Das Elitäre in den Künsten | Bildende Kunst
Dada: Jenseits des Populären und des Elitären

01Key Visual Eliten
Igor Miske © Unsplash

Die unter dem Begriff „Dada“ bekannt gewordenen Künstler, Dichter, Performer und Provokateure lösten die Polaritäten zwischen der „Elite“ und dem „Populären“ auf und transformierten damit die Kunst. Zwischen 1916 und 1924 erneuerten sie nicht nur das Konzept der Kunst, sondern bearbeiteten auch populäre Formen und Stoffe neu und machten Alltagsgegenstände zu wirkmächtigen Manifestationen komplexer Konzepte und Fragestellungen. Ihr Ziel war die Kritik an den blinden Flecken der bürgerlichen Gesellschaft und an der Art, wie die konservative soziale Schicht Politik, Religion und Kunst definierte – diese, so glaubten sie, hatte den Schrecken des Ersten Weltkrieges und den Wirren der Nachkriegszeit Tür und Tor geöffnet.

Gegen diese „abgestumpfte“ Welt setzten die Dadaisten ihre Schocktaktiken der „Anti-Kunst“ ein, zuerst in Zürich, dann in Berlin, Köln, Hannover, New York, Paris, und darüber hinaus. Wo auch immer Dada auftauchte, fanden diese komplexen, manchmal widersprüchlichen Strategien ein Publikum – sowohl bei Gleichgesinnten als auch bei Zuschauern, die vom Schock des Neuen und Unvorhergesehenen angezogen wurden.
 
 
1916/1917
Dada wurde im Februar 1916 im Züricher Cabaret Voltaire ins Leben gerufen, einer kleinen, verrauchten Bar, die zu „einem Künstlerclub, einer Ausstellungshalle, einer Kneipe und einem Cabaret“ wurde.1 Die internationale Gruppe um Hans Arp, Tristan Tzara, Marcel Janco, Sophie Taeuber, Hugo Ball, Emmy Hennings und Richard Huelsenbeck, die alle auf neutralen Boden geflüchtet waren, „sang, malte, machte Collagen und schrieb Gedichte,“ während „in der Ferne Gewehre grollten.“ Ihr „multimediales“ Cabaret ermöglichte ihnen das individuelle Experimentieren, während sie die gemeinsamen Ziele von Unabhängigkeit, wiederbelebtem Bewusstsein und dem Ende der kulturellen Stagnation und des Krieges proklamierten. Sie zeigten kubistische Gemälde, expressionistische Poster und abstrakte Masken. Sie spielten populäre Lieder und Musik, trugen Klanggedichte und Manifeste vor und führten satirische Shows auf. Bald zog das Cabaret sowohl Liebhaber als auch Neugierige zu Vorstellungen wie Hugo Balls Karawane an: ein „Unsinnsgedicht“, welches er im Pappkartonkostüm vor einem zunehmend „tobendem“ Publikum vortrug.
In New York verfeinerte der aus Europa geflohene französische Künstler Marcel Duchamp sein Readymade-Konzept. Dazu eignete er sich massenproduzierte Objekte an – einen Fahrradreifen, ein Flaschenregal, eine Schneeschaufel – und verschob die Gegenstände durch seine künstlerische Entscheidungsgewalt in einen neuen Kontext und definierte sie dadurch als Kunst. Unter dem Pseudonym R. Mutt reichte er 1917 die Arbeit Fountain bei der Ausstellung der Society for Independent Artists ein, einer „demokratischen“ Ausstellung, nach deren Richtlinien „jeder Künstler, der 6 US-Dollar bezahlte, teilnehmen konnte.“ Die Veranstalter lehnten Fountain – ein auf den Kopf gestelltes Urinal – jedoch ab. Duchamp holte sich das Readymade daraufhin heimlich zurück und bat Alfred Stieglitz, ein Foto davon zu machen, bevor es verloren ging. Duchamp schuf nicht nur „einen neuen Gedanken für das Objekt,“ er hatte das Objekt zum Denken selbst gemacht.
 

Fountain von Marcel Duchamp Fountain von Marcel Duchamp | © Alfred Stieglitz, Wikipedia, bearbeitet, CC0-1.0


Stieglitz’ Fotografie erschien in Duchamps The Blind Man, einem der „kleinen Magazine“, die die Avantgarde hervorbrachte. Wie das Cabaret zeigten auch die unterschiedlichen und doch miteinander verknüpften Beiträge des Magazinformats die Dadaisten als eine geschlossene Gemeinschaft von unabhängigen Individuen. Das Magazin arbeitete an der Grenze zwischen Kunst und Populärkultur und dokumentierte und verbreitete dadaistische Kunstwerke. Dadaistische Zeitschriften – Cabaret Voltaire (1916) und Dada (1917-1921) in Zürich, Der Dada (1919-1920) in Berlin, Merz (1923-1932) in Hannover und Die Schammade (1920) in Köln, um nur einige zu nennen – wurden in kleinen Auflagen für ein spezialisiertes und zunehmend internationales Publikum veröffentlicht. Die Zeitschriften spielten mit typischen Magazinformaten und vermischten Texte und Bilder auf ungewöhnliche Art, brachen mit den Konventionen von Werbung und Design und verbreiteten avantgardistische Konzepte bei einem immer größer werdenden Publikum.
 
 
1920
Die politische Situation in Berlin gab den Dadaisten eine kritische Perspektive und aggressive Haltung. Von 1917 bis 1920 verfeinerte Huelsenbeck, gemeinsam mit George Grosz, John Heartfield, Raoul Hausmann, Hannah Höch, Johannes Baader und anderen die interventionistischen Taktiken des Dada, um gegen Militarismus, Nationalismus und die Kräfte zu protestieren, die die neue Weimarer Republik zu spalten drohten. Der Club Dada in Berlin schuf Bilder, Manifeste, Collagen, Assemblagen, abstrakte Poesie, Performances und Aktionen in unzähligen Formaten und Räumen. Die Berliner Dadaisten, die immer an Strategien der Vermittlung interessiert waren, kritisierten die irreführenden Narrative aus Texten und Bildern in den Massenmedien – insbesondere die Fotografie. Sie machten die Fotomontage zu ihrer Waffe. Ihre „cut-and-paste“-Ästhetik, wie in Hannah Höchs Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands von 1919, legte offen, wie konstruiert die „Wahrheiten“, die in den Massenmedien einer zunehmend nationalistischen Umgebung zirkulierten, doch waren.
Die Dadaisten nahmen sich auch Kunstinstitutionen vor, deren „zeitlose“ Ideale der „Hochkultur“ dem dadaistischen Glauben an eine unabhängige Kunst, die auf die Dringlichkeiten der Gegenwart reagieren konnte, entgegenstanden. Die dadaistische Aneignung von Austellungsformaten, eine frühe Form der „Institutionskritik“, zeigte dies deutlich. 1920 organisierten die Berliner Dadaisten die bahnbrechende Erste Internationale Dada-Messe, deren Name eher an Handwerk und Handel als an die schönen Künste denken ließ. Die zutiefst politische Werkschau, eine visuelle Kakophonie aus Malerei, Assemblagen, Fotomontagen und gedruckten Texten, zeigte Arbeiten aus Zürich, Berlin, Köln und Paris. An den Wänden prangten Slogans, die wie Werbeanzeigen oder politische Poster klangen und das Publikum aufriefen: „Nehmen Sie Dada ernst. Es lohnt sich!” oder auch, “Dilettanten, erhebt euch gegen die Kunst.” Über alledem wachte der Preußische Erzengel, eine Schaufensterpuppe mit Schweinekopf in Offiziersuniform, die den Aufstand der Texte und Bilder patrouillierte. Dieses Kunstwerk, sowie das antimilitaristisches Portfolio Gott mit Uns von Grosz hatten eine Anklage wegen Beleidigung der Reichswehr zur Folge. Während die Dada-Messe nicht nur hunderte von Besuchern anlockte, sondern auch die Aufmerksamkeit der internationalen Presse auf sich zog, kündigte diese Repression bereits unheilvoll an, dass die Dadaisten ein Teil der berüchtigten Nazi-Ausstellung Entartete Kunst im Jahr 1937 werden sollten. Der Slogan „Nehmen Sie Dada ernst, es lohnt sich!“ wurde dort als Spott über modernistischen Kunstwerken angebracht, nachdem man sie aus den deutschen Museen verbannt und als Gefahr für die „wahre“ deutsche Kultur bezeichnet hatte. 
 

Joseph Goebbels in der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ Joseph Goebbels in der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ | © Unbekannt, Wikipedia, bearbeitet, CC-BY-SA-3.0 de

1951/1958
Sowohl Dadas „Leben“ als auch sein „Tod“ waren von kurzer Dauer. In der Nachkriegszeit belebten Künstler und Dichter Dada wieder, als sie die Ursprünge der modernen Kunst erforschten oder nach Lösungen für althergebrachte Denkweisen suchten. Die frühen Manifeste der Dadaisten sowie Memoiren und historische Texte der Bewegung wurden übersetzt und von einem internationalen Publikum rezipiert. Im Jahr 1951 ließ der amerikanische Maler Robert Motherwell Dada mit einer bahnbrechenden Publikation neu übersetzter dadaistischer Quellen wieder aufleben: The Dada Painters and Poets: An Anthology wurde zu einer einflussreichen Quellensammlung für Künstler und Kunstwissenschaftler. 1954 publizierte der deutsche Künstler und Autor Willy Verkauf Dada: Monographie einer Bewegung, welche gemeinsam mit Motherwells Sammelband den Boden für die wegweisende Ausstellung Dada – Dokumente einer Bewegung bereitete, die 1958 in Düsseldorf stattfand.
 

Plakat für einen Dada-Abend Plakat für einen Dada-Abend | © Theo van Doesburg, Wikipedia, bearbeitet, CC0-1.0


Diese und andere Publikationen und Ausstellungen der fünfziger Jahre regten internationale Künstler, Schriftsteller und Denker dazu an, dadaistische Strategien für zukünftige Generationen zu adaptieren. In der bildenden Kunst allein sind die Neo-Dada-, Fluxus-, und Pop-Art-Künstler der sechziger, die Konzeptkünstler der siebziger und die postmodernen Künstler der achtziger Jahre den Dadaisten auf ihre jeweils eigene Art verpflichtet. Dadas Vermächtnis hat auch die populäre Vorstellungskraft erfasst: Street Art, Punk-Mode, Mashups und Remixe, Guerilla-Marketing und politische Strategien wie direkte und interventionistische Aktionen sowie Kulturkritik waren und sind alle von Dada beeinflusst. Zuletzt transportierten Blockbuster-Ausstellungen wie Dada in Washington DC, New York und Paris im Jahr 2006 sowie das hundertjährige Jubiläum des Cabaret Voltaire im Jahr 2016 Dada ins 21. Jahrhundert. Die dadaistische Auseinandersetzung mit Konzepten „des Populären“ und „der Elite“ hat nicht zu deren Aufhebung geführt, vielmehr dauert die Hinterfragung ihrer Bedeutung und Wirkung bis heute an.

1 Richard Huelsenbeck, Memoirs of a Dada Drummer, Hrsg. Hans J. Kleinschmidt (Berkeley: University of California Press, 1974), 9.

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