“Das Universum Volker Koepp” heisst der Untertitel eines Buches über den Filmemacher, das im Jahr 2019 erschienen ist. Von einem filmischen Werk als von einem Universum zu sprechen, ist oft nicht mehr als ein Klischee; hier aber passt es perfekt.
Schaut man mehrere Filme von Volker Koepp hintereinander an, so hat man in der Tat das Gefühl, sich durch eine einzige filmische Welt, einen einzigen geistigen Zusammenhang zu bewegen. Nicht, dass er immer wieder denselben Film gedreht hätte. Sie sind keineswegs untereinander austauschbar, sondern fügen sich gerade in ihren Differenzen zu einer Art imaginären Landkarte. Der Eindruck organischer Geschlossenheit hängt mit geografischen und historischen Kontinuitäten zusammen: Die meisten der Filme sind im Osten Deutschlands und in den Ländern des ehemaligen Ostblocks entstanden, dem einstigen Einflussgebiet Sowjetrusslands; und viele von ihnen beschäftigen sich, auf die eine oder andere Weise, mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts, mit Krieg, Vertreibung und Migration insbesondere. Es hängt auch mit einer Kontinuität derjenigen zusammen, die in den Filmen auftauchen: Koepp filmt, nach eigener Aussage, Menschen, die er mag, und oft filmt er sie nicht nur einmal. Nicht nur in seinem Wittstock-Zyklus, der drei Arbeiterinnen über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg begleitet, auch in zahlreichen anderen Filmen stößt man immer wieder, oft unerwartet, auf bekannte Gesichter. Was das Universum Volker Koepp aber vor allem anderen auszeichnet, ist eine Kontinuität des Blicks. Eines Blicks, in dem sich empathische Zugewandtheit und respektvolle Distanz auf eigenartige Art mischen.
Die Kontinuität des Universum Volker Koepp ist umso erstaunlicher, als die Voraussetzungen, unter denen es entstanden ist, sich seit den Anfängen seines Schaffens mehrmals, und einmal sehr radikal, gewandelt haben. Begonnen hat der Regisseur seine Filmlaufbahn als Angestellter des Dokumentarfilmstudios der DEFA, des staatlichen Filmstudios der DDR. Seit den 1990er Jahren ist er, im wiedervereinigten Deutschland, sein eigener Produzent und muss sich dabei den ständig sich verändernden Rahmenbedingungen für dokumentarisches Kino stellen, etwa in der Zusammenarbeit mit wechselnden Fernsehsendern. Auch die Rezeption der Filme hat sich gewandelt: Wurden sie früher hauptsächlich im Vorprogramm von Kinovorführungen innerhalb der DDR gezeigt, finden sie heute dank zahlreicher Festivalaufführungen ein Publikum in aller Welt.
1965 wird er an der Deutschen Hochschule für Filmkunst (heute: Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf) zugelassen, der ältesten und größten Filmschule Deutschlands. Der Weg zum dokumentarischen Kino war keineswegs vorgezeichnet; er ist zumindest auch einem Vorfall zu verdanken, der Koepps Regiekarriere um ein Haar beendet hätte, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Wegen seiner Freundschaft mit dem regimekritischen Dichter Thomas Brasch, der gegen die brutale Niederschlagung des “Prager Frühlings” durch russische Truppen in Prag im Jahr 1968 und damit auch gegen die politische Führung der DDR protestiert hatte, wäre er beinahe der Filmhochschule verwiesen worden. Nach langen Diskussionen darf er das Studium fortsetzen, muss aber “zur Strafe” einen kurzen Dokumentarfilm drehen: Wir haben schon eine ganze Stadt gebaut beschreibt den Lebens- und Berufsalltag von Bauarbeitern. Damit hat der Regisseur ein weiteres Thema gefunden, das vor allem für seine Arbeiten für die DEFA, in vieler Hinsicht aber bis heute zentral ist: Die Frage danach, wie Menschen geprägt werden von ihren materiellen Lebensumständen und vor allem von der Arbeit, die sie verrichten.
In der DDR ist dieses Thema ideologisch belegt: Die Arbeiterschaft wird im Sinne der marxistischen Lehre als die “herrschende Klasse” heroisiert, Filme, die Arbeitern gewidmet sind, haben erst einmal die Aufgabe, an dieser Heroisierung mitzuwirken. Dass Koepp Anderes im Sinn hat, wird nirgendwo deutlicher als in einer Filmserie, die alleine ausreichen würde, ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte des deutschen Dokumentarfilms zu sichern: dem Wittstock-Zyklus.
Vielleicht gibt es noch einen weiteren Grund dafür, dass Koepp nicht allzu oft ins Visier der Zensoren gerät: Er dreht keine explizit politischen Filme. Im Zentrum seines Werks stehen keine Probleme, sondern Menschen. Kritik üben die Filme nur implizit, eben vermittels der Menschen, die in ihnen auftauchen und ihre Sicht aufs Leben schildern. Auch Mädchen in Wittstock ist in erster Linie ein Film über eine Gruppe junger Frauen, die zwar alle vor ähnlichen Problemen stehen, aber jeweils ganz unterschiedlich mit ihnen umgehen. Das Individuelle überstrahlt das Systemische - dieses mit der Staatsideologie der DDR ganz und gar nicht kompatible Prinzip wird zum moralischen Kern von Koepps Werk.
Noch deutlicher wird dieser Aspekt in den beiden nach der deutschen Wiedervereinigung entstandenen Fortsetzungen Neues in Wittstock (1992) und Wittstock, Wittstock (1997). Das Leben von Edith, Renate und Elsbeth hat sich radikal verändert. Nach der Privatisierung der Textilfabrik werden alle drei arbeitslos. Mit ihrer neuen Situation gehen sie ganz unterschiedlich um, aber die Prägung durch Wittstock und ihre geteilten Erfahrungen am Arbeitsplatz wird keine der drei je ganz los. Immer wieder setzt Koepp in allen diesen Filmen Rückblenden ein, Erinnerungsbilder, Material aus älteren Filmen, das in der Wiederholung den Blick auf die Gegenwart verändert. In Wittstock, Wittstock gibt es eine Szene, in der Elsbeth vor einem Fernseher sitzt und sich Szenen aus Mädchen in Wittstock anschaut. Sie spricht ihre eigenen Sätze von damals nach und überprüft, ob sie noch gelten. In den Wittstock-Filmen schwingt andauernd Vergangenheit mit. Damit werden sie zum Modell für eine Auseinandersetzung mit Geschichte, mit den Spuren vergangener, meist traumatischer Ereignisse in der Gegenwart, die für Koepps Kino vor allem ab Mitte der 1990er Jahre zentral ist.
Aber noch einmal einen Schritt zurück: In den 1970er und 1980er Jahren realisiert Koepp für die DEFA neben dem Wittstock-Zyklus eine lange Reihe weiterer kurzer Dokumentarfilme, die meisten auf die eine oder andere Art Portraits von Menschen und den Orten, in denen sie leben. In dieser Phase findet Koepp nicht nur zu seinen Themen, sondern entwickelt auch - in enger Zusammenarbeit mit langjährigen Mitarbeitern wie den Kameramännern Christian Lehmann und Thomas Plenert oder der Dramaturgin Anne Richter - einen eigenen, unverwechselbaren Stil. Koepps Filme zeichnen sich durch eine im dokumentarischen Bereich außergewöhnliche Sorgfalt in der Bildgestaltung aus. Auffällig ist zum Beispiel seine Vorliebe für Aufnahmen mit dem Stativ: Wo Dokumentarfilme in der Tradition des Direct Cinema von der Arbeit mit der agilen Handkamera geprägt sind, bevorzugt Koepp im Allgemeinen statische Einstellungen - auch, weil bei der DEFA Dokumentarfilme fast durchweg mit schweren 35mm-Kameras gedreht werden. Der feste Rahmen des Bildes trägt eine Ruhe und Gelassenheit in den Film ein, der sich auch auf die Menschen vor der Kamera überträgt. Man hat den Eindruck, dass jeder, der in einem Volker-Koepp-Film auftritt, sich dort auch wohlfühlt.
Im Zuge der dramatischen Ereignissen im Herbst 1989, die am 9. November des Jahres zum Fall der Berliner Mauer führen, fährt Koepp ein weiteres Mal nach Zehdenick. Märkische Heide, Märkischer Sand, der zweite Teil der Trilogie, zeigt eine gesellschaftliche Eruption. Die Wut der Arbeiter richtet sich nun nicht mehr nur gegen die eigenen Lebensumstände, sondern gegen ein ganzes politisches System, das ihnen plötzlich wie ein einziges Lügengebilde vorkommt. Gleichzeitig zeichnet sich am Horizont eine düstere Zukunft ab: Die Arbeit in der Fabrik läuft vorläufig weiter, aber jeder weiß, dass harte Einschnitte bevorstehen.
Auch die Filme selbst verändern sich nach 1990, wenn auch eher äußerlich als innerlich - im Kern geht es immer noch darum, Menschen zu begegnen, etwas von ihrem Leben zu erfahren. Aber sie werden länger, teilweise persönlicher, greifen weiter aus, in die Geschichte und vor allem geografisch. Von nun an ist der Regisseur Koepp ein Reisender, seine Filme realisiert er in einer eher aufmerksam schlendernden, als geradlinig-zielgerichteten Bewegung von Ort zu Ort, von Landschaft zu Landschaft. Koepp wendet seinen Blick nicht etwa nach Westen, in Richtung der ehemaligen BRD und Westeuropa, sondern nach Osten. Ab Mitte der 1990er Jahre beginnt er, Filme in den Ländern des ehemaligen Ostblocks zu drehen: In Polen, im Baltikum, in der Ukraine, in Weißrussland, auch in der russischen Enklave um Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg. Koepps Blick auf all diese Orte ist keineswegs ein touristischer, vielmehr geht es stets darum, sie in ihrer historischen Bedingtheit zu portraitieren. So stößt Koepp etwa, wenn er gen Osten reist, oft auf Spuren, die die deutsche Geschichte dort hinterlassen hat.
Der vielleicht eindrücklichste Landschaftsfilm Koepps ist In Sarmatien (2013), eine poetische, filmisch ausgesprochen frei gestaltete Bilanzierung und Verdichtung von Themen und Motiven, die sein gesamtes Werk durchziehen. “Sarmatien” wurde in der Antike ein weit ausladende Gebiet zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer genannt, das heute die Territorien von Weißrussland, Ukraine, Moldawien sowie der baltischen Staaten umfasst. Geografisch betrachtet ist Sarmatien das Zentrum Europas, in der politischen Realität jedoch fast ein Niemandsland, geprägt von Armut, Landflucht, der Erinnerung an alte und der Furcht vor neuen kriegerischen Auseinandersetzungen. Im Film sind diese Spannungen fühlbar und tatsächlich wurde kurz nach Ende der Dreharbeiten die ukrainische Krim-Halbinsel von russischen Truppen besetzt. Gleichzeitig jedoch evoziert Koepps Film, über alle Grenzziehungen hinweg, die Utopie eines anderen, mit sich selbst versöhnten Sarmatien, eines Sarmatien, das im geteilten, sehnsuchtsvollen Blick auf die sarmatischen Landschaften zusammenfindet.