Arbeiter aus den kanadischen Ölsanden haben sich eine Organisation geschaffen, um sich im Bereich der erneuerbaren Energien auszubilden. Sie stellen sich damit an die Spitze einer boomenden Industrie und verfolgen zugleich die Vision einer nachhaltigen Zukunft.
In den sechs Jahren, die Lliam Hildebrand in den Ölsanden von Alberta arbeitete, brachte er in der Mittagspause regelmäßig ein Thema zur Sprache, das er eigentlich für ein Tabuthema hielt: erneuerbare Energien. Hildebrand, ausgebildeter Schweißer und Stahlbauer aus Victoria, British Columbia, stellte jedoch fest, dass das Thema vielen Arbeitern genauso wie ihm auf der Seele brannte.
„Ich war schon immer umweltbewusst und trug innerlich immer einen gewissen Kampf mit mir aus, wegen meiner Arbeit in den Ölsanden arbeitete und des Beitrags zum Klimawandel,” sagt Hildebrand. „In den Gesprächen, die ich mit den Arbeitern da oben führte, fand ich heraus, dass es ihnen ähnlich ging: Einerseits wollten sie Innovation und Technologie, andererseits sorgten sie sich ihrer Kinder wegen um die Zukunft unseres Planeten.”
Hildebrand arbeitete früher in einer Stahlfabrik in Victoria und baute Druckbehälter für die Ölsandindustrie und Schiffsbelader für Kohleterminals. Später, als er für seine Fabrik in der Wetterstation eines Windparks arbeitete, sah er den Dokumentarfilm Eine unbequeme Wahrheit. Er erkannte, dass die Arbeiter eine entscheidende Rolle beim Aufbau von Infrastruktur für erneuerbare Energien spielen könnten. „Ich begann mich damit zu beschäftigen, wie man diese Dinge in Einklang miteinander bringen könnte,” erklärt er.
Die Diskussionen in der Mittagspause in Kombination mit der damaligen Stimmung in Alberta – fallende Ölpreise führten zu massiven Arbeitsplatzverlusten und die Provinzregierung etablierte eine neue Klimaschutzpolitik – ermutigten Hildebrand schließlich zum Handeln.
Im März 2016 gründete er offiziell Iron & Earth, eine von Arbeitern geführte Initiative, deren Ziel es ist, sich selbst und andere Arbeiter im Bereich der erneuerbaren Energien auszubilden. In der Öl- und Gasindustrie Beschäftigte haben übergreifende Kenntnisse, so die Organisation, und sie möchten am Aufbau einer grüneren Energiewirtschaft in Kanada mitarbeiten. Warum sollte man ihnen also nicht die zusätzliche Ausbildung ermöglichen, die sie für diese boomende Branche brauchen?
„Es ist höchste Zeit, dass Kanada damit beginnt, Vielfalt in sein Energienetz zu bringen,” sagt Hildebrand, der inzwischen Geschäftsführer von Iron & Earth ist. „Wir können Produkte herstellen, auf die wir wirklich stolz sein können, und unseren Beitrag zur Eindämmung der globalen Erwärmung leisten – und außerdem noch für mehr wirtschaftliche Sicherheit und Energiestabilität in Kanada sorgen.”
Eine gemeinsame Vision
Geleitet wird die Organisation von Hildebrand und vier Geschäftsführern – allesamt Facharbeiter –, die in Alberta gearbeitet haben oder noch immer dort arbeiten. Mehr als 450 Mitglieder verschiedener Handwerksberufe wie Kesselmacher, Elektriker oder Installateure, ebenso wie einfache Arbeiter, sind Iron & Earth bereits beigetreten und haben Interesse an Schulungsprogrammen angemeldet.
Joseph Bacsu, Kesselmacher in dritter Generation aus Alberta, verbrachte viele Mittagspausen im Gespräch mit Hildebrand, und schloss sich dessen Vision letztlich an. Bacsu wurde in diesen Gesprächen außerdem klar, dass ein Übergang zu grüner Energie ein strukturelles Problem lösen könnte, das die Arbeit in der Ölindustrie mit sich bringt. Angesichts der Krisen- und Boomzeiten im Ölsandabbau sehnten sich die Arbeiter nach stabilen Beschäftigungsverhältnissen. „Die Leute wollen diese Arbeit, sie wollen ausgebildet werden und sie stehen bereit, wenn es endlich losgeht mit diesen Jobs [in den erneuerbaren Energien]. Das ist eine ganz einfache Rechnung,” so Bacsu.
Er ist heute Mitglied des Vorstands von Iron & Earth und war Zeuge, wie sich zahlreiche Arbeiter der Organisation anschlossen, darunter auch sein Vater, der 35 Jahre in der Branche tätig war. „[Mein Vater] denkt genauso wie ich,” sagt Bacsu. „Wenn ich irgendwo arbeiten kann, wo ich das gleiche tue wie jetzt auch, wo ich aber weiß, dass ich was Gutes für unsere Erde tue, warum sollte ich das dann nicht machen?”
Umschulung von Elektrikern für die Mitarbeit an Solarprojekten
Im März hielt Iron & Earth eine offizielle Eröffnungsveranstaltung in Edmonton, Alberta, ab, bei der man die Regierung der Provinz dazu aufrief, die Solarkampagne der Organisation zu unterstützen. In dieser Kampagne werden 1.000 arbeitslose Elektriker aus der Ölsandindustrie umgeschult, um Solartechnik installieren zu können. Hildebrand zufolge hat sich die Organisation seitdem mit verschiedenen Vertretern des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Handel und des Arbeits- und Umweltministeriums der Provinzregierung sowie mit dem Minister für Umweltschutz und Klimawandel der kanadischen Bundesregierung getroffen.
Man hofft durch diese Treffen auf Unterstützung, auch finanzieller Art, für die Anfangsarbeit von Iron & Earth: zehn Solarprojekte in zehn High Schools in ganz Alberta inklusive der Installation von Photovoltaik- und Solarthermieanlagen, der energetischen Gebäudesanierung und -optimierung und einer Ladestation für Elektroautos.
Die Handwerker, die für die Solarumschulung ausgewählt werden, werden drei Wochen lang in einer High School die Anlagen installieren. „Auf diese Weise lernen die Handwerker mehr, und gleichzeitig können die Kosten für die Installationen eingedämmt werden,” so Hildebrand. Die ersten zehn Solarprojekte haben Testcharakter. Mit ihnen kann das Team ein Modell entwickeln, das wiederum auf weitere 90 Solarprojekte übertragen werden kann, damit diese schneller fertig werden. Bei Iron & Earth sieht man künftige Tätigkeitspotenziale auch in anderen Bereichen wie Windenergie, Geothermie und Biomasse.
Die Arbeiter haben eine Wahl
Auch andere Initiativen sind in Planung. Bacsu hat sich bereits mit Vertretern der deutschen Botschaft getroffen und hofft, bald eine Reise zu verschiedenen Erneuerbare-Energie-Genossenschaften in Deutschland unternehmen zu können. Adam Cormier, Elektriker und ein weiteres Vorstandsmitgleid von Iron & Earth, reiste in seine Heimat Neufundland und traf dort auf ein „überwältigendes“ Interesse unter den Arbeitern, die bisher zwischen ihrer Heimat an der Ostküste und ihren Jobs in den Ölsanden von Alberta hin- und herfliegen.
Hildebrand hofft, dass seine Organisation zu seiner „Traumvorstellung“ beitragen kann, dass es eines Tages eine florierende alternative Energiewirtschaft in Alberta und in ganz Kanada geben wird. Für diesen Weg braucht es qualifizierte Arbeiter, und genau darauf konzentriert sich Hildebrand im Moment.
Zu lange, so Hildebrand, haben die Diskussionen um erneuerbare Energien die Menschen polarisiert. „da standen immer die Jobs gegen die Umwelt,” sagt er. „Als Arbeiter haben wir schon vor langer Zeit erkannt, dass diese Gegenüberstellung falsch ist. Und wir sind nicht länger bereit darauf zu warten, dass jemand anderes endlich dieses Thema aufgreift. Die Arbeiter freuen sich sehr, endlich selbst eine Stimme zu haben.”