nicht mehr. Ich kann auch noch Schriftzeichen erkennen, etwa wo Parkverbot ist. Komischerweise habe ich dann eine ganz andere berufliche Entwicklung genommen und sehr viel mit Amerika zu tun gehabt. Ich habe mich selbst gefragt, wie das gekommen ist. Manchmal entwickeln sich Leben eben anders, als man es geplant hat. Ich wollte aber immer wieder mal nach Taiwan, und ich wäre auch unabhängig von der Buchmesse irgendwann gefahren.“

Als Journalistin und Publizistin hatte Meckel trotzdem über die Jahre Taiwans Entwicklung in den Medien weiter verfolgt.

„Ich habe mich immer ein bisschen geärgert, dass über Taiwan unverhältnismäßig wenig berichtet wird. Das Land steht immer im Schatten von China, zum einen wegen der unfassbaren Wirtschaftskraft, die China vor allen Dingen auch in den letzten zehn Jahren entwickelt hat. Natürlich aber auch, weil China einen erheblichen Druck ausübt, damit Taiwan eben möglichst nicht in der öffentlichen Wahrnehmung ist.“

Daher wollte Meckel ihren Besuch auch nutzen, um zu recherchieren und dann selbst im Magazin „Wirtschaftwoche“, dessen Herausgeberin sie ist, über Taiwan zu schreiben.

„Ich habe ein Treffen mit Taiwans Digitalministerin, um zu gucken, was passiert hier und wie hat sich Taiwan unter dem Aspekt der technologischen Transformation in den letzten Jahrzehnten verändert. Das ist ein kleines i-Tüpfelchen, aber das zumindest werde ich tun. Es gibt schon ein großes Interesse füreinander, aber eher von der taiwanischen Seite mit Blick auf Deutschland. Umgekehrt muss man in Deutschland das Interesse noch wecken. Aber das kann man ja tun.“

In Taiwan am Tag der Wiedervereinigung

Der deutsche Gastland-Auftritt bei der Messe stand unter dem Motto „German Stories“ und drehte sich um Themen, die in beiden Ländern debattiert werden. Meckel war am Tag der deutschen Wiedervereinigung, dem 3. Oktober 1990, in Taiwan und erinnert sich, wie aufmerksam dieses Ereignis betrachtet wurde. Das Fernziel einer Vereinigung mit „Festlandchina“ war damals, anders als heute, noch die kaum hinterfragte Staatsdoktrin.
 
Eine Karrierefrau bewältigt den Burnout. „Brief an mein Leben“ - Buchvorstellung
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei
„Ich war auf einer Feier der deutschen Handelskammer, wo eine ganz außergewöhnliche Stimmung herrschte. Auch später kam immer wieder die Frage auf, ob das ein Vorbild für Taiwan und China sein kann. Kann man so was friedlich hinbekommen, geht das nicht? Für Taiwan ist das Thema bis heute aktuell auf eine Art. Andererseits habe ich aus Gesprächen hier diesmal schon den Eindruck gewonnen, dass es einen Generationenunterschied gibt. Die wirklich junge Generation hat offenbar ein sehr selbstbewusstes Gefühl, dass Taiwan ein eigenständiges Land ist und sich sehr unabhängig fühlt.“

Viele weitere Veränderungen fielen Meckel diesmal auf – aber auch einiges, das unverändert geblieben ist. Eine grundlegende Freundlichkeit der meisten Taiwaner zum Beispiel, zumindest gegenüber westlichen Besuchern.

„Die Menschen sind einfach zugewandt und hilfsbereit. Heute sprechen viel mehr Englisch als damals, aber die Grundlagen sind ähnlich. Natürlich hat Taipeh einen Riesensprung nach vorne gemacht hat an vielen Stellen, was die Verkehrsinfrastruktur angeht, die Luft, auch bestimmte Modernität ausstrahlende Gebäude wie das Taipei 101. Auf der anderen Seite finde ich noch eine Menge der Gegensätze, die schon vor 30 Jahren diese Stadt ausgemacht haben. Wenn Sie spazierengehen, dann finden Sie eben auch die Hinterzimmer der Garküchen, die exakt so aussehen wie damals. Das erste, was ich gestern Mittag gemacht habe: Ich war essen in so einer Garküche. Für zwei Euro, eine Nudelsuppe mit ganz viel Gemüse. Es hat herrlich geschmeckt und ich dachte, das ist exakt so, wie es sich angefühlt hat vor 30 Jahren. Das hat bei mir eine kleine Nostalgiewelle ausgelöst.“
 
So weit unser Gespräch.
 
Miriam Meckel und Gasteltern
Foto: © Privat
Einige Tage später, nach Ende der Buchmesse, erhalte ich eine E-Mail von Miriam Meckel. Sie schreibt: „Ich habe die Adresse meiner damaligen Gasteltern tatsächlich gefunden, habe mich getraut zu klopfen - und da waren sie!“

Zwei Stunden lang haben sie dann zusammengesessen und sich unterhalten. Ein Wiedersehen nach 30 Jahren.

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