Teil 1
Europäischer Monat der Fotografie in Berlin
Der Monat Oktober ist in Berlin und Potsdam der Monat des EMOP, des European Month of Photography. Das bedeutet 31 Tage Kultur, über 100 Ausstellungen und eine Vielzahl an Begleitveranstaltungen. Am 2. November trat in Deutschland der Teil-Lockdown in Kraft, die Museen wurden geschlossen. Die Erinnerungen an die vielen Dinge, die ich im Rahmen des EMOP gesehen, gehört und fotografiert habe, sind noch frisch. Blättern wir dieses „mentale Fotoalbum“ gemeinsam durch.
Von Giulia Mirandola
Einunddreißig Tage Fotokunst vor dem Teil-Lockdown
Der EMOP 2020 wird von Kulturprojekte Berlin veranstaltet und von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa sowie dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gefördert. Der Europäische Monat der Fotografie verquickt das Interesse an der Sprache der Bilder mit einer physischen Erkundung der Stadt. Sein Programm bringt die Besucher und Besucherinnen in Bewegung und führt sie an Orte, die hinsichtlich ihrer Lage, Größe, Typologie und Geschichte unterschiedlicher nicht sein könnten.Eine bunte Vielfalt an Akteuren – Museen, Kulturinstitutionen, Botschaften, Galerien, Ausstellungsräume, Verbände und Fotoschulen – nimmt in der einen oder anderen Form am EMOP teil. Die 31 Tage im Oktober waren für mich geprägt vom intellektuellen und emotionalen Input der 100 Ausstellungen, von einer beachtlichen Zahl an Gesprächsrunden, Studientagen, Führungen, Buchpräsentationen, Podcasts, Streaming-Angeboten, Besuchstagen in Fotoschulen und einem 300 Farbseiten starken Katalog (Kulturprojekte Berlin GmbH, 2020). Alles in allem ein Fotomarathon, an dem ich mit meinem Smartphone teilgenommen habe.
„Sehen heißt Nachdenken“
Auf die erste Ausstellung bin ich besonders gespannt. Ihr Titel – Blinde Fotograf*innen – hat mich überrascht und meine Neugier geweckt. Im Schaufenster der Kreuzberger Galerie f3 – freiraum für fotografie, wo die Schau gezeigt wird, ist ein Zitat von Bertolt Brecht zu lesen: „Sehen heißt Nachdenken“. Die Ausstellung präsentiert die jüngsten Arbeiten eines Kollektivs von Fotografinnen und Fotografen, die im Laufe ihres Lebens erblindet sind. Ihre ästhetischen Studien basieren auf der Kooperation mit sehenden Assistenten und der Technik des Lightpaintings, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Étienne-Jules Marey und Georges Demeny entwickelt wurde. Wieder im Freien lese ich erneut die Worte von Brecht und erlaube mir, sie in meinem Kopf abzuwandeln: „Auch Nicht-Sehen heißt Nachdenken.“Eine Liebeserklärung an Europa
Die zentrale Ausstellung des EMOP 2020 ist Kontinent – Auf der Suche nach Europa, ein Gemeinschaftsprojekt von Ostkreuz – Agentur der Fotografen, das von Ingo Taubhorn kuratiert wurde und in der Akademie der Künste unweit vom Brandenburger Tor zu sehen ist. Ostkreuz ist die renommierteste zeitgenössische Fotografenagentur Deutschlands, 2020 feiert sie ihr 30-jähriges Bestehen. Mit ihrer Ausstellung lenkt sie unseren Blick (und unsere Gedanken) auf Europa. In 23 Bildserien erzählt die Schau von unserem Kontinent und 23 ist auch die Zahl der Mitglieder der Agentur, einschließlich der Mitbegründerin Sibylle Bergemann, die 2010 frühzeitig verstarb. Die gezeigten Aufnahmen verstehen sich nicht nur als Bilder, sondern zugleich als Einladungen zu einer offenen Diskussion über Europa, die Demokratie, Migration, Renationalisierung, Geschichte, Grenzen, die Klimakrise, islamistischen Terrorismus, Minderheiten, Menschenrechte, Landschaften. Darüber hinaus umfasst das Projekt eine Reihe an Podcasts, die vor Ort oder online angehört werden können, sowie einen eindrucksvollen Ausstellungskatalog (Hartmann Books). Der 450 Seiten starke Band enthält über 200 Bilder, Autorentexte, einen Anhang zur Geschichte von Ostkreuz und Kurzpräsentationen der Mitglieder des Kollektivs auf Deutsch und Englisch. Am Ende des Ausstellungsrundgangs ist auf einer weißen Wand zu lesen: „Unser Projekt ist nicht – war nie – objektiv, es ist dem Humanismus gewidmet, der friedlichen Kooperation. Es ist eine Liebeserklärung an Europa.“In der Galerie Springer in der Fasanenstraße stoße ich erneut auf Ostkreuz. Hier läuft gerade die Fotoausstellung An den Strömen von Ute und Werner Mahler, ein Projekt „in progress“ rund um das Thema Flusslandschaften, das 2019 mit Aufnahmen entlang der Flüsse Elbe, Rhein, Donau und Po begann und 2020 an den Ufern der Wolga Fortsetzung fand. Die ausgestellten Fotos, die mit einer Großformatkamera in Schwarz-Weiß aufgenommen wurden, stehen zum Verkauf. Unterdessen blicken die Mahlers bereits Richtung Rhone und Dnjepr. Wie das Wasser der Flüsse kennen auch sie keinen Stillstand, auch für sie geht es immer vorwärts.
Voll das Leben
Von der Fasanenstraße zum C/O Berlin ist es nur ein Katzensprung. Anlässlich des EMOP 2020 wird hier ein dichtes Programm an Ausstellungen, Buchpräsentationen mit Kaufgelegenheit, Führungen und Photo Book Talks geboten. Als ich ankomme, beginnt gerade ein Gespräch mit dem Fotografen Josef Wolfgang Mayer zu seinem letzten Buch Standing by the Wall. Berlin 1990. Fotobücher sind einer der Schwerpunkte des EMOP 2020, in der Buchhandlung finden sich noch mehr Neuheiten und Raritäten als sonst. Ich bin hier, um mir die Retrospektive von Harald Hauswald Voll das Leben! anzusehen. Hauswald ist einer der sieben Gründungsmitglieder von Ostkreuz, zählt zu den bedeutendsten Fotografen der DDR und gilt als einer der wichtigsten Protagonisten der deutschen Fotogeschichte.Die Ausstellung wurde von Felix Hoffmann in Zusammenarbeit mit der Fotografin Ute Mahler und Laura Benz (Ostkreuz) kuratiert und wird von einem umfangreichen Katalog begleitet. Gedruckt und herausgegeben wird dieser Band vom Steidl Verlag, dem Kult-Verlag für alle, die sich mit Fotografie, Kunst und Mode befassen.
Die Ausstellung zeigt 250 Fotografien, die in der Zeit von 1970 bis 1990 in Ostberlin und der DDR entstanden sind. Hauswald fotografierte den Alltag und die Stasi fotografierte Hauswald. Zwölf Jahre lang wurde er vom Regime beobachtet, das über 1.200 Aktenseiten über ihn anlegte, die zum Teil im ersten Saal zu sehen sind. Ungeachtet dessen richtet Hauswald seinen Blick stets auf die Straßen, in die verschiedenen Stadtviertel, in die Innenhöfe, auf die Plätze, die Häuser, das Land, die Menschen, das echte Leben.