„Unseen / Ungesehen. Blicke auf Europa“
Im zerbrechlichen Schatten Europas

Albanien
Albanien | Foto (Zuschnitt) © MilaTeshaieva

Die Sprache der Fotografie auf Reisen: „Unseen / Ungesehen“ ist eine internationale Wanderausstellung, die hinterfragt wie sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen in Gebieten Deutschlands, Albaniens, Italiens und Belarus im Leben der Menschen niedergeschlagen haben.

Von Giovanna Gammarota

Das vom Goethe-Institut Mailand konzipierte und geförderte Projekt, das Fotografen aus eben diesen Ländern anvertraut wurde, nämlich Jutta Benzenberg, Andrei Liankevich, Livio Senigalliesi, Mila Teshaieva, lässt Geschichten der Menschen dort erkunden.

Das Ergebnis setzt den Schwerpunkt auf das Leben gewöhnlicher Menschen, die in scheinbar unsichtbaren, nahezu unrealen Ortschaften leben – aber real ist die Normalität ihres Alltagslebens. Es handelt sich um Grenzgebiete im bildhaften Sinne, von denen manche die industrielle Blütezeit erlebt haben, die heute jedoch endgültig der Vergangenheit angehört – sie scheinen Geister zu sein. Orte, an denen man in eine Art verborgene Raum-Zeit-Dimension fällt, die nicht in die Realität gehört, wie wir sie heute erleben, „unsere Welt“, die Welt der urbanen Räume; paradoxerweise erscheint dem Betrachter der Ausstellung gerade diese zunehmend wie eine Geisterwelt.

Reist man mit diesen Bildern, so sieht man erstaunt, wie sehr die Geschichten und Orte einander ähneln, viel mehr als man sich vorgestellt hatte. Folgt man den Geschichten und den Eindrücken, die uns die Fotos und die Geschichten vermitteln, wird sichtbar, dass die Orte und Menschen unterschiedlich und gleichzeitig sehr ähnlich sind. Besonders anziehend ist hier das individuelle Erstaunen, das auf die Betrachtung der Bilder folgt. Die Schlichtheit der Aufnahmen zeigt eine komplexe und doch verständliche Welt, die uns mit ihrer zeitlosen und unversehrten Schönheit erreicht.

Der Vergleich zwischen Sachsen-Anhalt, in der ehemaligen DDR, deren frühere Grenze zur BRD Dank der Wiedervereinigung abgeschafft wurde, und ein paar kleinen Städten, in den Bergen im Zentrum Albaniens, die von Jutta Benzenberg und Mila Teshaieva ausgewählt wurden, lässt die beiden Gebiete wie eine zeitliche Fortsetzung des einen gegenüber dem anderen erscheinen. Jutta, die sich als „humanistische Fotografin“ definiert, sieht auf ihren häufigen Zugfahrten nach Berlin vorbeiziehende Landschaften, die sie immer sehr schnell durchquert und fotografiert, erst später erkennt sie, was sie mit einem näheren Blick vertiefen kann.

Mila arbeitet an der Erinnerung. In Bitterfeld-Wolfen identifiziert sie die Grenzen eines noch nicht vollständig überwundenen kollektiven Traumas, nämlich das der doppelten Enteignung: zuerst die durch die Nachkriegsverträge erzwungene Teilung, dann die Wiedervereinigung nach dem Fall der Mauer. Es ist kein Zufall, dass sie in ihrer Erzählung den Ausdruck „Gefühl der Entwertung der Vergangenheit“ verwendet, wenn sie sich auf ihre Gefühle nach Gesprächen mit den Menschen dort bezieht, die es vorgezogen hätten, das Gute des alten Systems zu bewahren. Auf Die Wende, wie die Wiedervereinigung hier genannt wird, folgte in den neunziger Jahren eine Massenauswanderung; heute sind von der industriellen Blütezeit der Region nur verlassene Ruinen übrig.

Die von Mila und Jutta, sowohl in Deutschland als auch in Albanien durchgeführte Recherche zeigt Frauen, die in diesen Orten leben. Ältere und jüngere Frauen, die sich entschlossen haben in Sachsen zu bleiben, obwohl sie ihre Arbeitsplätze verloren hatten. In Albanien hingegen sehen sich vor allem die jungen Frauen als „die Zukunft ihres Landes“, denn vielleicht wird es wirklich möglich sein, nicht mehr Auswandern zu müssen. Hier eine tiefe Sehnsucht nach der Vergangenheit, dort der wahrhaftigen Wunsch zu kämpfen: in beiden Fällen führt dies dazu, dass Frauen und Kinder zum unabdingbaren Zusammenhalt ihrer Gesellschaft werden.

  • Sulcis, Sardinien © Andrei Liankevich

    Sulcis, Sardinien

  • Albanien © MilaTeshaieva

    Albanien

  • Belarus © Livio Senigalliesi

    Belarus

  • Albanien © MilaTeshaieva

    Albanien

  • Deutschland © MilaTeshaieva

    Deutschland

  • Belarus © Andrei Liankevich

    Belarus

  • Sulcis, Sardinien © Andrei Liankevich

    Sulcis, Sardinien

  • Deutschland © MilaTeshaieva

    Deutschland

  • Belarus © Andrei Liankevich

    Belarus

  • Sulcis, Sardinien © Livio Senigalliesi

    Sulcis, Sardinien

Ähnlich ist es in Polesien in Belarus und Sulcis auf Sardinien, Gegenden, die von Andrei Liankevich und Livio Senigalliesi erkundet wurden. Auch diese Gebiete haben dieses Flair von Grenzgebieten, die von verschlossenen und fast magischen Menschen bewohnt werden. Während ihrer Erkundungen haben die beiden Fotografen Erfahrungen aus dem Leben der Menschen aufgenommen, die legendären Welten anzugehören scheinen. Da ist beispielsweise die Geschichte von Mario, einem 90-jährigen Bergarbeiter, der nicht an Gott, sondern an seine Laterne glaubt. Er bezeichnet diese Laterne als „seinen besten Freund“, denn sie hat ihm und seinen Freunden einmal das Leben gerettet. Auch Polesien ist ein Ort alter Gemeinschaftsrituale, die den Lauf der Zeit überlebten. Eine Zivilisation, die dank der geschickten Hände ihrer Frauen überlebt hat. Sie beschenken die Reisenden mit bestickten Tüchern und erzählen halb weinend und halb lachend, wie einem Hahn der Hals umgedreht wurde und er später lebendig in der Küche aufgefunden wurde. Jede dieser Erzählungen steht exemplarisch für Traditionen, die die sozialen Bindungen zwischen den Generationen aufrecht erhält; die von harter Anstrengung bei Arbeit und im Leben zeugen, die immer auch geprägt sind durch ein starkes Gefühl der Würde.

An Orten, an denen Menschen früher „in Liebe und Frieden“ arbeiteten und lebten, sind die vier Fotografen auf vergessene Geschichten gestoßen, voll von jenem normalen Leben, das niemanden mehr zu interessieren scheint, außer tapferen zeitlos Reisenden.

Die Ausstellung wird am 31. Januar 2019 erstmals in Mailand bei Micamera (via Medardo Rosso, 19) eröffnet und bleibt dort bis zum 3. März. Anschließend ist sie in Rom (21. März – 26. Mai 2019), Minsk (September), Tirana (Oktober) und im Januar 2020 in Halle.

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