Zirkus
„Machen wir uns sichtbar!“

Impression vom Festival „Zeit für Zirkus“, einem Projekt des Bundesverbands Zeitgenössischer Zirkus: Seit seiner Gründung 2019 treibt der Verband die Etablierung der Sparte als Kunstform voran.
Impression vom Festival „Zeit für Zirkus“, einem Projekt des Bundesverbands Zeitgenössischer Zirkus: Seit seiner Gründung 2019 treibt der Verband die Etablierung der Sparte als Kunstform voran. | Foto (Detail): © „Out Of Chaos“ von Gravity & Other Myths im Chamäleon Berlin/Andy Phillipson/Zeit für Zirkus

Der Zeitgenössische Zirkus macht sich seit Jahren international einen Namen. Auch in Deutschland wird die Szene immer größer und sichtbarer, auch wenn sie vielerorts noch gegen Klischees und um ihre Anerkennung als Kunstform kämpfen muss. Ein Lagebericht.
 

Von Elisabeth Luft

Unter lautem Knarzen wird eine Kette vom dunkelblauen Zeltdach des LATIBUL herabgelassen, dem Theater- und Zirkuspädagogischen Zentrum in Köln. Mit einem Karabiner befestigt Tänzerin Mijin Kim daran ein Pauschenpferd, 100 Kilogramm schwer, mit hellbraunem Korpus und vier Beinen, die sich steif nach außen recken. Als das Turngerät an der Kette nach oben gezogen wird, beginnt ein Spiel an der Grenze zwischen Zeitgenössischem Zirkus und Tanz, in dem andere Gesetze gelten. Mithilfe von Gravitation, Körperkraft und tänzerischer Genauigkeit hebt die Kompanie Overhead Project in Circular Vertigo unsere Raum- und Zeitwahrnehmung aus den Angeln. Alles dreht sich um die Beziehung zwischen Mensch, Objekt und Raum.

In ihrem Projekt „Circular Vertigo“ hebt die Kompanie Overhead unsere Raum- und Zeitwahrnehmung aus den Angeln.
In ihrem Projekt „Circular Vertigo“ hebt die Kompanie Overhead unsere Raum- und Zeitwahrnehmung aus den Angeln. | Foto © Alessandro De Matteis / Zeit für Zirkus
Seit über zehn Jahren machen immer mehr Künstler*innen in Deutschland mit Arbeiten wie dieser auf sich aufmerksam und begeistern ein stetig wachsendes Publikum. Und das, obwohl der Zeitgenössische Zirkus hierzulande einen mühsamen Weg hinter sich hat: Während in Frankreich schon in den 1970er-Jahren mit Theater und traditionellem Zirkus experimentiert wurde, finden diese Anfänge des Neuen Zirkus in Deutschland erst in den 1980er- und 1990er-Jahren eine Öffentlichkeit. Nach und nach wird das Genre mit narrativen Mitteln aufgewertet, Jonglage und Seilakrobatik werden durch Tanz und Schauspielelemente kontrastiert. So entstehen lose Abfolgen von Choreografien, Kunststücken und Bildern, die sich bald ins Varieté verlagern und den Neuen Zirkus nach seinem Aufbruch in Deutschland wieder verschwinden lassen.

Als Mitte der 1990er-Jahre in Frankreich der „Cirque Contemporain“, also Zeitgenössischer Zirkus, entsteht, der noch mehr Grenzen zu anderen Kunstformen überschreitet, sind die Arbeiten auf dem Tollwood-Festival in München oder im Kulturzentrum Tollhaus in Karlsruhe zu sehen. Trotzdem: Die Aufmerksamkeit des deutschen Publikums bekommen die Künstler*innen nicht und so weichen sie aus nach Frankreich, Belgien und in die Niederlande, nach Griechenland, Rumänien oder Spanien.

Die Etablierung als Kunstform

Als dann 2011 in Köln die Initiative Neuer Zirkus gegründet wird, markiert das eine Zeitenwende. Das Ziel: Akteur*innen bundesweit zu vernetzen und Wissen zu vermitteln. Obwohl es kaum Zirkusschulen gibt, verändert sich dadurch etwas in den deutschen Kulturbehörden und der Öffentlichkeit. Wie der Tanz oder das Theater hat der Zeitgenössische Zirkus jetzt ein Sprachrohr. Von Hamburg über Mülheim an der Ruhr, Wiesbaden, Karlsruhe und München, bis nach Jena, Leipzig oder Berlin: Auf Straßen, Marktplätzen und Theaterbühnen, in Fußgängerzonen oder Zirkuszelten werden ungewohnte Perspektiven eingenommen, Geschichten erzählt und neue Bilder geschaffen. Dabei verbindet sich am Boden, in spektakulären Bühneninstallationen oder in der Luft Akrobatik mit Elementen aus Tanz, Performance und Theater, ohne dabei den Fokus auf den Körper der Artist*innen zu verlieren, der sich mit Objekten und Geräten im Raum bewegt.

Gingen Zirkuskünstler*innen dennoch aufgrund begrenzter Ausbildungsmöglichkeiten, schwieriger Förderbedingungen und weniger Aufführungsorte bis dato eher aus Deutschland weg, ändert sich auch das derweil: Immer häufiger nehmen kleine und größere Spielstätten und Festivals Zeitgenössischen Zirkus in ihr Programm auf. Von den Ruhrfestspielen Recklinghausen, über das E-Werk in Freiburg und das Lofft in Leipzig, bis zum Haus der Berliner Festspiele oder die Potsdamer Tanztage. Und neben traditionsreichen Straßentheaterfestivals, wie La Strada in Bremen, Welttheater der Straße in Schwerte oder Via Thea in Görlitz, werden auch neue Festivals aus dem Boden gestampft. So bringt das von Choreograf und Zirkuskünstler Tim Behren im Jahr 2019 gegründete und aus Mitteln der Initiative Tanzpakt finanzierte Kölner Circus-Dance-Festival explizit Zeitgenössischen Zirkus und Tanz zusammen. Hier werden die Formen, Strukturen und Diskurse sichtbar, die sich in Deutschland neu entwickeln.

Als 2019 der Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus e. V. (BUZZ) aus der Initiative Neuer Zirkus hervorgeht und seine Arbeit als Dachverband und Interessenvertretung aufnimmt, treibt auch das die Etablierung der Sparte als Kunstform innerhalb der Darstellenden Künste voran: Es entsteht eine Informations- und Austauschplattform für die Akteur*innen der Szene und das Förder- und Mentoringprogramm Zirkus ON wird weiterentwickelt. Künstler*innen gründen selbst Festivals und Produktionsorte, initiieren Netzwerktreffen und beginnen, auf politischer Ebene für die Anerkennung ihrer Arbeit zu kämpfen. In der Folge erhält die Szene während der Pandemie 2020 erstmals öffentliche Gelder und wird durch die NEUSTART-Kulturförderung vom Bund auch maßgeblich in ihrer Infrastruktur gestärkt.

Vom Leben als Artistin und Mutter

Aktuelle Diskurse um Macht, Struktur und Geschlechterungleichheit finden Eingang in die Szene und Anfang 2022 beginnt die Initiative feministischer Circus (IfC) die bestehenden Machtverhältnisse zu analysieren und Vorschläge für mehr Gerechtigkeit auf und hinter der Bühne zu entwickeln. Während sich so das Selbstverständnis wandelt, verändern sich auch Arbeitsweisen und Ästhetiken. Im selben Jahr beschreibt die Zirkuswissenschaftlerin und Dramaturgin Franziska Trapp dies: „Während der traditionelle Zirkus die außergewöhnlichen Fähigkeiten und die Macht des Menschen zelebrierte, liegt zeitgenössischen Zirkusstücken ein Selbstverständnis als kritische, politische Kunst zugrunde.“ Zwar gilt Zirkus auch jetzt häufig noch als Unterhaltung, doch genau wie in Tanz, Theater oder Performance gewinnt auch im Zeitgenössischen Zirkus die Lebens- und Arbeitsrealität der Künstler*innen an Bedeutung: Fragen von körperlicher und finanzieller Sicherheit, von Geschlechtergerechtigkeit im Arbeitsalltag oder verschiedenen Körperbildern werden auf der Bühne verhandelt.

Artistin und Mutter – wie ist das eigentlich mit Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den Künsten? Der Frage widmen sich die Artist*innen des Kollektivs still hungry in „Raven“.
Artistin und Mutter – wie ist das eigentlich mit Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den Künsten? Der Frage widmen sich die Artist*innen des Kollektivs still hungry in „Raven“. | Foto: © Still Hungry/Chamäleon Berlin/Andy Phillipson
So dreht sich in I Was Told, dem aktuellen Stück der Berliner Jongleurin und Spoken-Word-Artistin Kathrin Wagner, alles um Sexismus und ihre persönlichen Erfahrungen als Zirkus- und Varietékünstlerin. Darum, dass es nicht den einen Körperbau für die Zirkuskunst braucht, dass Hochseilartistinnen nicht im Röckchen auftreten müssen oder Jonglage nur etwas für Männer ist. Und Lena Ries, Romy Seibt und Anke van Engelshoven zeigen in Raven, wie es ist, Artistin und Mutter zu sein. Mit ihrem Berliner Frauenkollektiv Still Hungry plädieren sie für mehr Offenheit gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen von Artist*innen, setzen sich für Familienvereinbarkeit und gegen Altersdiskriminierung ein. Wenn im Zirkus unlängst noch eine normative Virtuosität vorausgesetzt wurde, wird sie jetzt zunehmend in Frage gestellt. Körper werden in ihrer Vielfalt gezeigt und Anstrengungen und Gefahren zum Thema gemacht.

Dabei ist erschreckend, wie selbstverständlich Artist*innen oftmals noch davon ausgehen, dass sie zwar für Vorstellungen, nicht aber für Recherchen und den künstlerischen Schaffensprozess bezahlt werden. Zwar ändert sich auch das durch Programme wie Zirkus ON und NEUSTART Kultur oder Residenzmöglichkeiten bei ausgewählten Festivals und Spielorten. Doch ähnlich wie bei den Ausbildungsstätten, hinkt Deutschland auch hier noch weit hinter Frankreich und Belgien hinterher. Dabei kann eine kontinuierliche und prozessorientierte Finanzierung nicht hoch genug eingeschätzt werden für die Aufbauarbeit und Weiterentwicklung dieser Szene.

Die Beharrlichkeit und die Aufbruchstimmung, die zur DNA des Zirkus gehören, sind trotzdem allerorten zu spüren. Die Berliner Artistin und Zirkuspädagogin Anja Gessenhardt sagte 2022 in einem Interview: „Wir haben im Zeitgenössischen Zirkus die Möglichkeit, Klischees zu durchbrechen und Veränderung zu bewirken, indem wir Geschichten kreieren und Träume Wirklichkeit werden lassen. Nutzen wir diese Chance, schaffen wir nachhaltige Strukturen und machen wir uns und unsere Kunst sichtbar!“ Der Zeitgenössische Zirkus in Deutschland ist in Bewegung.

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