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Berlinale-Blogger*innen 2024
„Treasure“ und andere Schmuckstücke

Treasure
Edek (Stephen Fry) mit seiner Tochter Ruth (Lena Dunham). | © Anne Wilk

Die Filmindustrie ist in Bewegung, vieles wird international produziert. Ein Blick auf neue englischsprachige Filme deutscher Regisseur*innen – nicht nur bei der Berlinale.

Von Jutta Brendemühl 

Die Filmszene wird durchlässiger und kollaborativer, wodurch sich immer neue Möglichkeiten für aufregende neue Erzählungen und kulturelle und sprachliche Überschneidungen ergeben. Genau wie im Fall der Oscar-nominierten Filme Anatomy of a Fall oder The Zone of Interest, in denen deutsche Schauspielende in Hauptrollen vertreten sind oder von Wim Wenders, der Japan in der Hoffnung auf seinen ersten Oscar vertritt, haben jüngere deutsche Regisseure mit ihren englischsprachigen Filmen The Outrun, Treasure und Cuckoo erstklassige Plätze auf der Berlinale 2024 ergattert.

In The Outrun entführt Regisseurin Nora Fingscheidt die Schauspielerin Saoirse Ronan auf die Orkney-Inseln. Das Suchtdrama überzeugte Publikum und Kritiker schon auf dem Sundance Film Festival und wird in Berlin dem europäischen Publikum vorgestellt. In der Literaturverfilmung versucht die Protagonistin Rona mit ihrer bewegten Vergangenheit ins Reine zu kommen und kehrt in der Hoffnung auf Heilung ins abgeschiedene Elternhaus zurück. Nach System Crasher, ein Berlinale-Erfolg zum Thema Sonderpädagogik, und Fingscheidts‘ Netflix-Drama The Unforgivable über Resozialisierung im Gefängnis, greift die deutsch-britische Koproduktion das heikle Thema Alkoholsucht auf. Fulminant in den USA gestartet, kann man sich auf Ronans Oscar-Nominierung 2025 als beste Schauspielerin freuen, auch The Guardian lobt ihre Arbeit in The Outrun als "eine ihrer größten Leistungen". 

Mehr denn je politisch aufgeladen

Julia von Heinz' Komödiendrama Treasure, ihr erster internationaler Spielfilm, feiert im Rahmen der Berlinale Special Gala seine Premiere. In dem Film reist die Amerikanerin Ruth mit ihrem alternden Vater Edek nach Polen, um die Orte seiner Kindheit zu besuchen. Edek ist Holocaust-Überlebender, sträubt sich dagegen, sein Trauma wieder zu erleben und sabotiert die Reise, was zu unfreiwillig komischen Situationen führt.

Die englischsprachige deutsch-französische Koproduktion mit britischen und amerikanischen Hauptdarsteller*innen und einem polnischen Nebendarsteller – Stephen Fry, Lena Dunham und Zbigniew Zamachowski – ist Teil von von Heinz' Aftermath-Trilogie über die Auswirkungen des Holocausts, zu der auch ihr in Venedig 2020 gezeigtes politisches Coming-of-Age-Drama And Tomorrow the Entire World (von der extremen Rechten mit einer Parlamentsbeschwerde bedacht) gehört. Die Rosa von Praunheim-Mentee leitet heute die Regieabteilung der Münchner Filmhochschule HFF und unterrichtet dort den Filmnachwuchs. In von Heinz' Filmografie reflektiert sie wiederholt ihre eigene antifaschistische Jugend und spricht sich weiterhin gegen antidemokratische Bedrohungen von allen Seiten aus. In einer mehr denn je politisch aufgeladenen Berlinale ist es besonders wichtig, Fry in der Rolle des Holocaust-Überlebenden zu sehen. Er sorgte kürzlich mit einem Auftritt im britischen Fernsehen für Aufsehen, in der er den wachsenden Antisemitismus anprangerte: „Ich hätte nie angenommen, dass ich mir jemals in diesem Land Gedanken darüber machen zu müssen, dass ich Jude bin.” 

Vorteile internationaler Co-Ventures

Einige deutsche Regisseure sind ins Ausland abgewandert – Edward Berger mit seinem mit vier Oscars ausgezeichneten Netflix-Kriegsdrama All Quiet on the Western Front nach London, Maria Schrader nach L.A. und New York mit ihrem viel gelobten, von Brad Pitt produzierten MeToo-Drama She Said und der Netflix-Hitserie Unorthodox. Auf einem deutschen Filmfestival im Jahr 2023 sprachen Schrader und von Heinz über ihre jeweiligen Ansätze als Autorinnen und Regisseurinnen, wobei sie sich gegen engere Gegentrends wandten und sich einig waren, dass „jeder jede Geschichte erzählen können sollte“.  
 
Während die Streaming-Anbieter früher auf der Jagd nach qualitativ hochwertigen globalen Inhalten waren, was ihren Zugang zu internationalen Spitzentalenten erleichterte und eine neue Welle internationaler Produktionen ermöglichte, bleibt die Filmindustrie in Bewegung. Produzent und Akademiemitglied Damon D'Oliveira aus Toronto, der mit einem kanadisch-belgischen Spielfilm auf dem Berlinale-Markt vertreten ist und demnächst dessen internationale Besetzung bekanntgeben wird, kommentiert, wie sich global denkende Produzenten anpassen: „Angesichts der Tatsache, dass die Streaming-Plattformen den Gürtel enger schnallen, sehen Produzenten die Vorteile internationaler Co-Ventures. Das macht es auch wünschenswerter, internationale Kreativteams und Besetzungen zu haben.“
  
Hunter Schafer

„Cuckoo“, Deutschland/USA 2024, Regie: Tilman Singer. Section: Berlinale Special 2024 | © NEON

Das Genrekino war vielleicht schon immer weniger national gebunden – man denke nur an Roland Emmerich, der mit dem bayerischen Regisseur Marco Kreuzpaintner (von Netflix' Bodies) an der US-Gladiatoren-Blockbuster-Serie Those About To Die mit Anthony Hopkins zusammenarbeitet, die demnächst auf Prime Video erscheint. In diesem Zusammenhang nennenswert auf der Berlinale ist der zweite Horrorfilm des Leipziger Regisseurs Tilman Singer, Cuckoo, eine US-Produktion mit Hunter Schafer, Emma Chan und John Malkovich in den Hauptrollen. Der Film tritt in die Fußstapfen von Singers Avantgarde-Psychodrama Luz aus dem Jahr 2018, eine Hommage an die europäischen Horrorfilme der 1980er-Jahre und seine Abschlussarbeit an der Filmhochschule. In Cuckoo zieht die 17-jährige Gretchen mit ihrer Familie in einen Ferienort in den Alpen, in dem es schnell düster wird. Wenn man Schlagzeilen wie „wild-experimentelle dämonische Besessenheit“ (Screen Anarchy über Luz) liest, möchte man für Singers neuesten Film, in dem Dan Stevens dem 25-jährigen Ex-Model Schafer gegenübersteht, direkt entweder in die Berge oder in die Berlinale-Special-Sektion fliehen. 
  
I'm Off Then, der Titel von Julia von Heinz' Film aus dem Jahr 2015 über eine Pilgerreise ins Ausland, scheint prophetisch für die nomadische und gemischte Art und Weise zu sein, in der sich die europäische und nordamerikanische Filmindustrie entwickelt. In diesem Jahr werden noch weitere Co-Ventures folgen: Edward Berger arbeitet an dem britischen Papstthriller Conclave mit Ralph Fiennes, Stanley Tucci und Isabella Rossellini, und Robert Eggers nimmt Nosferatu als tschechisch-amerikanische Zusammenarbeit wieder auf, mit einer multinationalen Besetzung – Bill Skarsgård, Emma Corrin und Willem Dafoe –, die auf Englisch, Deutsch, Rumänisch und Russisch agieren. 

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