„Künstlerresidenzen sind der Moment, wo man sich noch einmal neu ausrichtet.“ Der Arbeitskreis deutscher internationaler Residenzprogramme lud im HAU Hebbel am Ufer zu einem Blick auf die Vielfalt und Bedeutung seiner Programme ein.
„Angstland Deutschland.“ Als der niederländische Autor Cees Nooteboom als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) während seines anderthalbjährigen Aufenthalts in Berlin 1989/90 diese Impression notierte, legte er nicht nur den Grundstein für seinen Aufstieg zum internationalen Star-Schriftsteller. Seine „Berliner Notizen“ zu Politik und Alltag in Deutschland sind seitdem so etwas wie eine Metapher für die Spin-Off-Effekte von Kulturaustausch: Der Freiraum, in dem ein Werk erwächst, die erhellende Kraft des Perspektivwechsels, das Geschenk des fremden Blicks für das gastgebende Land.
Künstlerförderung und Kulturdiplomatie
Zu Nootebooms Zeiten war diese Form der Künstlerförderung vergleichsweise neu und selten. Welche Ausmaße das Format der „Residency“ – so heißen die ortsgebundenen, mehrmonatigen Künstlerstipendien heute – angenommen hat, konnte man gestern Abend im Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) sehen. Rund 20 deutsche Institutionen warben dort für diese spezielle Form der Künstlerförderung.
Foto: Victoria Tomaschko
Mit der Vokabel Künstlerresidenzen verbindet die Öffentlichkeit meist Prestige-Projekte wie die Villa Massimo in Rom oder die Villa Aurora in Los Angeles. Weniger Menschen kennen die Akademie Schloss Solitude in Stuttgart, das Iwalewahaus in Bayreuth oder das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia im bayerischen Bamberg.
Das Land mit der höchsten Dichte an Künstlerresidenzen
Auf Initiative des Auswärtigen Amtes und des Goethe-Instituts hatten sich diese und andere Häuser 2015 zu einem „Arbeitskreis deutscher internationaler Residenzprogramme“ zusammengeschlossen, um sich stärker auszutauschen und diese Form der Kulturdiplomatie in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Allein in Deutschland, dem Land mit der höchsten Dichte an Künstlerresidenzen, gibt es gut 40 von ihnen. In 80 Ländern der Welt gibt es Residenzprogramme mit deutscher Trägerschaft. „Residenzprogramme fördern Offenheit, Dialogfähigkeit und kulturelles Verständnis. Es braucht Menschen, die den Dialog führen, mit kulturellen Unterschieden umgehen können und offen für neue Erfahrungen sind. Gerade in Zeiten politischer Turbulenzen spielt der Kulturaustausch durch Residenzprogramme eine zunehmend wichtige Rolle“, so Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts.
„Andauernde Grenzüberschreitung“ war der Abend überschrieben. Um was es den Beteiligten dabei ging, demonstrierten zum Auftakt Gülhan Kadim, Berfin Zenderlioğlu und Laila Nielsen mit einer rasanten Tanz-Performance, bei der sie den im Foyer wartenden Teilnehmern ungewohnt nahe kamen. Während seiner Residency im Haus der Kunststiftung Nordrhein-Westfalen hatte der Bonner Theaterregisseur Frank Heuel die jungen Schauspielerinnen der türkischen Theatergruppe Kumbaracı50 kennengelernt. Seitdem arbeitet er mit ihnen zusammen.
Kumbaracı50 bei „Andauernde Grenzüberschreitung"
| Foto: Victoria Tomaschko
„Das Tolle an Künstlerresidenzen ist, dass man einen eigenen Raum bekommt“, erinnerte sich die Berliner Choreographin und künftige Intendantin des Staatsballetts Sasha Waltz im Gespräch mit der den Abend moderierenden Lyrikerin Nora Gomringer an ihren allerersten Residenzaufenthalt im Berliner Künstlerhaus Bethanien. „Ich glaube, Künstlerresidenzen sind der Moment, wo man sich noch einmal neu ausrichtet.“
Wichtig ist, was die Residenz in dir bewirkt.
„Es ist gar nicht so wichtig, was der Künstler in diesem Raum schafft, sondern was die Residenz in dir bewirkt“, fasste der amerikanische Künstler Kevin B Lee seine Erfahrungen im Berliner Harun Farocki-Institut in einem Videoessay zusammen, das er auf die Leinwand im großen Saal des HAU projizierte. „Ich fühle mich gar nicht so sehr als Botschafterin meines Heimatlandes“, gestand die kroatische Regisseurin und Schriftstellerin Ivana Sajko. „Natürlich kann ich auch falsche Eindrücke über meine Heimat korrigieren. Aber das Interessante sind die Menschen, die man während der Residenzen trifft. In dem Austausch mit ihnen liegt eine große Chance: Zu lernen, sich zu ändern. Man muss sie ergreifen.“
„Es geht nicht um politische Kunst. Das Politische ist, dass die Kunst frei ist und bleibt.“
Zu Zeiten, in denen die Kultur weltweit unter Druck gerät und sich der freie Blick wieder auf das Nationale verengt, war es genau der richtige Zeitpunkt, eine Lanze für diese „Freiheitsorte“ zu brechen, wie sie Andreas Görgen nannte, der Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes: „Es geht nicht um politische Kunst. Das Politische ist, dass die Kunst frei ist und bleibt.“
Weil diese Freiheit nicht überall auf der Welt selbstverständlich ist, wollen das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) und das Goethe-Institut mit der neu ins Leben gerufenen Martin-Roth-Initiative Kulturschaffenden, die sich in ihrem Heimatland für die Freiheit der Kunst, Demokratie und Menschenrechte engagieren, temporäre Schutzaufenthalte in Deutschland oder in Drittstaaten ermöglichen. Das kündigte Johannes Ebert an.
Andreas Görgen: „Das Politische ist, dass die Kunst frei ist und bleibt."
| Foto: Victoria Tomaschko
Freiraum und Schutzraum
Die passende Metapher für diesen wachsenden Austausch und die wechselseitige Beobachtung hatte die amerikanische Künstlerin Tracey Snelling zu dem Abend beigesteuert. Im Foyer des HAU stand ihre Multimedia-Installation „Kotti“ (2018), die sie während ihres Aufenthalts im Künstlerhaus Bethanien gefertigt hatte. Der verblüffend realistische Nachbau des markanten Sozialbaus „Neues Kreuzberger Zentrum“ an Berlins berüchtigtem Kottbusser Tor sieht aus wie eine Art Residenz, wo hinter den Fenstern jedes der vielen Apartments mit den charakteristischen Satellitenschüsseln mal ein Video aufflackert, mal jemand beim Zeichnen zu sehen ist, mal Bewohner um einen Tisch sitzen. Ach – so ließe sich Snellings Werk interpretieren, wenn doch die ganze Welt ein Künstlerhaus wäre!