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Berlinale-Blogger*innen 2023
Zwischen Nostalgie und Neuanfang

Abeer Mohammed, Roaa Al-Hamshari, Omar Elyas, Islam Saleem, Khaled Hamdan in „The Burdened. Regie: Amr Gamal
Abeer Mohammed, Roaa Al-Hamshari, Omar Elyas, Islam Saleem, Khaled Hamdan in „The Burdened”. Regie: Amr Gamal | Foto (Detail)© Adenium Productions

Das deutsche Filmfestival will an die Zeit vor der Corona-Pandemie anknüpfen. Ahmed Shawky ist voller Vorfreude. Er entdeckt organisatorische und kulturelle Veränderungen auf der 73. Berlinale, die zum Teil positiv sind und zum Teil auch enttäuschend.

Von Ahmed Shawky

Als wir vor drei Jahren zur 70. Berlinale nach Berlin reisten, hörten wir von einem in China neu aufgetretenen Virus, das gerade begonnen hatte, sich auszubreiten. Die Hygieneempfehlungen lauteten  zunächst nur: Hände desinfizieren und viel trinken. Aber schon bald nach dem Ende des Festivals und unserer Rückkehr nach Kairo wurde offiziell eine Pandemie ausgerufen und sämtliche Flughäfen geschlossen. Nahezu die gesamte Welt ging in den Lockdown.

2023 knüpft das Filmfestival wieder vollständig an seinen früheren Zustand an: Bei der 73. Berlinale vom 16. bis 26. Februar gibt es keine Hygiene- und sonstigen Auflagen mehr. Stattdessen ist genug Raum für den Diskurs über das Kino, die Künste und die anderen Sorgen unserer Zeit, die auch in den Filmen der diesjährigen Berlinale aus aller Welt zur Sprache gebracht werden.

Der internationale Wettbewerb: Vielfalt der Formen

Die Filmauswahl für den Wettbewerb hat unter professionellen Beobachtern für zahlreiche Kommentare gesorgt, positive wie negative. Gut ist, dass erstmals zwei Animationsfilme im Wettbewerb sind: der chinesische Film Art College 1994 des Regisseurs Liu Jian sowie Suzume des Japaners Makoto Shinkai. Der Film kam in Japan im vergangenen November auf den Markt und spielte 13,5 Millionen Dollar ein, was ihn zu einem der erfolgreichsten Filme in der japanischen Geschichte macht. Ein Wettbewerbsbeitrag, der bereits kommerziell gezeigt wurde, ist äußerst ungewöhnlich – wahrscheinlich ein Zeichen dafür, wie begeistert die Festivalmacher von dem Film waren.

Die Vielfalt der Formen beschränkt sich nicht auf Animationsfilme. Auch Dokumentarfilme sind vertreten, etwa On the Adamant des französischen Urgesteins Nicolas Philibert, in dem es um den Alltag in der Tagesklinik „Adamant“ geht. 

Zu den merkwürdigsten Auswahlentscheidungen gehört der britische Film Bad Living von João Canijo, einem Film über fünf Frauen, die ein altes Hotel leiten. Als dort ein Mädchen eintrifft, brechen alte Wunden wieder auf, von denen alle dachten, sie seien für immer verheilt gewesen. Die Wettbewerbssektion Encounters zeigt einen weiteren Film von Canijo mit dem Titel Living Bad, hier wird also der erste Film quasi auf den Kopf gestellt. Der Regisseur erzählt die Geschichte aus einer anderen Perspektive, was ihr neue Dimensionen verleiht.

Mit der Auswahl von sechs Filmen von Regisseurinnen demonstriert das Festival ein deutliches Interesse am weiblichen Filmschaffen. Mit mehr als 30 Prozent liegt der Anteil der Regisseurinnen damit deutlich höher als der bei anderen großen Filmfestspielen wie in Cannes.

Mangelnde geografische Vielfalt

Anders als bei der Vielfalt der Filmarten und der Präsenz des weiblichen Kinos zeigt der Wettbewerb jedoch eine geringere geografische Vielfalt. Das Weltkinos ist weniger vertreten: Es wurden elf europäische Filme ausgewählt, alle aus Westeuropa (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien), wohingegen das osteuropäische Kino, anders als sonst, überhaupt nicht vorkommt. Dem Wettbewerb fehlen zudem jegliche Filme aus der arabischen Welt, Afrika oder Hollywood. Der einzige amerikanische Wettbewerbsbeitrag ist der unabhängige Film Past Lives der koreanisch-stämmigen Regisseurin Celine Song, der bereits vor Wochen auf den US-amerikanischen Sundance-Festival gezeigt wurde und unter Kritikern großen Anklang fand.

Vielleicht sagt uns die fehlende geografische Ausgewogenheit, dass die Festivalleitung bei der Auswahl der Filme allein auf den eigenen künstlerischen Geschmack setzte, fernab aller politische Erwägungen und des Bestrebens, es allen recht zu machen. Nichtsdestotrotz ist das eine frustrierende Situation für zahlreiche Filmemacher in den Ländern des so genannten Globalen Südens, deren Arbeiten sonst auf der Berlinale besonders herzlich willkommen geheißen wurden.

Beispielsweise findet sich in der Sektion Forum erstmals kein arabischer Langfilm, weder als Dokumentar- noch als Spielfilm. Dabei wurden in dieser Sektion sonst jedes Jahr gleich mehrere arabische Filme gezeigt. Die arabische Präsenz auf der Berlinale beschränkt sich auf zwei Langfilme in der Sektion Panorama, auf zwei Jury-Mitgliedschaften und zwei Werke in der Sektion Forum Expanded.

Die arabische Präsenz auf der Berlinale

Erstmalig ist das jemenitische Kinos auf der Berlinale vertreten – mit Amr Gamals Film Al Murhaqoon (The Burdened) in der Panorama-Sektion. Darin wird die Geschichte einer Familie im Nachkriegsjemen erzählt. Sie leidet unter der dort herrschenden erdrückenden wirtschaftlichen Not . Als die Frau feststellt, dass sie mit einem weiteren Kind schwanger ist, beschließen sie und der Vater, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Allerdings ist die Umsetzung dieses Beschlusses alles andere als einfach, selbst wenn die Entscheidung, ein weiteres Kind vor Elend und Not und die Familie vor weiteren Schmerzen zu bewahren, logisch erscheint.

Der zweite arabische Langfilm auf der Berlinale trägt den Titel Under the Sky of Damascus, ein Dokumentarfilm von Heba Khaled, Ali Wajeeh und Talal Derki (dessen früherer Film Of Father and Sons 2019 für einen Oscar nominiert wurde). Dieses ungewöhnliche Werk zeigt die Schattenseite der syrischen Kunstszene. Es geht um die Erfahrungen einer Gruppe von Schauspielerinnen, die im Laufe ihres Arbeitslebens immer wieder Belästigungen und körperlichen Übergriffen ausgesetzt waren. Grund hierfür sind nicht nur Misogynie, sondern auch die herrschenden Machthierarchien innerhalb des Kunstbetriebs.

Für das Programm „Berlinale Talents“ wurden 2023 sieben arabische Talente zur Teilnahme ausgewählt

In den offiziellen Jurys taucht mit der ägyptischen Regisseurin Ayten Amin ein einziger arabischer Name auf. Sie sitzt in der Jury für den Preis „Bester Erstlingsfilm“. Der ägyptische Kritiker Hossam Fahmy ist Mitglied der Jury der internationalen Filmkritikervereinigung FIPRESCI, die die Filme der Sektion Forum evaluiert. Dabei handelt es sich um einen zusätzlichen Preis, mit dem die vier besten Filme in den Sektionen Wettbewerb, Encounters, Panorama und Forum auszeichnet werden.

In der Sektion Forum Expanded sind die Werke zweier ägyptischer Künstler zu sehen: Die Videoinstallation Borrowing a Family Album mischt Fotografien und Videoaufnahmen des Regisseurs Tamer El Said; außerdem gibt es den Kurzfilm Simia: Strategem for Undestining“von Assem Hendawi. Diese Beiträge entsprechen dem Charakter dieser Sektion, die verschiedene visuelle und literarische Kunstformen präsentiert.

Für das Programm „Berlinale Talents“ wurden 2023 sieben arabische Talente zur Teilnahme ausgewählt: der palästinensische Schauspieler Samer Bisharat, der irakische Regisseur Ali Karim, die algerische Regisseurin und Fotografin Zoulikha Tahar, der tunesische Produzent und Regisseur Bilal Othmaini, die tunesische Regisseurin und Autorin Charlie Kouka, die ägyptische Produzentin Kismet El Sayed, der ägyptische Regisseur Sameh Alaa, ausgezeichnet mit der Goldenen Palme der Filmfestspiele Cannes für seinen Kurzfilm I Am Afraid to Forget Your Face.

Organisatorische Veränderungen

Die Berlinale hat seit jeher ihren eigenen „Club“ an Stammgästen: Kritiker*innen, Journalist*innen und Branchenfachleute. Unter ihnen gab es in den letzten Tagen einen wachsenden Austausch über die Erwartungen an den diesjährigen Jahrgang des Festivals – wieder im Zeichen der „Normalität”. Trotzdem wird es zwei wichtige Änderungen beim Festivalbesuch geben, die auch schon während der beiden letzten Jahre zum Einsatz kamen. 

Die erste Veränderung betrifft das Ende der Tickets in Papierform. Jetzt wird steht der Zugang zu allen Filmen einschließlich der Presse- und Branchen-Vorführungen über ein elektronisches Reservierungssystem abgewickelt. Das sorgt zwar für eine geordnete Teilnahme und vermeidet langes und für manche vergebliches Anstehen. Gleichzeitig führt es zu Schwierigkeiten für ältere Teilnehmende, die die elektronische Reservierung nicht gewohnt sind. Ganz zu schweigen von der hohen Auslastung durch Nutzer auf der Reservierungswebsite am Beginn jedes Tages.

Die zweite Veränderung besteht darin, dass die zentral am Postdamer Platz gelegenen Säle des CineStar nicht mehr für das Festival zur Verfügung stehen. Ihre Schließung verändert die Landkarte der Presse- und Filmmarktvorführungen. Alle müssen entsprechend dieser Veränderung ihre Pläne für den gestaffelten Kinobesuch neu konzipieren.

Es bleiben also gemischte Gefühle, blickt man auf die 73. Ausgabe der Berlinale: Da ist der Wunsch, eine Neuauflage des klassischen Festivalformats genießen zu können, und da sind die Veränderungen in Bezug auf Erlebnis und Filmauswahl. Was wird das Ergebnis dieser Mischung sein? 


Leicht gekürzte und überarbeitete Fassung. Der Originalbeitrag findet sich im Magazin Ruya des Goethe-Instituts.

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