In Zeiten des Klimawandels, kann ein Atlas nicht mehr starr und still sein
Die Gegenwart ist mehr denn je eine Düne
Die Architektin Maria Pina Usai ist fasziniert von Küstenlandschaften. Im Interview erzählt sie uns, warum sie sich auch wissenschaftlich mit ihnen beschäftigt, warum sie sich seit Jahren beim Kulturfestival „zones portuaires“ in der Hafen-Stadt Genua engagiert, und warum sie das Goethe-Projekt „Atlas of Mediterranean Liquidity“ so begeistert, dass sie gleich mit einem eigenen Projekt eingestiegen ist und dafür mit Partnern in Israel zusammenarbeitet.
Von Cedric Dorin
Sechs Wochen haben Sie gerade in Israel verbracht, mit Partnern des „Atlas“-Projekts gearbeitet und sind durchs Land gereist. Mit welchen Eindrücken sind Sie jetzt zurück in Genua?
Als Städte am Meer haben mich Tel Aviv, Jaffa und natürlich auch Haifa mit seinem Hafen besonders interessiert. Schließlich beschäftige ich mich seit rund zwölf Jahren beruflich als Architektin und wissenschaftlich in meiner Doktorarbeit mit der ständigen Veränderung von Küstenlandschaften. Neben den vielen wunderbaren Begegnungen mit Beteiligten am Atlas-Projekt, sei es vom Center für Digital Art in Holon oder vom Goethe-Institut in Tel Aviv, ist mir bis heute auch das historische Motiv einer Postkarte in Erinnerung geblieben: Eine Gruppe von Menschen steht dicht beieinander in den Dünen, nicht in Badeanzügen, sondern in Alltagskleidung. Das Foto dokumentiert den Tag, an dem in Tel Aviv vor mehr als hundert Jahren die ersten Grundstücke aufgeteilt wurden.
Dünen verändern sich ständig. Sie sind wie ein Symbol für eine sich ebenso ständig verändernde Küstenlandschaft, und Menschen versuchen mit Steinen dagegen zu halten, etwas Festes zu schaffen, das für sie bleibt – das ist ein Sinnbild für das Verhältnis zwischen Natur und Mensch, heute sogar mehr denn je, wenn wir glauben, wir könnten einfach so weiter bauen und planen wie bisher und nicht sehen, dass die Untergründe, im wörtlichen Sinn, dafür schwinden. Deshalb zeigt diese Postkarte auch, wie wichtig das Atlas-Projekt ist, dass wir dringend umdenken müssen.
Inwiefern?
Einer der Gründe, weshalb ich von diesem Projekt so begeistert bin, ist das innovative Konzept dieses Atlas. Es ist eben nicht mehr eine Ansammlung von zweidimensionalen stummen Karten zwischen zwei Buchdeckeln, die über Jahre als wahr und gültig gelten. Wir leben in einer Zeit, die so dynamisch ist, in der der Klimawandel neue Realitäten, umgekehrte Kräfteverhältnisse zwischen Natur und Mensch und somit immense Herausforderungen für den Menschen geschaffen hat, dass wir mit solch starren Abbildungen doch gar nicht mehr arbeiten können. Wie das historische Foto dokumentieren solche klassischen Atlanten aus der Schulzeit nur noch Vergangenheit. Die Gegenwart aber ist mehr denn je eine Düne.
Ständig im Wandel.
Ja. Wenn man heute die Welt vermessen, sie kartieren, sie in ihrer Komplexität sichtbar machen und auf Entwicklungen aufmerksam machen will, dann muss das weit hinaus gehen über eine statische Karte, auf denen einige Zeichen gedruckt sind. Man muss multi-medial und digital wissenschaftliche Fakten und Informationen so aufbereiten, dass sie ein Publikum ansprechen, das weit über die Experten hinausgeht, die sich damit ohnehin schon befassen. Und man muss mehr Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenbringen. Auch das ist eine Stärke dieses Projekts. Es ist nicht nur interdisziplinär, sondern transdisziplinär angelegt. Das Ziel ist, ein weit gespanntes Netzwerk zu schaffen, an das sich Akteure aus vielen verschiedenen Bereichen und Ländern andocken können. Es ermöglicht und stiftet neue Kooperationen, es schafft Verknüpfungen zwischen Wissenschaftlern und Künstlern, von denen beide für ihre Arbeit profitieren. Schon jetzt ist das in den bisherigen Teil-Projekten sichtbar: Die Beteiligten bedienen sich so vielfältiger Formen von Kommunikation und Darstellung, nutzen die Sprache von Musik, von Geräuschen und Tönen, von Texten, von Visualität, sei es gezeichnet oder animiert. Es fasziniert.
In Genua sind Sie seit Jahren Teil eines Teams, das mit „zones portuaires“ ein Festival rund um den Hafen und die Stadt ausrichtet. Warum?
Der Hafen und die Stadt, das waren über Jahre zwei getrennte Welten. Dabei hat vieles, was im Hafen geschieht, doch unmittelbare Rückwirkung auf die Stadt. Will man den Hafen weiter ausbauen, um noch mehr oder noch größere Containerschiffe anzulocken? Solche Entscheidungen wirken sich ja auch auf die Bevölkerung aus, wenn es zum Beispiel darum geht, wofür öffentliche Gelder eingesetzt werden. Wie Flächen und Raum genutzt werden, um den Hafen auch für die Bewohner der Stadt zugänglich zu halten. Wie nachhaltig die Infrastruktur gebaut wird, aber auch wie sich die Identität und die Kultur der Stadt entwickeln kann. Wäre eine solche Ausbau-Maßnahme also tatsächlich ein Gewinn und eine Verbesserung des Lebens für die Menschen in der Stadt, oder profitiert von solchen Projekten nur eine kleine Gruppe?
Was ist die Idee hinter diesem Festival?
Ursprünglich war es ein Film-Festival, mittlerweile hat es sich aber zu einem Groß-Projekt gewandelt, bei dem es darum geht, den Hafen zur Stadt hin physisch wie kulturell zu öffnen, um die Grenze zwischen den beiden aufzulösen, so dass sich die Bevölkerung mehr mit allen Teilen ihrer Stadt verbunden fühlt. Gelingen soll dies durch die Verbindung von künstlerischen Projekten und Möglichkeiten, dass Besucher wissenschaftliche Forschung selbst nachvollziehen können, indem sie zum Beispiel sehen, wie Daten ausgewertet werden, sie durch diese persönliche Beteiligung einen eigenen Bezug zur Forschung bekommen. Durch dieses Festival und durch das Goethe-Institut in Genua bin ich auch den Beteiligten des Atlas-Projekts aus Holon begegnet und schließlich selbst mit einem eigenen Projekt eingestiegen: Mithilfe eines israelischen Entwicklers arbeiten ein Team von Wissenschaftlern und Künstlern und ich derzeit an einer digitalen Karte von der Küste Genuas.
Küstenlandschaften sind auch deshalb so besonders, weil sie zu den Stellen in der Welt gehören, an denen die Auswirkungen des Klimawandels als Erstes erkennbar werden.
Ich bin mit dem schönen Gefühl nach Hause gefahren, dass ich mit meiner Doktor-Arbeit auf dem richtigen Weg bin, dass ich für die Forschung tatsächlich einen wichtigen Beitrag leisten kann, an den dann andere anknüpfen können. Küstenlandschaften sind auch deshalb so besonders, weil sie zu den Stellen in der Welt gehören, an denen die Auswirkungen des Klimawandels als Erstes erkennbar werden. Und weil von diesen Forschungsergebnissen zu Küstenlandschaften sich später auch die wahrscheinlichen Veränderungen anderer Landschaften leichter voraussagen lassen. Außerdem fand ich ermutigend, dass ich den experimentellen und transdisziplinären Charakter dieses Atlas-Projekts in Israel schon verwirklicht sehen konnte. Die Initiative zum Projekt ging von Tel Aviv aus, aber von vornherein war es so angelegt, dass es geografische, politische, kulturelle und auch die Grenzen wissenschaftlicher Fachrichtungen überschreitet. Leider ist das bei uns in Italien an vielen Universitäten noch nicht der Fall: die Abgrenzung zwischen einzelnen Wissenschaftszweigen und Fakultäten ist nicht sehr durchlässig, Kooperationen mit Künstlern findet man kaum.
Sehr gern. Und vielleicht ergibt sich nach meiner Doktorarbeit auch ein weiteres Projekt, das sich mit Küstenlandschaften beschäftigt. Dann bringe ich mich sehr gern wieder ein.
Maria Pina Usai, geboren 1975 auf Sardinien, arbeitet zwischen der Insel und der Hafenstadt Genua. Ist Architektin und beschäftigt sich wissenschaftlich mit der Erforschung von Küstenlandschaften. Ihre Promotion zu diesem Thema schreibt sie derzeit an der Universität von Cagliari.