Die Wiedervereinigung aus der Hundeperspektive
Haltungskorrekturen
Der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg fielen viele, auch die kleinsten Bestandteile der deutschen Alltagskultur zum Opfer. Die Politik prägte nicht nur das Leben der Menschen: auch Tiere wurden für den propagandistischen Wettbewerb eingespannt. Die Geschichte der Zucht von ostdeutschen Schäferhunden ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich das Regime in jeden Lebensbereich einmischte und welche Konsequenzen selbst kleine nach dem Mauerfall getrofenne Entscheidungen hatten.
Von Paweł Starzec
Der Weg scheint mit jeder weiteren Kurve enger zu werden. In ihrer Antwort auf meine Nachricht vor einer Woche hatte Heike sich zwar höflich verwundert gegeben, jedoch keine Einwände gehabt, sich mit mir zu einem Gespräch zu treffen. Trotzdem werde ich, je näher ich meinem Ziel komme, immer nervöser, auf eine Weise, die wohl jedem Journalisten und Reporter bekannt ist: Überschreite ich eine Grenze? Verkehre ich etwas, das ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens war, in ein Stück Ost-Exotik? Das letzte Haus vor dem Wald. Man hört das Bellen von Hunden.
Der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg fielen auch viele Bestandteile der deutschen Alltagskultur zum Opfer. Die beiden neuen deutschen Staaten mussten fortan all das miteinander teilen, was bis dahin ihre nationale Identität ausgemacht hatte, sowohl ihrer materiellen Identität in Form von Städten, Straßen und Fabriken als auch ihrer immateriellen Identität in Form von kulturellen Eigenheiten, Bräuchen und Symbolen. Auch die Familie und die Nachkommen Horand von Grafraths, ehemals Hektor Linksrhein, wurden durch die neu gezogene Grenze voneinander getrennt. Obwohl die Geschichte dieser Familie damals gerade erst ein gutes halbes Jahrhundert zurückreichte, war sie doch wohlbekannt und spielte eine wichtige Rolle im deutschen Alltagsleben. Die Geschichte ihres Ahnherren Horand von Grafrath ist eine typische „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Karriere, und obwohl sein Vermächtnis weltweit bekannt ist, liegt seine eigene Herkunft doch weitgehend im Dunkeln. Die genauen Umstände seiner Geburt sind nicht gesichert, auch wenn in letzter Zeit einige kontroverse Spekulationen zu diesem Thema aufkamen. Eines kann man jedoch mit Sicherheit sagen: Horand von Grafrath war zur rechten Zeit am rechten Ort, nämlich am 3. April 1899 auf einer Hundeausstellung in Karlsruhe. Dort befand sich auch der zweite Vater dieser deutschen Erfolgsgeschichte, der Rittmeister Max von Stephanitz. Die erste Begegnung der beiden hatte zwar eher den Charakter einer geschäftlichen Transaktion, doch am Ende des Tages wusste der Rittmeister bereits, dass er genau das gefunden hatte, was er gesucht hatte. Max von Stephanitz war Mitglied der Phylax-Gesellschaft, eines Zusammenschlusses von Hundezüchtern, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, eine standardisierte deutsche Hunderasse für den Einsatz bei der Polizei und beim Militär zu schaffen. Mit klarem Verstand und festem Schritt war der Rittmeister zu einem ganz bestimmten Zweck auf der Ausstellung erschienen. Horand von Grafrath erschien ihm als ein vielversprechender Partner: Er war ähnlich veranlagt, hatte einen klaren Verstand und stand fest auf seinen vier Pfoten. Horand war ein Schäferhund, der den Erwartungen des Rittmeisters zu Hundert Prozent entsprach. Noch am selben Tag kaufte der Rittmeister den Hund, um ihn später unter der Nummer eins in das Zuchtbuch für Deutsche Schäferhunde einzutragen.
Gehorsam, Intelligenz und Arbeitswille
Heike öffnet mir die Pforte und führt mich in den Garten hinter ihrem Haus. „Setz dich hierhin, an den Tisch. Das ist mein Platz. Ich lasse gleich die Hunde heraus, aber hab keine Angst. Wenn sie sehen, dass du an meinem Tisch sitzt, wissen sie, dass du in Ordnung bist.“ Das Geräusch des sich öffnenden Tors wird von lautem Knurren begleitet, und kurz darauf kommen zwei schwarze, massive Schäferhündinnen auf mich zugelaufen. Ich hatte früher einmal selbst einen Schäferhund – statistisch gesehen ist der Deutsche Schäferhund noch immer die beliebteste Hunderasse in Polen. Heikes Hunde sind jedoch wesentlich größer, sie wirken stärker und kräftiger gebaut. Außerdem sind beide komplett schwarz. Heike hat Recht gehabt: Sobald die Hunde sehen, dass ich am Tisch ihres Frauchens sitze, beruhigen sie sich und setzen sich unmittelbar neben mich, um genau sehen zu können, was ich tue. Die eine, etwas dunklere Hündin stupst mich sanft mit der Schnauze an und fordert mich auf, sie zu streicheln.Die Nachkommen Horand von Grafraths wurden, wie so viele Bestandteile der deutschen Alltagskultur, durch die neu gezogene Grenze voneinander getrennt. Fortan gab es zwei deutsche Schäferhundvereine und zwei unterschiedliche Zuchtlinien. Denn obwohl der Schäferhund Nummer eins schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilte, achtete Max von Stephanitz doch weiterhin streng auf die Einhaltung des Rassestandards. Die charakterlichen Eigenschaften, die den Rittmeister bei Schäferhund Nummer eins so sehr begeistert hatten – Gehorsam, Intelligenz und Arbeitswille –, gingen mit ähnlich strengen Anforderungen an die körperlichen Merkmale der Hunde einher. Weißes Fell wurde zum Beispiel ab 1933 nicht mehr akzeptiert – heute werden weiße Schäferhunde als Schweizer Schäferhunde bezeichnet. Der Deutsche Schäferhund gewann rasch an Beliebtheit und wurde dank seiner Vielseitigkeit gerne als Dienst- und Arbeitshund eingesetzt. Doch auch eine noch so strenge Zuchtauswahl konnte die Ausbreitung der bei dieser Rasse am häufigsten anzutreffenden Erbkrankheit nicht rechtzeitig verhindern: der sogenannten Hüftgelenksdysplasie. Diese Fehlbildung wurde erstmalig beim Deutschen Schäferhund diagnostiziert, gegenwärtig leiden etwa 20 Prozent aller Tiere dieser Rasse unter ihr. Die Ausbreitung der Hüftgelenksdysplasie ist eine Folge der Zuchtauslese: Die Züchter wählten gezielt Tiere mit den gewünschten Rassemerkmalen aus und trugen dadurch zur Ausbreitung des krankheitsverursachenden Gens bei. Stark gewinkelte Hinterläufe und ein nach hinten abfallender Rücken – dieses Leitbild hatte verheerende Konsequenzen.
1949 war die Situation der Schäferhunde noch nicht ganz so dramatisch. Der neu gegründete Schäferhundverein der DDR wurde, wie so viele Bestandteile des deutschen Alltagslebens, zu einem Politikum. Und die Schäferhundzucht, die von nun an in zwei Zuchtlinien verlief, entwickelte sich zu einem Schauplatz der Rivalität zwischen Ost und West. Der ostdeutsche Schäferhund war ein Hund mit einer Mission. Er sollte seinen deutschen Vetter hinsichtlich seiner körperlichen und geistigen Merkmale überflügeln. Vor allem aber sollte er frei von Hüftgelenksdysplasie sein – einer Krankheit, die das Resultat eines durch nichts gerechtfertigten Eingriffs des Menschen in die Genetik war.
Ein Hund zu Hause
Heike erzählt. „Meine erste Schäferhündin habe ich 1977 gekauft. Ich wollte einfach einen Hund haben, für mich allein, als Freund. Die Hündin strotzte vor Energie und war sehr lernbegierig. Ich wollte ihr die Möglichkeit geben, etwas zu lernen, sich weiterzuentwickeln, also ging ich mit ihr in die Hundeschule. Sie kam dort prima zurecht, sie war richtig gut! Sie bestand sämtliche Prüfungen und gewann mehrere Pokale. Irgendwann dachte ich mir, dass sie eines Tages nicht mehr da sein würde. Also kam ich auf die Idee, ostdeutsche Schäferhunde zu züchten, angefangen mit meiner eigenen Hündin, weil sie sich so gut dazu eignete. Und so geht das jetzt schon seit 40 Jahren. Ich wollte immer einen Hund zu Hause haben.“ Heikes Hunden wird es allmählich langweilig, weil ich zwar in ihr Terrain eingedrungen bin, ihnen jedoch keine besondere Aufmerksamkeit schenke. Ich spüre ein sanftes Zerren an meinem Ärmel und erst jetzt bemerke ich, dass sich hinter den beiden Hündinnen mehrere Welpen versammelt haben. Heike spricht von ihnen mit viel Zärtlichkeit als „Babys“. Die Welpen gehören zu einer der beiden Hündinnen und sind erst wenige Monate alt, also noch in dem Alter, in dem die Ohren bei Schäferhunden trotz redlichen Bemühens noch nicht ganz aufrecht stehen. „Wie du siehst, bin ich keine Züchterin in großem Maßstab, ich habe nur wenige Hunde und keine Zwinger, ich betrachte die Hunde als meine Freunde. Sie haben nur einen Wurf pro Jahr, damit sie sich auch wirklich gut um die Welpen kümmern können und damit auch wirklich alle Hunde in gute Hände kommen. Denn die potenziellen Käufer wähle ich schon sehr früh aus, in der Regel etwa ein Jahr im Voraus. Ich habe eine Warteliste, es haben sich bereits Interessenten für den nächsten Wurf gemeldet. Ich wollte es auch nie anders machen – so wie es jetzt ist, ist es gut.“
Durch eine strenge Zuchtauswahl nach dem Kriterium der körperlichen Leistungsfähigkeit entwickelte sich die Veranlagung zur Hüftgelenksdysplasie beim ostdeutschen Schäferhund allmählich zurück. Seine Hinterläufe wurden wieder gerader, und sein Körperbau erinnerte wieder stärker an Schäferhund Nummer eins. In der DDR wurden Schäferhunde vor allem als Arbeitshunde eingesetzt. Und gemäß den politischen Vorgaben übertrafen sie schon bald ihre westdeutschen Vettern. Die ostdeutschen Schäferhunde waren größer, massiver und athletischer. Sie waren sprungkräftig und widerstandsfähig gegen Hitze und Kälte. So wie es der Rittmeister Max von Stephanitz vorgesehen hatte, wurden sie beim Militär, bei der Polizei und beim Grenzschutz eingesetzt. Sie waren länger dienstfähig und körperlich gesünder als westdeutsche Schäferhunde. Leider weckten sie nicht nur gute Assoziationen – zu ihren Aufgaben gehörten das Patrouillieren der Grenze, das Aufgreifen potenzieller Republikflüchtlinge und das Alarmieren der Wachposten.
Teilung und Wiedervereinigung
Ich habe meine Kamera herausgeholt und mache Bilder von Heike und ihren Hunden. Die Hunde sind ganz offensichtlich zufrieden, dass sie endlich im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Sie wollen mit mir spielen und haben Probleme stillzuhalten, als ich versuche, ihre geraden Hinterläufe und ihre gesunden Gelenke zu fotografieren. Schließlich gebe ich den Versuch auf. „Nach der Wiedervereinigung, nach dem Fall der Mauer, wollte niemand in Ostdeutschland mehr Trabant fahren und niemand wollte einen ostdeutschen Schäferhund haben. Jeder wollte einen VW Golf und einen Schäferhund aus dem Westen.“ Mit der Wiedervereinigung wurden auch die beiden deutschen Zuchtlinien wieder zusammengeführt. Und Tausende von Hunden, die bis dahin im Grenzschutz eingesetzt worden waren, wurden plötzlich überflüssig. Die, die Glück hatten, fanden ein neues Zuhause. Die, die weniger Glück hatten, wurden eingeschläfert.
„Ostdeutsche Schäferhunde hatten einfach ein schlechtes Image. Ich habe viele Jahre lang überhaupt keine Welpen verkauft, niemand wollte sie haben. Dann merkten die Menschen, dass westdeutsche Schäferhunde häufiger krank wurden, unsere hingegen überhaupt nicht. Aber da war es schon zu spät, denn die Züchter aus dem Osten hatten bereits gesagt: Wenn niemand unsere Hunde haben will, dann züchten wir eben keine mehr.“ Die Geschichte des ostdeutschen Automobils spiegelt sich in der Geschichte des ostdeutschen Schäferhunds wieder. Auf der deutschen Wikipedia-Seite wird sein Schicksal in wenigen Zeilen abgehandelt. Das Problem der Hüftgelenksdysplasie, das die ostdeutschen Züchter bereits in den Sechzigerjahren in den Griff bekommen hatten, wird für die Tiere der westdeutschen Zuchtlinie zunehmend akut. Die Wiedervereinigung machte auch vor den beiden deutschen Zuchtlinien nicht Halt, und die Geschichte des ostdeutschen Schäferhundes wird heute nur noch auf den Internetseiten von Hobbyzüchtern überliefert. Und die Polizei in aller Welt setzt zunehmend auf andere Hunderassen.
Im Abseits der Geschichte
Der aus dem Fernsehen bekannte Kommissar Rex ist Vergangenheit. Heute werden Deutsche Schäferhunde immer seltener als Polizeihunde eingesetzt. Sie wurden von Belgischen Schäferhunden (Malinois) oder auch von Holländischen Schäferhunden verdrängt, die etwas kleiner sind und wesentlich seltener unter Hüftgelenksdysplasie leiden. Das Pensionsalter für Polizeihunde beträgt neun Jahre, doch Deutsche Schäferhunde hatten in den letzten Jahren immer häufiger Probleme, dieses Dienstalter bei guter Gesundheit zu erreichen. Die jahrzehntelange Überzüchtung hatte zum Gegenteil dessen geführt, was den Rittmeister Max von Stephanitz an Horand von Grafrath, dem Deutschen Schäferhund Nummer eins, so begeistert hatte.
Die Lösung dieses durch den Menschen verursachten Problems war nicht nur zum Greifen nah, sondern sie existierte bereits – und wurde im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands ins Abseits der Geschichte gedrängt, weil der ostdeutsche Schäferhund kein gutes Image hatte. „Heute gibt es nicht mehr viele von uns. Vor fünf Jahren veränderte sich die Situation, als plötzlich jeder einen Schäferhund aus dem Osten haben wollte. Die waren aber gar nicht mehr so leicht zu finden. Von uns alten Züchtern ist nur noch ein knappes Dutzend übrig geblieben, doch allmählich rückt eine neue Generation nach.“ Wir beenden die Fotosession und das Interview. „Es ist gut, dass es wieder junge Leute gibt, die in diesen Tieren etwas Besonderes sehen. Wir Älteren haben die Hoffnung, dass wir diesen jungen Leuten zur Seite stehen können, dass wir ihnen etwas beibringen können. Ich würde mir wünschen, dass der ostdeutsche Schäferhund nicht in Vergessenheit gerät, dass jeder in ihm einen Freund finden kann – so wie ich selbst vor vierzig Jahren.“