Ein Gespräch
Künstlerinnen: Wir schauen auf die Biene

Kamera
© Pixabay

Einige Orte, die wir im vergangenen Frühjahr gefilmt haben, existieren heute gar nicht mehr. Einige Menschen, die in dem Film vorkamen, sind nicht mehr unter uns – ukrainische Regisseurinnen sprechen über die Dokumentierung des Krieges und über die Perlusion der Normalität. 

Von Iryna Tsilyk und Maryna Stepanska

Als ich müde und schachmatt von einer Dienstreise in die Ukraine zurückgekehrt bin, stürmte ich mit einer Flasche Prosecco und Erdbeeren in die Wohnung der Regisseurin Maryna Stepanska und beschwerte mich schon an der Türschwelle, dass ich bei  mir eine Midlife-Crisis diagnostiziert habe, aber gleich danach atmete ich tief aus und passte mich dem unveränderlichen Rhythmus dieser Wohnung an. Im Backofen scheint etwas zu backen, ein Buch von Annie Ernaux liegt aufgeschlagen, und auf dem Balkon stehen Dutzende von Töpfen mit Tomaten und Basilikum. Im Zimmer steht ein Korb mit Gurken – Maryna hat dieses Jahr mit Gartenarbeit begonnen und es klappt anscheinend ganz gut. Ich betrachte diese Gurken und es bebt etwas in mir: Vor nicht allzu langer Zeit brachte Maryna einen ähnlichen Korb und eine Schale mit ihren eigenen Brombeeren zu unseren gemeinsamen Freundin, deren Mann an der Front gefallen war.
Schließlich setzen wir uns auf den Balkon und ich mache das Aufnahmegerät an. Die Sonne blendet uns immer noch sommerlich mit ihrer fröhlichen gelben Farbe entgegen, aber in der Nähe ist von Zeit zu Zeit ein lautes Geräusch herunterfallender Kastanien zu vernehmen, die uns daran erinnern, dass dies der Anfang vom Ende ist – die Mechanismen des Todes in der Natur haben bereits zu Mahlen begonnen.

Iryna Tsylyk: Deine Tomaten sind noch ganz grün. Merkwürdig. Es ist doch bereits Ende September.  

Maryna StepanskaWeißt du, ich habe sie zu spät, erst im Juli, gepflanzt.

Iryna Tsylyk: Entschuldige, ich habe wieder eine schlaflose Nacht hinter mir und ich weiß nicht, wohin uns dieses Gespräch führen wird. Aber ich bin endlich dahinter gekommen, woher meine Angstzustände herrühren. Es war nach meiner Dienstreise nach Mexiko... Ich war auf einem Straßenmarkt in Querétaro, inmitten von Essensdüften, inmitten aller dieser lächelnden Menschen – einige tanzten, andere aßen Tostadas.  Ein regelrechter Höhepunkt des Lebensgenusses. Und dann rief mein Sohn aus Kiew an und war ganz außer sich: "Mama, neben uns ist gerade eine Granate explodiert!".  Er floh zusammen mit seiner Großmutter in den Hausflur, wo die Druckwelle den Zähler aus der Wand gerissen hatte. Im Nachbargebäude waren fast alle Fenster zerschmettert. Die Reste einer abgeschossenen Drohne in unserem Hof.... Ich glaube, das hat mich psychisch niedergeschmettert.  Soeben habe ich ein nächstes, verlockendes Reiseangebot abgelehnt. Jetzt träume ich nachts weitere Folgen der Albträume.

Maryna Stepanska: Ich bewundere dich trotzdem für deine Energie. Alle diese Reisen, die öffentlichen Auftritte, und dazu bist du ja noch Mutter. Ich weiß nicht, wie du das alles unter einen Hut bekommst. Und es ist normal, dass bei diesem Tempo irgendwann die Psyche nicht mehr mitmacht.

Iryna Tsylyk: Vielleicht täusche ich sowohl mir als auch den anderen nur vor, dass ich diese Energie besitze? Ich bin wieder nach Kiew zurückgekehrt und es ist für mich bedenklich, wie eifrig wir hier alle so tun, als ob alles in Ordnung sei. Obwohl unsere Psyche in Wirklichkeit überstrapaziert und stellenweise angeschlagen ist. 
Kürzlich passierte mir etwas Seltsames. Ich war mit einer völlig fremden Frau in New York verabredet – es war ein entspanntes Arbeitstreffen. Ich steige also mit dieser unbekannten Frau ins Auto und sie stellt mir die übliche Frage: "Wie geht es dir?", und ich, anstatt wie ein normaler Mensch zu antworten: "Mir geht es gut", fange an zu weinen und erzähle ihr, dass meine Freunde sich wahrscheinlich scheiden lassen, dass ich keine Ahnung davon hatte, dass sich alle gegenseitig belügen und verletzen und dass auf jedem von uns zu viel Druck lastet. Schließlich landeten wir beide auf einem Rasen im Central Park, wir sahen den Eichhörnchen zu und sprachen nicht nur über die Arbeit, sondern auch über sehr persönliche Dinge. Diese Frau hat es in New York auch nicht leicht, also war es für uns eine äußerst unerwartete therapeutische Begegnung. Als wir uns trennten, waren wir fast Freundinnen.


Maryna Stepanska: In Wirklichkeit täuschen wir nichts vor. Ich bin mit diesem Ausdruck nicht einverstanden. "Vortäuschen" ist kein angemessener Begriff. Es ist einfach so, dass unsere Reaktion auf tragische Ereignisse und Stress nicht mit dem übereinstimmt, was man erwartet: Wir verhalten uns mehr oder weniger wie normale Menschen, nur gelegentlich verrät ein nervöser Tick, dass die Psyche sich mit dem Trauma auseinandersetzt. Das ist unsere Norm, unsere Reaktion auf eine radikale Veränderung der Realität – die endlose Wiederholung der Vorkriegsroutine und der Versuch, sich anzupassen.  

Iryna Tsylyk: Ich bemühe mich sehr, die Tatsache irgendwie zu verschleiern, dass ich in meinem Inneren eingefroren bin. Es gibt unterschiedliche Reaktionen auf Stress – kämpfe, fliehe, erstarre. Ich hatte bereits so manche Gelegenheit, um mich davon zu überzeugen, dass ich zu denjenigen Menschen gehöre, die regungslos erstarren. Und das sowohl wörtlich, als auch im übertragenen Sinne. Zunächst war es während des Maidan und dann nach der Invasion – und da total. Ich stand fassungslos da, während die meisten meiner Fachkollegen zu rennen oder zu "schlagen" begannen – sie meldeten sich bei der Armee, schnappten sich ihre Kameras und begannen schnell, die Realität um sie herum festzuhalten, sogar mittels von Kurzfilmen, um ihre eigenen Gefühle zumindest auf diese Weise zu verarbeiten. Kürzlich habe ich endlich die Kraft gefunden, um mir eine Reihe ukrainischer Kurzfilme anzusehen, die nach dem 24. Februar entstanden. Es ist sehr interessant, wie unterschiedlich unsere Fachkollegen und -innen diese unwirkliche Wirklichkeit bereits im letzten Frühjahr zu eruieren versuchten. Du bist auch nicht erstarrt. Du hast begonnen, einen Film über Menschen mit Kameras zu drehen, über unsere Freunde und Fachkollegen.

Maryna Stepanska: Ich denke, dass das Kino als Medium zu träge und wenig dazu geeignet ist, die Realität zu verarbeiten, insbesondere eine so extreme Realität. Von Beginn des Krieges an hatte ich den unwiderstehlichen Eindruck, dass von allen Künsten das Wort, insbesondere die Poesie, dies am besten vermag. Dies ist eine Rehabilitation der Literatur und ihrer Werkzeuge. Das Kino ist nicht imstande, überzeugend von "Hier und Jetzt" zu sprechen. Selbstverständlich ist eine Reportage vom Ort des Geschehens etwas anderes. Und das Kino braucht Distanz, um durch die Gegenüberstellung von Fragmenten unterschiedlicher Realitäten eine bestimmte Vision zu schaffen. Erst durch die Synthese von sehr unterschiedlichen Elementen können bestimmte Probleme akzentuiert und richtig verstanden werden. Doch irgendwie war ich für diesen Film innerlich gereift.... Eines Tages im Frühjahr 2022 besuchte ich das Babylon (BABYLON '13 ist eine informelle Vereinigung, die Dokumentarfilme produziert) und beschloss, mit dem Regisseur Roma Luby, auf dem Balkon sitzend, ein Interview mit ihm aufzuzeichnen, ohne dabei ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Interessiert hörte ich ihm zu, als er mir erzählte, dass er bewusst aus London in die Ukraine zurückgekehrt ist, dass seine Eltern während der Besatzung in Irpin gewesen sind und dass er und sein Kameramann begonnen haben, Drohnen zu nutzen, um der Armee zu helfen, da sie die Gegend um Irpin gut kannten. Dann sagte er plötzlich: "Ich hab's satt, ich breche mit der Filmemacherei ab, ich will einen normalen, substantiellen Beruf haben. Beispielsweise Pionier." Die Aufnahme des Interviews war nicht besonders gelaufen – es gab Scherereien mit dem Ton und der Belichtung, aber hinterher hatte ich viel zum Nachdenken.     

Iryna Tsylyk: Vermutlich mussten wir alle überlegen, ob unsere Berufe normal und während des Krieges brauchbar sind.

Maryna Stepanska: Ja, in diesen Zweifeln steckt eine Menge Synchronität. Kurz nach diesem Interview rief mich die Produzentin Julia Sinkevych an: "Ich habe eine Idee – lass uns einen Film über unsere Filmemacher während des Krieges drehen". Ich dachte, es sei keine gute Idee. Alle anderen drehen Filme über Freiwillige, Gastronomen, Musiker, Hunde.... Kann es denn eine uninteressantere Figur im Film geben als einen Filmemacher? Aber dann dachte ich: Immerhin bekomme ich dafür Geld, da hat es schon Sinn, einzuwilligen.  

Iryna Tsylyk: Die pragmatische Maryna!

Maryna Stepanska: Ja, das war im März 2022. Am Horizont erschienen damals plötzlich Koproduzenten und es schien, dass es eine reelle Möglichkeit gäbe, unter diesen Bedingungen etwas zu bewerkstelligen. Aber wie das meistens so ist, lösten sich fast alle Optionen schnell in Luft auf, aber dieses Projekt blieb. Ich habe noch nicht richtig begriffen, wovon dieser Film handeln sollte, aber ich fühle mich bereits dafür verantwortlich. Ich begann, verschiedene Menschen mit meiner Kamera zu beobachten, aber es wurde mir schnell klar, dass ich Bezugspunkte für meine Geschichte festlegen muss. Selbstverständlich haben wir zu Beginn der Invasion alles sehr wahllos ohne jegliche Reflexion aufgenommen (übrigens, welche Reflexion war damals überhaupt möglich?). Aber dann haben mir die Gespräche mit meinem Freund, dem Cutter Qutaiba Barhamji, einem in Frankreich lebenden Syrer, sehr geholfen. Wir planten noch vor dem russischen Angriff ein Drehbuch für einen Spielfilm über das Assad-Regime und den Krieg in Syrien zu schreiben. Die Hauptfigur sollte ein Fotograf sein, der während des Assad-Regimes in Syrien arbeitete. Aber die Verwirklichung dieses Plans ist irgendwie hängengeblieben...   
Nachdem die Russen die Ukraine offen überfallen hatten, sprachen wir fast täglich miteinander, auch darüber, wie dieser Krieg gezeigt wird. Qutaiba sagte: "Es ist interessant, dies damit zu vergleichen, wie wir unseren Krieg in Syrien gezeigt haben, denn im Gegensatz zu euch hatten wir kein Kino. Diejenigen, die unseren Krieg filmten, waren meistens Menschen, die zum ersten Mal eine Kamera in der Hand hatten”. Qutaiba hat dann persönlich den Film 'Still Recording' gecuttet. Er wurde 2018 in Venedig  preisgekrönt. In diesem Film wird die Kamera irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes zur Waffe, da sie dazu dient, auf den Feind abzuzielen. Der Scharfschütze bittet den Kameramann: "Zoomen Sie auf die Wand dort drüben, ich weiß, dass sich dort ein Mann befindet...". Die Kamera wird gewissermaßen zur Hauptfigur dieses Films. Kurzum, dank unseren Gesprächen und den Versuchen, das alles zu verstehen, kam ich zu dem Schluss, dass ich meinen eigenen Film machen will.  


Iryna Tsylyk: Hast du schon eine Antwort auf unsere Lieblingsfrage "Worüber handelt Ihr Film" gefunden? Das ist ja die wichtigste Frage bei jedem Pitching.

Maryna Stepanska: Ich hasse Pitching und die Spielregeln, die uns die Branche vordiktiert. Es geht darum, Luft in schöner Verpackung zu verkaufen. Aber ja, ich habe begriffen, in welche Richtung ich zu gehen habe. Ich suche immer noch nach richtigen Begriffen, ich sehe das Problem in der Art und Weise, in der über unseren Krieg berichtet wird. Es gibt Tausende von Kameras – jede Person, jedes Ereignis, jedes Detail wird sowohl von Profis als auch von Amateuren gefilmt. Aber einige Dinge bleiben immer noch nicht aufgezeichnet, werden übersehen, und es sind eben diese Lücken, die mich besonders interessieren. Ähnlich wie die Frage, ob es möglich ist, die Wahrheit zu vermitteln, indem man den Krieg filmt. Meine Filmfiguren haben in der Vergangenheit meistens bestimmte Welten kreiert und verfilmt, aber in den ersten Kriegstagen ist jeder von ihnen mit diesen vergangenen Erfahrungen sehr unterschiedlich umgegangen. So weigerte sich beispielsweise die Regisseurin Alisa Kovalenko, ein Projekt zu beenden, an dem sie gerade arbeitete, und zog in den Krieg. Auch der Regisseur Oleh Sentsov zog in den Krieg, obwohl er eigentlich einen Spielfilm drehen wollte. Die Filmemacher aus der Gruppe Kino (Volodymyr Yatsenko, Serhiy Mykhalchuk, Yuriy Gruzynov) haben beschlossen, die Wahrheit über den Krieg mittels des Kinos zu zeigen und zu erzählen. Als ich mir die Filme ansah, ist mir jedoch aufgefallen, dass jeder von ihnen versucht, die Aufnahmen, in denen er selbst vor der Kamera steht, zu kontrollieren. Und gleichzeitig kann man sehen, dass sie sich ziemlich merkwürdig darin bewegen. Deswegen zeichne ich das alles weiterhin auf und versuche, diese toten Winkel (blind spots), diese Lücken zu verdeutlichen. Aber die wichtigsten Fragen werden wahrscheinlich erst beim Cutten mit Qutaiba beantwortet. Wir planen, den Film gemeinsam zu bearbeiten.

Iryna Tsylyk: Die Frage nach der "Wahrheit im Dokumentarfilm" begleitet mich schon seit langem. Ich habe wenig Erfahrung auf diesem Gebiet und viele Fragen. Ich erinnere mich, dass ich, als ich einen meiner ersten Kurzfilme für das 'Unsichtbare Bataillon' (eine Dokumentarserie über Frauen in den Reihen der ukrainischen Armee) drehte, manchmal in Tränen ausbrechen könnte, weil ich merkte, dass ich weder über filmische Werkzeuge, noch über Fähigkeiten verfügte, um die Größe der Persönlichkeit meiner Filmheldin zu zeigen. Das Wichtigste von ihr blieb also außerhalb des Bildes. Und als ich den Film 'Die Erde ist blau wie eine Apfelsine' drehte, stand ich vor anderen Herausforderungen, vor einer anderen Beziehung zur Wahrheit im Bild. Ja, es waren echte Figuren und ihr echtes Leben. Aber als wir mit der Kamera in ihr Leben eingriffen, haben wir es für immer verändert. Es ist so etwas wie ein 'Schmetterlingseffekt'. Wir als Filmemacher waren auf der Suche nach Material, aber auch unsere Figuren haben sich auf dieses Spiel eingelassen. Ich erinnere mich an den Moment, als unsere Protagonistin, eine Mutter von vielen Kindern, während der Dreharbeiten zu weinen begann. Und als wir die Kamera ausmachten, fragte sie mich: "Ist das so besser für die Aufnahme? Ist es das, worum es dir ging?" Und ich dachte, mein Gott, ich habe sie in dem Jahr Drehzeit zur Schauspielerin gemacht. Ja, diese Menschen haben nicht etwas gespielt, was für ihr tägliches Leben untypisch wäre, aber trotzdem begannen sie, viele Dinge zu tun, um der Kamera zu gefallen... Ich weiß immer noch nicht, was Wahrheit in einem Dokumentarfilm ist. Trotz allem war es meine eigene Perspektive und diese Version von Wahrheit, die mich meine Protagonisten erblicken ließen bzw. gemeinsam mit mir kreiert haben.  

Maryna Stepanska: Ich denke, dass eben so etwas geschieht, wenn man mit der Kamera in jemandes Leben tritt. Ich denke nicht, dass man sagen kann, ich sei nicht hier. Ich vertraue keinen Filmen im Sinne 'Die Fliege an der Wand', also diesen ganzen Dokumentationen, die auf der Beobachtung basieren, wo der Autor nicht da zu sein scheint und man beobachtet quasi jemandes Leben in all dessen Durcheinander. In solchen Augenblicken kann ich nicht aufhören, an diejenige Person zu denken, die irgendwo außer dem Kameraauge bleibt. Ich erinnere mich, dass ich viel mit Alissa Kovalenko über das alles gesprochen habe, als sie die 'Heimspiele' gedreht hat. Alisa gab zu, dass sie zuweilen ihre Figuren filmt und zuweilen mit ihrer Heldin  einfach auf dem Balkon sitzt und hilft ihr beispielsweise dabei, die Beerdigung ihrer Mutter zu organisieren und so Ähnliches. Mit anderen Worten, sie nimmt aktiv am Leben ihrer Figuren teil. In Wirklichkeit hat Alissa das Leben ihrer Heldin stark verändert, indem sie vor ihr eine andere Welt eröffnete. Genauso verhielt sie sich auch gegenüber den Protagonisten des Films 'Wir werden nicht verschwinden', als sie ihnen bei ihrer Evakuierung aus den besetzten Gebieten geholfen hat.
Ich denke also, es ist aufrichtiger, zu zeigen, dass ich durch mein Handeln das Leben der Menschen, zu denen ich gekommen bin, verändert habe – das ist die Wahrheit über die Entstehung von Dokumentarfilmen. Es kann nicht sein, dass man in die hermetische Welt von jemandem eindringt, dort drei Jahre lang in einer Ecke sitzt und uns dann das wahre Bild davon vermittelt. Ehrlich gesagt, brachte mich das Konzept aus der Schule von Marina Razbezhkina aus der Fassung (eine russische Regisseurin, die ihre eigene Schule für Dokumentarfilm und Theater leitet). Ich kann zwar nur auf der Grundlage eines einzigen Workshops urteilen, aber ich hatte damals das Gefühl, dass man uns bestimmte Werkzeuge und Geheimnisse für die Manipulation von Menschen als Objekte vermitteln wollte. Man macht beispielsweise kein vollständiges Interview mit jemandem, um es in einem Film zu verwenden, sondern um diese Person dazu zu bringen, dass sie sich entspannt, dass sie einem vertraut, dass sie sich selbst darstellt. Und erst dann kann diese, in der Aufnahme dargestellte Person in ihrer Authentizität gezeigt werden. Aber diese "Selbstdarstellung" ist ja auch ein wichtiger Bestandteil dieser Person.


Iryna Tsylyk: Die Frage der Verantwortung und der Beteiligung am Leben der Figuren in Dokumentarfilmen ist für mich ebenfalls sehr wichtig. Da man nicht vorhersehen kann, inwieweit sich ihr Leben verändern wird, darf man diesen Menschen am Anfang keine Zusicherungen geben. Man weiß nicht, ob der Film ihnen rote Teppiche und neue Chancen oder Übergewicht und negative Emotionen bringen wird.  Mit 'Die Erde ist blau...' hatte ich Glück: Der Film war ein Erfolg, er öffnete vor meinen Figuren so manche Tür, er brachte Preise und Geld und Reisen und all diese netten Boni ein. Aber viel wichtiger war es für mich, von den Hauptfiguren zu hören, dass sie dank meinem Film ihr Leben ein bisschen wie von der Seite gesehen und mehr Selbstvertrauen gewonnen haben. Und da gibt es noch einen weiteren ergreifenden Moment...
Als der Krieg in vollem Umfang ausbrach, halfen wir zusammen mit litauischen Filmemachern dieser ganzen Familie (mit ihren Katzen), nach Vilnius umzuziehen. Jetzt leben sie dort, die Kinder haben sich angepasst, jedoch leiden sie unter furchtbarem Heimweh. Vor kurzem haben sie mir gesagt, dass mein Film die einzige Möglichkeit für sie ist, nach Hause zurückkehren zu können. Es stellte sich heraus, dass wir eine Welt festgehalten und bewahrt haben, die nicht mehr existiert. Heute ist ihr Haus teilweise zerstört. Die Hälfte der Gebäude in Krasnohorivka, die wir 2018 gefilmt haben, gibt es heute nicht mehr. Ich muss nicht hinzufügen, dass der benachbarte Ort Marjinka dem Erdboden gleichgemacht wurde...


Maryna Stepanska: Einige der Schauplätze, wo wir im Frühjahr 2022 gefilmt haben, gibt es auch nicht mehr. Auch sind einige der Menschen, die in dem Film vorkamen, nicht mehr unter uns. Das ist wahrscheinlich etwas, womit alle Filmemacher beim Versuch, den Krieg zu filmen, konfrontiert werden. Wenn man mit Militärangehörigen arbeitet, ist es unmöglich, nicht zu überlegen, ob diese Person noch am Leben sein wird, wenn Szenen, in denen sie vorkommen, Bestandteil des Films werden...  Da gibt es noch einen schwierigen Moment. Wir haben von Anfang an mit Qutaiba über das Filmen von Leichnamen gesprochen. Er hatte den Krieg in Syrien miterlebt und Filme über andere Kriege gecuttet. Er sagte, er war davon überwältigt, wie schnell wir Ukrainer es als normal erachteten, eine Leiche im Bild zu sehen. Die ersten Aufnahmen, die nach der Befreiung der Region Kiew auftauchten, waren für jeden zugänglich, und es gab sehr viele davon. Damals haben wir versucht, eine interne Diskussion über den moralischen Aspekt solcher Fälle zu provozieren. Ich erinnere mich an eine Aufnahme – und es gab wirklich viele davon – wo der Kameramann eine Straße filmt, auf der ein Toter liegt, dann ein anderer und wieder ein anderer und die Kamera fährt weiter und konzentriert sich auf die zerbombten Häuser und so weiter. Dir wird klar, dass die Toten nichts anders als nur ein Teil des Gesamtbildes der Zerstörung sind, ebenso wie das eingestürzte Dach und der abgebrochene Baum. Und all das wurde bis heute nicht gebührend thematisiert. Später gab es weniger ähnliche Aufnahmen, weil die Menschen mit Kameras weniger Zugang zu derartigen Ereignissen hatten. Und vielleicht haben sich alle ein wenig besonnen und begannen, sich selbst zu mäßigen. 

Iryna Tsylyk: Im Drehbuch für den animierten Dokumentarfilm 'Die rote Zone', an dem ich gegenwärtig arbeite, gibt es eine Szene, in der die Figuren – mein Mann und ich – gerade mit dem Sex fertig sind, und nur einen kurzen Augenblick danach liegt die Frau nackt da und sieht sich die Nachrichten an, darunter auch Aufnahmen von Toten. Und in ihrem Gesicht zuckt kein einziger Muskel. In dem Film denke ich darüber nach, dass es in den ersten Kriegsmonaten zu viele unzensierte Filme und Bilder gab, und ich habe sie mir alle angesehen, den Schmerz der anderen gesehen, weil ich mich davon überzeugen musste, dass das alles wirklich existiert, ohne Make-up und Spezialeffekte. Es gibt jedoch Menschen, die sich dafür entschieden haben, sich solches Material nicht anzusehen. Auch das ist eine Entscheidung. Ich habe mich entschlossen, mir das anzusehen, und einige dieser Aufnahmen haben bei mir offensichtlich ein Trauma verursacht.

Maryna Stepanska: Vermutlich war es für mich weder eine Überraschung noch ein Schock, denn wir hatten mit Qutaiba bereits viele Fotografien von Toten gesehen. Der Protagonist seines Films war ein Fotograf, der Fotos von gefolterten Leichen für das syrische Archiv machte. Das war halt seine Arbeit. Und als es ihm gelang, dieses Archiv ins Ausland zu bringen, war es ein Schock für die Welt: 50 Tausend Leichen, fotografiert wie für Unterlagen – Fern- und Nahaufnahmen. Irgendwie war ich schon zu verstehen bereit, wie diese Vernichtungsmaschine funktioniert und wie sie auf Menschen mit westlicher Optik wirkt. Deshalb heißt der Film, an dem ich arbeite, auch 'It's Not a Full Picture' ('Es ist kein volles Bild'). Dieser Fotograf war davon überzeugt, dass sein Archiv zu einem unwiderlegbaren Zeugnis dafür werden würde, dass das Assad-Regime einen Völkermord an seinem eigenen Volk begeht. Er glaubte, dass der Westen, wenn er die Zehntausende von Leichen mit den drastischen Folterspuren sieht, seine Politik ändern und dem syrischen Volk zu Hilfe eilen wird. Die Echtheit der Fotos wurde bestätigt, ich habe den Bericht gelesen. Aber ich möchte das Offenkundige bestätigen:  für die westliche Welt hat das im Prinzip nichts geändert. Die Fotos sind aber letztendlich für andere Zwecke verwendet worden, sie wurden zum Hauptarchiv einer Webseite, auf der Syrer nach ihren vermissten Angehörigen suchten.  
Was mich an dieser ganzen Geschichte am meisten beeindruckte, ist ein bestimmtes Video: Irgendwie gelang es einem amerikanischen Investigativjournalisten, ein Interview mit Bashar al-Assad zu vereinbaren. Der Journalist steckte eines der erwähnten Fotos in die Tasche seiner Tweedjacke, fühlte sich "bewaffnet" und ging zu dem Interview mit Assad, welches er mit einem verbalen Pingpong begann, um seinen Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass er etwas Böses macht. Aber Assad, ein sehr charismatischer Tyrann, ist davon überzeugt, dass er im Recht sei. Er wirkt sicher und entspannt. Im Kulminationsmoment zieht der Journalist schließlich das Ass aus dem Ärmel: "Hier sind Beweise für Verbrechen, die Ihre Armee gegen Ihr eigenes Volk begangen hat". Assad sieht sich das Bild an und sagt ruhig: "It’s not a full picture”", also: "Es ist kein vollständiges Bild". Und das war der Moment, in dem mir etwas klar wurde: Kein Foto, kein Bild kann ein hundertprozentig überzeugender Beweis für die von den Verbrechern begangenen Gräueltaten sein. Und alle unsere Versuche, die Schrecken des Krieges so detailliert und überzeugend wie möglich festzuhalten, stoßen immer noch auf das Argument der anderen Seite: Das ist nicht die ganze Wahrheit.


Iryna Tsylyk: Ja, es ist schon ziemlich abwegig. Unser Krieg ist möglicherweise der am besten dokumentierte von allen möglichen – aber in der Post-Wahrheits-Ära kann selbst das deutlichste Bild jemandem als ein konstruiertes Abbild einer für die eine oder andere Seite günstigen Realität erscheinen. Dem westlichen Betrachter gibt das keine Ruhe, er hat immer Zweifel, da zwangsläufig etwas außerhalb des Bildes bleibt. Erwähnenswert ist jedoch der Dokumentarfilm '20 Tage in Mariupol' von Mstyslav Chernov. Obwohl ich nicht mit allen seinen künstlerischen Entscheidungen einverstanden bin, handelt es sich um eine außergewöhnliche Dokumentation. Konkretes Material – zunächst die Fotos von Evgeniy Maloletka, dann der Film von Mstyslav Chernov – hat einige der Entscheidungen unserer Verbündeten beschleunigt.

Maryna Stepanska: Mstyslavs Idee war sehr zweckvoll – er wollte in dem Film zeigen, wie sich seine Bilder in ihre Botschaft in der Welt einfügen, wie sie von den Menschen im Westen kommentiert werden. Ich hatte damals den Eindruck, dass diese Aufnahmen das Zünglein an der Waage der Emotionen zu unseren Gunsten ausschlagen ließen. Und es muss hinzugefügt werden, dass dies die einzigen derartigen Aufnahmen aus Mariupol zu dieser Zeit waren...  

Iryna Tsylyk: Und ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, dass die Aufnahmen von Maloletka, als sie in den Nachrichten auftauchten, die Wirkung einer einschlagenden Bombe hatten. Bilder der zerstörten Entbindungsklinik in Mariupol, der toten Babys und der Verzweiflung der Eltern. Soweit ich mich erinnern kann, haben diese schrecklichen Bilder sehr bei den Bemühungen um militärische Hilfe für die Ukraine geholfen. Dokumentarfilme sind für uns zuweilen ein Instrumentarium, mit welchem wir die Realität beeinflussen können, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Zum ersten Mal habe ich das bei 'Das unsichtbare Bataillon' erlebt, als es uns gelang, eine ernsthafte Diskussion einzuleiten, was zur Folge hatte, dass schließlich die Liste der für Frauen verfügbaren Stellen in der Armee bedeutend erweitert wurde. Im Gegensatz zum herkömmlichen künstlerischen Ausdruck und zu den Samen, die lange brauchen, um in den Köpfen der Öffentlichkeit zu keimen, waren dies konkrete Tomaten, die schnell geerntet werden konnten.

Maryna Stepanska: Es stimmt, der Einfluss auf die  Öffentlichkeit ist wichtig. Es tut mir jedoch weh, dass dies inzwischen Teil unserer Branche geworden ist. Als Autorin bist du ja bereits verpflichtet, konkrete Früchte deiner Arbeit zu vorzuweisen. Man muss sogar bereits in der Entwicklungsphase des Projekts unwiderlegbar beweisen, dass man das Geld anderer nicht für eine künstlerische Aussage ausgibt, sondern dass man mit seinem Film etwas Wichtiges bewirken wird.

Iryna Tsylyk: Ich ärgere mich auch irgendwie darüber, dass wir alle zu Geiseln des Themas Krieg geworden sind. Es ist selbstverständlich, dass es uns noch lange Zeit begleiten wird. Aber als ich kürzlich deinen Eintrag über den "Friedhof" der Ideen ukrainischer Filmemacher für verschiedene Filme auf Facebook las, die nicht den aktuellen Bedürfnissen gerecht werden, war ich sehr betrübt. Vielleicht werden diese Filme niemals entstehen. Das ukrainische Dokumentarkino ist immer noch in recht guter Verfassung, aber mit den Spielfilmen sieht es schon anders aus, da herrscht immer mehr Dürre. Und, weißt du, so sehr mich die physische Schwäche des menschlichen Körpers erschreckt, so sehr überwältigt mich der Gedanke, dass nun auch der ukrainische Spielfilm gelähmt werden könnte. Ich erinnere mich immer noch daran, dass unsere Hochschullehrer während unseres Studiums seit vielen Jahren nichts mit der normalen Praxis zu tun hatten. Der Gedanke, dass ihr Schicksal auch auf uns zutreffen könnte, ist für mich unerträglich.

Maryna Stepanska: Da bin ich optimistischer. Wir haben in einer Zeit studiert, wo das ukrainische Kino als Industrie nicht mehr und gleichzeitig noch nicht existierte. Erinnerst du dich an die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts, an diese unbeholfenen, aber aufrichtigen Versuche, etwas zu tun, und alle drehten damals auf Filmbändern. Und diese Zeit wurde tatsächlich zu einer wichtigen Brücke zwischen der Stagnation der 1990er Jahre und dem späteren Boom der neuen Welle des ukrainischen Kinos. Ich bin sicher, dass unsere hohe Widerstandsfähigkeit gegenüber all diese Schwankungen uns überleben und die Wirklichkeit bezähmen lässt.  Neue Möglichkeiten werden auftauchen und die Menschen werden sich, ähnlich wie Ameisen, schnell zusammenfinden und etwas tun, das für die neuen Zeiten, die neuen Technologien und die neuen Herausforderungen relevant ist. Obwohl einige von uns selbstverständlich aus diesem rasenden Zug fallen werden... Ich denke, dass wir, du und ich einen zusätzlichen Anstoß haben – wir sind schon um die 40, wir müssen schnell etwas Wichtiges tun, unser goldenes Zeitalter ist jetzt. Die Wahrheit ist die, dass in der Ukraine die produktive Zeit im beruflichen Werdegang etwas kürzer ausfällt als in anderen europäischen Ländern. Wir können schon jetzt beobachten, dass unsere älteren Kollegen, die Generation der 60-Jährigen, sich in diesem System nur schwer zurechtfinden. Und da wird es einem bewusst, dass ihm nur noch 10 aktive Jahre geblieben sind...   

Iryna Tsylyk: Mein Gott, Maryna, das klingt ja fürchterlich!

Maryna Stepanska: Ja, und die meisten dieser Jahre fallen auf den Krieg. Seien wir doch ehrlich, wir haben uns lange eingeredet, dass sich diese abnormale Situation bald ändern würde, dass sich alles irgendwie stabilisieren wird. Aber in Wirklichkeit sieht unsere Realität jetzt eben so aus. Und dies ist die aktivste Zeit unseres Lebens.  Es sieht so aus, dass wir große Angst davor haben, diese Wahrheit zu akzeptieren. Man sieht sein Leben in einen bestimmten Rahmen eingepfercht, man sieht, dass die Möglichkeiten schrumpfen und dass man sich in diesem engen Raum bewegen muss. Gleichzeitig ist man sich dessen bewusst, was im Land passiert, wie sich die Realität polarisiert und wie sich das auf das Privatleben auswirkt. Und in Anbetracht dessen sind meine europäischen Freunde, die auf die Vierzig zugehen, anders: Sie müssen sich weder einem solchen psychischen Problem, noch einem so hohen Druck gegenüberstellen.

Iryna Tsylyk: Dieses Gespräch hat mich bedrückt. Unsere goldene Zeit sei angeblich jetzt. Aber gleichzeitig fühle ich mich wie eine im Bernstein eingeschlossene Fliege – meine Füße stecken fest, ich habe keine Kraft, mich zu bewegen. Und unter anderem ist es das, was ich dem Krieg vorhalte – dass er neben all dem anderen auch unsere Jugend verschlingt. Kürzlich habe ich ausgerechnet, dass mein Mann in den gemeinsamen 17 Jahren, drei Jahre bei der Armee war, also haben wir drei gemeinsame Jahre eingebüßt.

Maryna Stepanska: Der Krieg verschlingt Menschen aus jeder Generation. Und was ist mit denjenigen, für die es ihre letzten Lebensjahre sind? Oder andersrum: Jahre, in denen so wichtige Entscheidungen getroffen werden, wie "Wo will ich studieren?". All diese Kinder, die in andere Länder verfrachtet wurden.... Einige von ihnen sagen zwar zu ihren Eltern: "Sobald ich 18 werde, gehe ich zurück in die Ukraine! Es ist mit egal, dass es euch um mein Wohl geht". Alle diese Lebensentscheidungen, alle diese Einsätze sind sehr hoch und zuweilen sogar tragisch. Der Krieg trifft jeden, er nimmt jedem etwas weg. Wir müssen uns dessen endlich bewusst werden und in diesem neuen Kontext zu handeln beginnen.

Iryna Tsylyk: Mich frustriert zusätzlich auch noch das, dass in unserem Beruf langfristig geplant werden muss. Wir müssen unsere Projekte aus einer langfristigen Perspektive betrachten, es ist ein Langstreckenlauf. 

Maryna Stepanska: Es ist ähnlich, wie bei den olympischen Kampagnen, der Plan wir für vier Jahre festgelegt.

Iryna Tsylyk: Ja, mein nächstes Projekt 'Die rote Zone' ist ein Plan für vier Jahre. Die Erstellung eines abendfüllenden Animationsfilms dauert mindestens vier bis fünf Jahre. In meinem Drehbuch schreibe ich über konkrete Menschen, die echte Prototypen haben. Ich schreibe und denke: Ich habe keine Ahnung, was mit uns in vier Jahren geschehen wird. Werden unsere Familien an dieser ständigen Spannung zerbrechen, werden wir da überhaupt noch leben? Auch ohne Krieg lässt sich nicht alles vorhersehen. Aber die Unfähigkeit, wenigstens drei Schritte vorauszusehen, ist sehr aufreibend. Das Gefühl, das Fell eines noch lebenden Bären beim Pitching geschickt verkaufen zu müssen und sich gleichzeitig die Frage zu stellen, wie man bei Sinnen bleibt, ist recht schizophren. Ähnlich war es mit diesem Drehbuch... Die erste Fassung war bereits fertig. Und dann ist mein Mann im Mai in Bachmut fast gestorben, und ich dachte fünf Tage lang, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Das hat alles verändert, vor allem meine Wahrnehmungsweise der Welt. Ich habe das Drehbuch selbstverständlich nach diesem Erlebnis radikal umgeschrieben. Mit einem Wort, wir sind alle in einem Prozess involviert, wir werden vom Strom der Ereignisse mitgerissen, wir wissen nicht, was morgen passieren wird...  
Kürzlich habe ich angefangen, die Kriegsgedichte von Apollinaire, den ich sehr mag, erneut zu lesen. Diesmal haben mich seine Überlegungen über die Zukunft am meisten bewegt. Es sind die Worte eines Dichters, der Soldat gewesen ist und, wie wir heute wissen, schwer verwundet wurde. Man hat ihn einer Schädeltrepanation unterzogen, danach hat er sich nie von seinen Verletzungen erholt und verstarb im Alter von 38 Jahren.  Apollinaire schreibt also darüber, wie er und seine Kameraden in der Zeitlosigkeit schweben. Sie schreiben Briefe, warten auf Befehle, trinken Champagner. Alles hat sich verändert. Hier ist ein Priester, dem ein Helm aufgesetzt wurde, dort ein Winzer, der Schütze geworden ist. Und jetzt schlürfen sie die Bläschen und wissen nicht, wer vom Schlachtfeld zurückkehren wird und wer nicht. In dem Gedicht "Die Zukunft" gibt es zwei Zeilen, die mich einfach umgeworfen haben: "Wir schauen auf die Biene und denken nicht an die Zukunft...".  


Maryna Stepanska: Gut, dass du dieses merkwürdige Wort "Zukunft" erwähnt hast... Weißt du, ich habe diese Zeitform im Englischen – future in the past – nie verstanden – Zukunft in der Vergangenheit. Was bedeutet 'Zukunft in der Vergangenheit'? Dieses Paradoxon übermannt mich regelrecht die ganze Zeit. Neulich war ich auf der Architekturbiennale in Venedig. Ich hatte keine Lust, mir Filme anzusehen, also habe ich mir all die majestätischen Pavillons in den Giardini-Gärten angesehen. Das Thema dieser Architekturbiennale lautete "Labor der Zukunft" – Architekten aus verschiedenen Ländern stellten sich die Zukunft vor und das, wie wir alle danach streben sollten. Es war alles sehr suggestiv: der Raum, die Texturen, die Gerüche. Und in dem Teil der Ausstellung, wo nationale Pavillons präsentiert wurden, beschloss ich, ein Spiel zu spielen – ich versuchte, ohne auf die Namen der Pavillons zu schauen, zu erraten, welches Land im jeweiligen Pavillon vorgestellt wurde.  Manchmal war es einfach, das Land anhand der dort herrschenden Atmosphäre zu erahnen. Aber nicht immer. Die Belgier zum Beispiel hatten eine Wand aus Ziegelsteinen aus Pilzmyzel gebaut, was darauf hindeutete, dass der Anbau von Pilzen das Material der Zukunft werden würde. Und dann betrat ich den französischen Pavillon und sah eine riesige, in zwei Hälften gespaltene Discokugel. Du gehst hinein und liest die Beschreibung dieser Installation. Und da stand: In diesem Jahr haben wir beschlossen, das ball-theatre  als eine Art disco ball zu präsentieren, aber auch als Prototyp eines Theaters, wo Tanz und Bälle stattfinden, weil wir der Meinung sind, dass die Kultur unserer Zeit eine partying culture, also die Kultur der Unterhaltung ist. In Rahmen dieser Kultur sind wir daran gewöhnt, alles in Unterhaltung zu verwandeln, sogar die Krise, und das wird zum zentralen Charakteristikum unserer Gesellschaft. Wir sehen auch, dass es in dieser Gesellschaft zwei gegenteilige Tendenzen gibt: Hoffnung (hope) und Nostalgie. Es stellt sich also heraus, dass die Zukunft so sehr in der Vergangenheit verankert ist, dass alles zu einem endlosen Recycling von Nostalgie wird. Und das hat mich wirklich angesprochen, ich glaube, dass die einzige Zukunftsvision, die wir uns derzeit leisten können, dieses Recycling von Nostalgie ist. Und Gott bewahre uns davor, darin zu ertrinken. Vielleicht ist es das, was die Ukraine von anderen Ländern unterscheidet: Wir sind derzeit nicht imstande, uns unsere Zukunft vorzustellen. Sie existiert für uns noch nicht als Begriff. Es gibt nur das Hier und Jetzt.  

Iryna Tsylyk: Übrigens gibt es ein Gedicht des bereits erwähnten Apollinaire, das mit der folgenden Vision beginnt: Zwei Flugzeuge fliegen über Paris – rot und schwarz, Jugend und Zukunft. Und selbstverständlich greift die Zukunft des Dichters dessen Vergangenheit an.... Man weiß nicht recht, wie man mit all dem umzugehen hat.

Maryna Stepanska: Mein Vorschlag: endlich zu Abend zu essen und etwas Wein nachzuschenken. 

Iryna Tsylyk: Das ist eine prima Idee. Und auf die Biene zu schauen. 
 

Der Text erschien ursprünglich im ukrainischen Teil der Kulturzeitschrift "Dwutygodnik" im Rahmen eines von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit unterstützten Projekts.
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Herausgegeben mit finanzieller Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.
Der ukrainische Teil entsteht ebenfalls durch finanzielle Unterstützung des Juliusz-Mieroszewski-Dialogzentrums.
Dieser Artikel ist Teil der Reihe UKRAINE/УКРАЇНА.

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