Dana von Suffrin „Otto“
© Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2021
S. 7-11
1
Die eurasische Steppe im Frühling
Mein zweiter Mann hieß Tann, und er kam aus einer Region, die Gäuboden hieß, und ich verstand, als wir uns das erste Mal im Krankenhausflur unterhielten, Goj-Boden und sagte, sehr gut, du kommst aus der fruchtbaren Erde, die einen Goj nach dem anderen hervorbringt, und ich komme aus Otto.
Ich kann mich noch genau erinnern, wie Tann mich damals anschaute. Er sah mir direkt in die Augen, und während ich überlegte, welche Augenfarbe er hatte, grün oder blau?, schaute er plötzlich wieder weg, vielleicht auf meine Nase oder auf das mit transparenter Plastikfolie überzogene Krankenhausbett. Er strich sich seine Haare zurück, seine Hand blieb am Hinterkopf stecken, und nun sah er aus wie jemand, der nach einer langen Zeit des gewaltsamen Nachdenkens der Lösung eines Problems ganz nah war, und ich wusste, dass er den seltsamen Satz verstanden hatte.
Tann besuchte jeden Samstag eine kleine alte Frau, die wie eine verpuppte Honigbiene in einem schäbigen Viererzimmer lag und auf ihre letzte Metamorphose wartete, und ich besuchte Otto, dessen Augen meist geschlossen waren und dessen Gesicht im Wachkoma einen vorwurfsvollen Ausdruck angenommen hatte, so als würde er dem lieben Gott zürnen (oder uns Töchtern: Hat man so etwas schon gesehen? Rabentöchter!). Ab und zu traten wir dann aus den Zimmern, trafen uns in der Mitte des Flurs, der gesetzlich Versicherte von den Privatpatienten, wie meinem Vater, trennte, und dann tranken Tann und ich zwei oder drei Tassen Kaffee in der Cafeteria, ohne wach zu werden. Aber Tann war auch ohne Kaffee fahrig; genau genommen, das merkte ich in den Wochen danach, war er abwechselnd aufgebracht und melancholisch und oft beides gleichzeitig, vor allem, wenn ich ihm von meiner Familie erzählte.
Schon bald, nachdem wir uns zwischen Schwesternzimmer und Lastenaufzug kennengelernt hatten, kam Tann mich öfter zu Hause besuchen, und wir gingen in eines der tristen dunklen Cafés, die es in der Nähe gab, oder wir liefen ein Stück an der Isar entlang, und wenn wir zurück in meine Wohnung kamen, setzten wir uns aufs Bett und warteten, auf wen von uns beiden die Katze sich zuerst legen würde. Tann sagte, sein Lieblingsgeräusch sei das Wrrau, das der Körper der Katze machte, genau in dem Moment, in dem ihre Pfoten auf dem Boden aufkamen. Die ersten paar Male hatte Tann geniest, und seine Augen waren rot und noch kleiner geworden, nachdem er sie gestreichelt hatte, aber erst gewöhnte sich sein Körper an die Katze, dann gewann er sie lieb, und nach ein paar Wochen bat er mich um meinen Wohnungsschlüssel, um die Katze füttern zu können, wenn ich nicht zu Hause war. Dein Kühlschrank ist noch leerer als der Blick deines Vaters, Timna, hatte er sich bald beschwert. Das geht so nicht, du musst was essen, wenn du vom Krankenhaus nach Hause kommst. Am Abend darauf fand ich nach meiner Rückkehr Butter und Gemüse darin.
*
Vielleicht war es Tann in mancher Hinsicht besser ergangen als Babi und mir, weil sein Vater schon tot war. Unser Vater aber lebte noch. Manche betrachteten es als Wunder, dass Otto noch unter uns weilte, oder wie man das nennen mochte. Mal entfernte er sich ein Stück von diesem lebenden Zustand, dann erinnerte er sich an das, was ihn am Leben hielt: Er schlich sich wieder an, an das Leben, und an mich schlich er sich an; dann floss das Wasser tatsächlich aus seinen Lungen, dann begann er plötzlich zu schlucken und selbst zu atmen, es war wie in diesen Fernsehdokumentationen über die eurasische Steppe: Der lange Winter hört auf, der Schnee, der sich taub und dämpfend über die Mandschurei und die Puszta gelegt hat, schmilzt zusammen, und im Zeitraffer stößt sich ein junger Spross durch die Erde, er beschließt, Knospe zu werden, ein Orchester spielt Vivaldi, und die Knospe öffnet sich und ist ganz glänzend und prächtig, und man denkt daran, wie schön das Leben ist und wie kraftvoll die Natur, und andere törichte Sätze, die die britische Stimme aus dem Off einem einflüstert; selbst ganz benommen vom Geschehen.
Der Unterschied war: Mein Vater blühte so oft wieder auf, dass die Arzte den Kopf schüttelten und aussahen wie verdorrende Sonnenblumen im frühen Herbstwind und sagten, Mensch, euer Vati ist echt zäh, gell?
Ich bekam jeden einzelnen Zyklus von Vergehen und Wiederauferstehen mit. Unser Vater ist wie Jesus Christus, Herr Pfarrer, doch kontinuierlich, sagten wir dem katholischen Krankenhausseelsorger, der uns ansprach, nachdem er uns schon dreimal in die kleine Kammer hatte gehen sehen, in die wir verschwanden, um unsere Hände vor der Intensivstation zu desinfizieren und diese knisternden grünen Schürzen anzuziehen. Er lachte und fragte, ob wir Zwillinge seien, worauf Babi rief: Ich bin zwar viel großer, aber im Hirn ganz klein!, und da wurde der Seelsorger ein bisschen ernst und sagte, dass Humor ein guter Weg sei, mit den Geschehnissen umzugehen, und dass er uns alles Gute wünsche. (Geschehnisse, sagte der Herr Pfarrer dazu; meine schwere ungerechte Krankheit!, rief mein Vater; ich dachte: Endet unsere Geschichte hier? Ich dachte an die dicken Bände, die in Ottos Bücherregal standen und die alle irgendwas mit untergegangene Welt oder verlorene Kultur hießen, und an die vielen Sachen, die mir Otto jetzt vielleicht nie von sich würde erzählen können.)
Bei einem meiner nachmittäglichen Besuche wachte Otto, nachdem er zwei Wochen lang im Koma gelegen hatte, auf und schaute mich mit seinen großen braunen Augen, die ein bisschen nach Schilddrüsenüberfunktion aussahen, an und lächelte. Ich war seine Lieblingstochter, mich beleidigte er nur selten, während er meine Schwester häufig nur mit Arschloch ansprach. Timna, wie ist dein neues Leben, fragte er mich plötzlich, und ich lachte und sagte, Otto, welches neues Leben? Alles ist wie immer.
Man soll nicht anlügen seinen Vater!, antwortete Otto, und auch er lachte. Dabei war das, was ich gesagt hatte, gar nicht gelogen, denn mein Leben war zum größten Teil wirklich wie immer, nur der Teil mit Tann war neu.