Der künstlerische Tanz entwickelt sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt zu einer eigenständigen Sparte. Die Ausprägung als sogenannter Ausdruckstanz ist dabei ein spezifisch deutscher Beitrag zur Moderne.
Anfangs eher esoterisch und auf einen engeren Kreis von Initiierten beschränkt, entwickelt sich der Ausdruckstanz in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen zu einer ungemein populären künstlerischen Praxis, die begleitet wird von einer breiten Laientanz-Bewegung. Der Höhepunkt sind die Beiträge mehrere prominenter Künstlerpersönlichkeiten wie Rudolf von Laban, Gret Palucca oder Mary Wigman im Rahmenprogramm der Olympischen Spiele von 1936 in Berlin. Als einzige moderne Kunstsparte sieht sich der Ausdruckstanz nicht der Verfolgung durch die nationalsozialistische Kulturpolitik ausgesetzt. Gleichwohl werden viele Künstler*innen aufgrund politischer oder rassistischer Verfolgung an ihrer Arbeit gehindert.
Nach 1945 geraten die künstlerischen Errungenschaften weitgehend in Vergessenheit und werden wie in den Anfangsjahren nur in engen Zirkeln weitergegeben. Erst mit der Etablierung des Tanztheaters seit den 1970er-Jahren und nach 2000 durch gezielte Maßnahmen der Kulturstiftung des Bundes findet diese Form des künstlerischen Tanzes wieder eine breite Aufmerksamkeit.
Kleine Biographie des Ausdruckstanzes
1910: Gründung der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze für Rhythmische Gymnastik in Hellerau
1913 bis 1918: Sommerschule des Choreographen Rudolf von Laban in der Künstlerkolonie Monte Verità
1925/27: Gründung der Abteilung Tanz an der Folkwangschule Essen unter der Leitung von Rudolf von Laban und Kurt Jooss
1928: Gründung des Folkwang-Tanztheater-Studios
1932: Internationaler choreographischer Wettbewerb in Paris, 1. Preis für Kurt Jooss’ Arbeit
Der Grüne Tisch, letzte Aufführung von Oskar Schlemmers
Das Triadische Ballett
1935/36: Vorbereitungen zu einem großen choreographischen Weihespiel mit dem Titel
Vom Tauwind und der neuen Freude im Rahmenprogramm der
Spiele der XI. Olympiade von 1936 in Berlin. Es werden ca. 10.000 Laientänzer aus allen Teilen des Deutschen Reiches beteiligt, die am pädagogischen Imperium der Laban-Schulen unterrichtet worden sind. Der Ausdruckstanz bleibt die einzige moderne Kunstform, die im Nationalsozialismus nicht als entartet verfemt wird.
1967: Die neben Rudolf von Laban einflussreichste Tänzerin und Choreographin der Ausdruckstanz-Bewegung Mary Wigman stellt ihre Unterrichtstätigkeit ein.
1972: Pina Bausch übernimmt in Wuppertal die Leitung der Tanzsparte an den Städtischen Bühnen und benennt sie um in „Tanztheater Wuppertal“. Damit erweist sie der Tanzkultur der Zwanzigerjahre eine Reverenz, löst sich aber gleichzeitig von deren düsterem ästhetischem Paradigma.
Das Erbe des Ausdruckstanzes wird erst in den Jahren nach 2000 wieder auf breiter Front entdeckt, erforscht, belebt, rekonstruiert, dokumentiert und gewürdigt, insbesondere im Rahmen des Initiativprojekts der Kulturstiftung des Bundes „Tanzplan Deutschland“
(2006 bis 2011) sowie des Förderprogramms „Tanzfonds Erbe“ (2011 bis 2017).
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