Biographie
Krabat zieht in den Krieg

Otfried Preußler
© Goethe-Institut/dpa

Jeder kennt seine Kinderbuchklassiker, kaum jemand kannte Otfried Preußler – die meiste Zeit kannte er sich nicht einmal selbst. Jetzt zeigen Archivfunde einen Mann, der lebenslang mit dem Trauma von Front und Gefangenschaft rang.
 

Von Wieland Freund

Es ist das Jahr 1959, und rund um Weihnachten, ohnehin ein empfindliches Fest, geschieht etwas Merkwürdiges. Otfried Preußlers Produktion gerät ins Stocken. Das ist noch nie vorgekommen. Nach zwei Jahren im Krieg und fünf im Kriegsgefangenenlager in der russischen Steppe hat er seit 1949 gelebt, als ließe sich die verlorene Zeit aufholen. Preußler hat seine heimatvertriebene Braut, „die Annelies“, wiedergefunden, er hat seine verlorene böhmische Heimat schweren Herzens durch eine bayerische ersetzt, in Windeseile eine Lehrerausbildung durchlaufen, Kinder bekommen, ein Haus gebaut und die ganze Zeit wie besessen geschrieben: Zeitungsartikel, Erzählungen, Theaterstücke und dann ein Kinderbuch nach dem andern. 1956 ist Der kleine Wassermann erschienen, der ihn mit 33 Jahren quasi zum Klassiker macht, ein Jahr später Die kleine Hexe.

Doch plötzlich ist damit Schluss. Der so korrekte Herr Preußler wird unzuverlässig. Krabat nennt er das Buch, das er sich 1959 vorgenommen hat; in völliger Verkennung dessen, was da vor ihm liegt, spricht er von einem „sehr bunten Stoff“, fertig vermutlich bis Jahresende, woran der Verlegerin sehr gelegen ist. Sie plant die Sagengeschichte vom sorbischen Zauberer für Herbst 1960 ein, „das Manuskript bis 15. Januar spätestens“.

Es kommt ganz anders. Preußler steckt schon im Januar auf; Weihnachten 1960 steht es noch schlimmer um ihn und den Krabat. An den Verlag schreibt diesmal seine Frau: „Mein Mann“, richtet sie aus, „darf bis auf Weiteres weder lesen noch schreiben, wir hoffen aber sehr, dass sich die Geschichte mit seinem Auge wieder ganz beheben lässt.“ Was aber ist das für eine „Geschichte mit seinem Auge“, die, ohne dass es die Ärzte ganz erklären könnten, für ein halbes Jahr eine Augenklappe notwendig macht?

Sein Held Krabat – kein Zauberer mehr, sondern ein Zauberlehrling – ist in der Geschichte mittlerweile einem schwarzen Magier verfallen. Im fertigen Buch – aber das ist lang hin – wird dieser Verführer nur „der Meister“ heißen, ungerührt das Leben seiner Gesellen opfern und in seiner schwarzen Mühle Knochen mahlen. „Ein schwarzes Pflaster“, schreibt Preußler, „bedeckte sein linkes Auge.“ Und sogleich beginnt im Buch auch Krabats eigenes Auge zu jucken, zu tränen, „das Bild … verwischte sich“. Das Gleiche gilt für Realität und Fiktion; beinahe unwissentlich hat Otfried Preußler begonnen, vom Krieg zu erzählen.

Es ist seltsam. Kaum ein anderer deutscher Schriftsteller hat mit größerem Erfolg für Kinder und Jugendliche geschrieben, über Otfried Preußlers eigene Kindheit und Jugend aber wusste man lange fast nichts – auch weil vieles dieser Erzählung im Weg stand. Da war Preußlers Vertriebenenschicksal, von dem man in der sich konsolidierenden Bundesrepublik bald nichts mehr hören wollte; da war die Preußler eigene Zurückhaltung; da war die Zeit als Soldat, die zu seinen berühmten Kasperlgeschichten im Hotzenplotz nicht passen wollte; und da war, spätestens seit sein wohl schon mit 18 Jahren geschriebener Jugendbuch-Erstling Erntelager Geyer wiederaufgetaucht war, auch der Verdacht, Preußler könne – wie Günter Grass und so viele andere seiner Generation – in jungen Jahren ein Nazi gewesen sein.

Tatsächlich war ihm, wie sich jetzt Carsten Gansels eben erschienener Biografie von Preußlers frühen Jahren entnehmen lässt, die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie fremd, und auch der jüdische Freund aus Reichenberg, rechtzeitig nach England entkommen, behält ihn in bester Erinnerung. Sehr wohl aber wollten die sudetendeutschen Preußlers lieber in Hitlerdeutschland als in der Tschechoslowakischen Republik leben, in der sie sich als Teil der deutschsprachigen Minderheit unterrepräsentiert fühlten. Und also zog Otfried Preußler mit 17 Jahren freiwillig in Deutschlands furchtbaren Krieg. Das Entsetzen darüber, so entschieden zu haben, und das Gefühl der Schuld – darunter auch die Schuld des Überlebens – haben ihn sein Leben lang nicht losgelassen. Noch seine fröhlichen Bücher sind Elegien auf die böhmische Heimat, die er durch den Krieg verloren hat; Krabat aber wird sein Buch über den deutschen – und den eigenen – Zivilisationsverlust.

Doch wie Carsten Gansel in seiner Preußler-Biografie nun dokumentieren kann, war der Krabat nur der Anfang. Wenigstens zwei weitere Male hat Otfried Preußler versucht, mit seiner Kriegsgeschichte fertigzuwerden. Zunächst aber ist der Autor des Hotzenplotz ein schwer traumatisierter Mann, in dessen Psyche es einen Keller gibt wie unter dem Schloss eines anderen bösen Zauberers namens Zwackelmann: „Eintritt allerstrengstens verboten!!!“ Es dürfte auch kein Zufall sein, dass man im Hotzenplotz (1962) ständig gefesselt und eingesperrt wird.

Carsten Gansel, Literaturwissenschaftler in Gießen, hat die verblassenden Spuren von Preußlers frühen Jahren zuerst im Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau entdeckt, wo er durch einen reinen Zufall auf die Kriegsgefangenenakte eines gewissen Gottfried Preußlers gestoßen ist. Er kann auch Preußlers Zeit im Silikatlager Kasan rekonstruieren, wo der kriegsgefangene Wehrmachtsleutnant eine Theatergruppe gründet, der er auch gleich die Bühnenstücke schreibt. Das Interessanteste dürfte ein Bergsteigerdrama sein, das, der eigenen Gegenwart weit enthoben, den „Führerkult“ problematisiert. Statt Gipfelsturm steht hier Kapitulation auf dem Programm: „Dazu“, so steht es im Text, gehöre manchmal mehr „Mut … als zum Weiterkämpfen“. Otfried Preußler, der die Ausbildung zum Offizier mit Sonderlob durchlief, ist an der sogenannten bessarabischen Front Kompanieführer gewesen. Im Spätsommer 1944 gerät er dort, im heutigen Moldau, in Gefangenschaft. Anders als vom kommandierenden Generalleutnant erwartet, hat der Zwanzigjährige die letzte Patrone nicht für sich selber reserviert. „Die Pistole, mit der ich mich hätte verteidigen und erschießen müssen“, schreibt Preußler ein halbes Jahrhundert später, „entfiel mir. Mag sein, nicht ganz zufällig.“

Das Manuskript, aus dem diese Passage stammt, hat Preußler Verlorene Jahre? genannt – und zumindest Preußler-Kennern und -Forschern war seine Existenz bekannt. Frank Schirrmacher, in den Neunzigerjahren Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat es unbedingt veröffentlichen wollen, doch Otfried Preußler hat es weder beendet noch herausgerückt. Carsten Gansel kann nun breit daraus zitieren, die Familie Preußler hat ihm aber noch ein zweites Konvolut zur Verfügung gestellt, von dem kaum jemand wusste und dessen Lektüre durchaus verstörend ist. Bessarabischer Sommer heißt dieser nach dem 1971 endlich erschienenen Krabat zweite Versuch Preußlers, vom Krieg zu erzählen. Unternommen hat er ihn in den Achtzigerjahren als „Fragment eines Romans“.

Doch der Versuch scheitert kläglich, Bessarabischer Sommer liest sich streckenweise wie ein Landserroman, in dem der Feind „der Iwan“, das MG „die Spritze“, der Feldarzt „Medizinmann“, der Vorgesetzte „Old Shatterhand“, der Krieg aber immerhin „der Scheißkrieg“ heißt. Preußler hat sich hinter einem fiktiven Alter Ego namens Trenkler verschanzt und die eigene Verhärtung gar nicht überwunden. Das Trauma, das er im Krabat hat produktiv machen können, hält er sich hier mit oft befremdlichen Mitteln vom Leib. „Nun folgt eine kurze Szene, die einem Trickfilm zur Ehre gereicht hätte“, steht da etwa in der Schilderung eines Rückzugs unter Beschuss. „Eben noch hatte er (Trenkler) ihn deutlich gesehen, den Korporal – und im nächsten Moment ist er plötzlich weg. (…) Es muss ihn vor Trenklers Augen in tausend Stücke zerrissen haben.“ Später weiß Preußler, was ihm beim Schreiben von Bessarabischer Sommer widerfahren ist: Die „großen, die hehren Worte“ gingen „angesichts der Bedrohung durch Tod und Verstümmelung“ nicht „von der Lippe“: „Da suchten wir Zuflucht bei schnodderigen Redensarten. Es sei, so versichern mir russische Altersgenossen, bei ihnen drüben nicht anders gewesen.“

Man wird den Eindruck nicht los: Preußler hat mit Beginn der Gefangenschaft nach einer Sprache für die Kriegserfahrung gesucht: In einem Bergsteigerdrama, in der Krabat-Sage aus dem Umfeld des Dreißigjährigen Kriegs, in einem kaum reflektierten Kriegsroman und dann, mit über 70 Jahren, in einer Autobiografie, in der Preußler nicht mehr Trenkler heißt, sondern endlich „ich“. Nun fehlt nur noch ein letzter Schritt: Otfried Preußler muss dieses „Ich“ auch noch veröffentlichen. Bis dahin aber dauert es bis 2010, der Krieg liegt weit über 60 Jahre zurück, und der denkbar kurze Text, Haltet mir einen Platz frei in eurer Nähe überschrieben, steht am Ende einer Reihe ganz verschiedener Erinnerungen, an die Kindheit und das eigene Schreiben für Kinder.

„Sie aber meine toten Freunde“, steht darin. „Jahrzehntelang haben sie sich im Schatten gehalten, schemenhaft, eine stumme, ungegliederte Masse im Nebel ferner Erinnerung: Wann sie begonnen haben, daraus hervorzutreten? Ich weiß es nicht, nicht mit Bestimmtheit. Vor ein paar Jahren muss das geschehen sein, als ich so um die sechzig war. Und es ist nicht von einem Tag auf den andern geschehen. Allmählich hat sich der Nebel gelichtet, allmählich nahmen sie wieder Gestalt an … Und nun sind sie also wieder da.“

Vom Krabat übrigens heißt es im selben Band, dass er „meine“, Preußlers, Geschichte erzählt und „die Geschichte aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken“. Und doch, fügt Preußler an: „Vieles von dem, was ich sehe und erlebe, wovon ich erzähle, bleibt mir im Grunde genommen selbst ein Rätsel. Ein Rätsel, das ich mit dem Verstand nicht lösen kann.“ Als er den Krabat 1970 mit zehn Jahren Verspätung beendet, sucht ihn eine unerklärliche Venenentzündung heim.

Welt am Sonntag, Nr. 19, 08.05.2022, Seite 43

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