Im Schatten
Albanien
Landflucht und Emigration, ländliche und gebirgige Regionen wurden verlassen und dem Zerfall ausgesetzt.
Welche Zukunft bleibt den jungen Menschen und Familien in Albanien?
Jutta Benzenberg und Mila Teshaieva führen uns mit ihren Fotos und Berichten in das Leben der Albaner - Kinder, Frauen, Männer - so wie wir sie gar nicht kennen. Es ist eine eindrucksvolle Begegnung.
Mila Teshaieva:
Shkodra, Kukes, Puke und Burrel
Oktober 2018
Texte von Stela Suloti und Mila Teshaieva
Meine zweite Reise nach Albanien führt mich zurück in abgelegene Bergstädte und Dörfer, zur schönsten Jahreszeit: dem goldenen Herbst. Hier lernen wir mit Hilfe verschiedener Organisationen vor Ort, die mit jungen Menschen arbeiten, einige faszinierende Persönlichkeiten kennen, die mit Stolz die Zukunft Albaniens vertreten. Unser erstes Ziel ist Shkodra oder Scutari, eine der ältesten Balkanstädte und das zweitwichtigste Kulturzentrum Albaniens. Hier treffen wir zwei Mädchen: Samanda Zadrima und Rafaela Doshi. Sie kennen sich aus der Zeit des Jugendparlaments, einer lokalen sozialen Initiative, in der beide Mädchen aktiv waren und das als ein Ort der Begegnung galt.
Samanda Zadrima ist gerade 18 geworden und zieht in den nächsten Tagen nach Tirana, wo sie Ingenieurmathematik studieren wird. Ihre Motivation und Leidenschaft sind eine Zukunft als unabhängige Frau. Ihr Traum sei, sagt sie, unabhängig im Ausland zu leben. Durch das Jugendparlament hatte sie Gelegenheit eines kurzen Aufenthalts in Luxemburg, während dem ihr der neue Campus für die dortige Universität gezeigt wurde, was Sie erstaunlich fand. Sie hofft, in Zukunft die Chance zu haben, Mitglied dieses Campus zu werden. Zur Zeit lebt Samanda in Shkodra, in einem kleinen Privathaus, mit Ihrer Mutter und ihrer Katze. Samanda ist still, jedoch sehr entschlossen und selbstbewusst. Sobald sie 18 wurde, hat sie ihren Führerschein gemacht und ein Auto gekauft. Sie ist bereits eine unabhängige Frau und ein sehr praktischer und freundlicher Mensch.
Nachdem wir die beiden Mädchen kennengelernt und mit ihnen gesprochen hatten, beschlossen wir, uns mit einem dritten Mädchen zu treffen, Denajda Bisha, einer Freundin von Samanda, die ebenfalls zustimmte, fotografiert zu werden. Sie ist eine atemberaubende Schönheit mit jungenhaftem Stil und sie kennt die Wirkung des guten Aussehens. Auf den ersten Blick vermittelt Sie einen Hauch von Selbstvertrauen und Distanz. Denajda ist auch gerade 18 geworden und wird zusammen mit Samanda nach Tirana ziehen. Sie möchte Innenarchitektur studieren und sagte: „Ich musste anfangen, über mich selbst nachzudenken und mir sicher sein, welchen Job ich in meinem Leben machen will, und das ist Innenarchitektur. Und ja, ich möchte ins Ausland gehen und neue und kreative Ideen in mein Land bringen, denn wir sind die Zukunft unseres Landes.“ Sie hatte die Möglichkeit gehabt, in New York zu studieren, doch trotz des zugesagten Studienplatzes an der Universität, wurde ihr das Visum verweigert. Im Alter von 3 bis 15 Jahren war sie Teil einer folkloristischen Gruppe, was uns angesichts ihres modernen Aussehens sehr überrascht, aber Denajda ist in der Tat eine energische junge Frau, die an die Stärke und Macht der Frauen glaubt. Sie sieht sich selbst als Kämpferin, und als wir fragten, wie Sie kämpfte, antwortete sie: „Arbeit und Beruf sind meine Kampfmittel.“
Die längste Zeit haben wir mit Rafaela verbracht. Sie wollte uns an einen besonderen Ort bringen, einem Ort, der uns von ihrem Charakter und ihren Gewohnheiten erzählen würde. Sie zieht sich ihre beste Vintage-Kleidung an und färbt ihre Lippen schwarz. In ihr brodelt ein Kampf und die Frage ist, in welche Richtung dieser Kampf geht. Also fahren wir aus der Stadt hinaus und hinauf zur alten Burg bei Shkoder. Rafaela stammt aus einer katholischen Familie und ist sehr religiös. „Ich kann die Gegenwart Gottes in meinem Leben spüren und ich habe in dessen Gegenwart einige wahre Wunder erlebt.“ Bei Sonnenuntergang, mit Blick über die Berge und Felder Albaniens, beginnt sie zu beten. Was wünscht sie sich in ihren Gebeten? In Kukes ist unser Führer für Jugendliche Lavdrim Shehu, der Leiter des Zentrums für den Fortschritt der Jugend. Er stellte uns vier junge Männer und Frauen vor, die sich aktiv im Zentrum engagieren und dort einen Großteil ihrer Freizeit verbringen. Obwohl es hier auf den ersten Blick nichts Interessantes gibt, genügt ein kurzes Gespräch mit ihnen, um die außergewöhnliche Geschichte dieser Stadt und ihrer Persönlichkeiten zu entdecken. Dorjan Beluli ist 18 Jahre alt und lebt in einem nahegelegenen Dorf. Er hat eine große Familie mit 5 Schwestern und 4 Brüdern. Seine Mutter ist vor 8 Jahren gestorben. Während seiner Schulzeit arbeitete Dorian nebenbei für Radio Kukes, wo wir ihn mit seinem besten Freund, mit dem er zum Studium nach Tirana ziehen wird, fotografieren.
Unser nächster Held ist Briliant Demalia, 14 Jahre alt und der jüngste der Gruppe aus Kukes. Im Gespräch mit Briliant waren wir überrascht von seinem strengen Stundenplan. Nach der Schule geht er nach Hause und lernt mit seinem Vater, der ebenfalls Verwalter im Jugendzentrum ist, Deutsch und macht seine Hausaufgaben. Außerdem nimmt er Privatunterricht in Mathematik und spielt Profi-Fußball. Auf die Frage, ob er viel Geld verdienen und berühmt werden will, antwortet er sehr offen, dass es nicht um das Geld geht, sondern darum, was er mit seinem Leben anfangen soll.
Enisa Domi ist 17 Jahre alt und besucht häufig das Jugendzentrum. Sie sagt, dass dieses Zentrum sie positiv verändert hat, während sie immer wieder mit ihren Freunden diskutiert, die nicht verstehen, warum sie als Volontärin arbeitet. Sie sagt, dass das Zentrum ihr sehr geholfen hätte, denn sie war sehr schüchtern. Heute ist sie viel offener und selbstbewusster. Während unserem Gespräch stellten wir fest, dass es für die jungen Menschen hier in der Freizeit nicht viel zu tun gibt, außer Kaffee zu trinken oder spazieren zu gehen. Ihr Vater ermutigte die Familie zum Joggen und jetzt gehen Enisa und ihre Mutter stets gemeinsam laufen. Joggen ist hier nicht sehr üblich, sagt sie, und nur wenige Leute joggen, besonders wenig Frauen, doch sie tun es. Enisa wollte an einen geheimen Ort fotografiert werden. Dort fühlt sie sich am freiesten.
Igli Cengu, spricht bemerkenswert gut Englisch, mit starkem amerikanischem Akzent. Er sagt, dass er viel Zeit mit Amerikanern verbringt, die hier Freiwilligenarbeit leisten. Igli ist 15 Jahre alt und träumt davon, Schauspieler zu werden. Seine Lieblingsschauspielerin ist Emma Watson und er liebt es, Filme zu sehen, zu kochen und manchmal einfach nur herumzulungern. Er hat einen etwas faszinierenden Stil mit seinen Elvis Presley-Haaren und seiner James Dean-Garderobe. Wenn er nach seinem Stil gefragt wird, sagt er einfach, dass er nicht viel darüber nachdenkt, er zieht sich das Erste an, was er zur Hand hat, und sein Haar ist einfach so wie es ist. Er führt uns zu einem verlassenen Hotel, das einst eine Ferienunterkunft für ehemalige kommunistische Führer war, doch seit den 90er Jahren ist es verlassen und wird allmählich zu einer Ruine.
Puke und Burrel Nach einer langen kurvigen Bergstraße mit herrlicher Aussicht und kurzen Stopps, schafften wir es schließlich nach Puke. Die frische Luft weit weg vom Smog der Stadt war sicherlich ein guter Start in den Tag. Vor unserer Ankunft in Puke sprachen wir mit Linda Hyseni, einer Leiterin des Puke Jugendzentrums. Sie sagte, ein paar Mädchen würden auf uns warten. Was für eine Überraschung für uns, als die paar Mädchen tatsächlich eine große Gruppe war. Sie warteten im Jugendzentrum, wo es unmöglich war, die heimelige Atmosphäre und die verbindende Freundschaft nicht zu bemerken. Viele von ihnen machten ihre Hausaufgaben, während sie auf uns warteten, und keiner von ihnen wollte gehen.
Ema Hyseni, 14 Jahre alt, besucht das Sabah Sinani Gymnasium. Sie ist die Tochter von Linda Hyseni, die uns freundlicherweise erlaubt hat, in ihrem Haus zu fotografieren. Die meisten Eltern mögen es nicht, wenn Fremde in ihr Haus kommen und Fotos machen. „Sie sind es nicht gewohnt," sagt Linda. Ihre Tochter Ema liebt Tiere und Malerei. Sie möchte in Zukunft Veterinärmedizin studieren. Ema und ihre Freundin Sara verbringen viel Zeit in Emas Zimmer und haben gemeinsame Interessen.
Die faszinierendsten Persönlichkeiten, die wir dort getroffen haben, sind drei Freundinnen: Klejda, Arseda und Eliasa. Sie sind alle 15 Jahre alt, haben sehr viel positive Energie und sind ein wenig rebellisch. Sie sind alle davon überzeugt, dass es am wichtigsten ist eine unabhängige Frau zu werden, die frei reisen und die Welt erkunden kann. Sie verbringen fast die ganze Zeit miteinander und ich frage mich, wie lange diese Freundschaft wohl halten wird.
Anisa Abazi ist ein der Schwestern von Klejda, die ein Jahr älter und ganz anders ist. Sie hat einen melancholischen Blick und ist gerne allein und bemüht sich um ihre Schönheit. Anisa möchte Medizin studieren, weil sie erfolgreich, aber auch anderen Menschen dienen möchte.
Burrel - Amelia Stafasani ist die älteste von vier Schwestern und jede von ihnen ist auf ihre Weise besonders. Die Familie lebte zwei Jahre lang in Schweden, wo sie und ihre Schwestern sich sehr gut eingliederten und perfekt Schwedisch lernten, was sie immer noch miteinander sprechen, wenn sie von niemand anderem verstanden werden wollen. Amelia macht gerne alles auf ihre Art und wirkt ziemlich selbstsicher und frei. Sie sagt: „Ich reite gerne. Ich habe früher in Schweden gelebt und als ich dort war, habe ich Reiten gelernt und geübt. Hier kann ich dieser Leidenschaft nicht nachgehen. Ich mache Origami und fotografiere gerne, dann male ich die Fotos.“
Auch ihre Schwester Deborah hat ein besonderes Hobby: Sie boxt gerne. Auf unsere Frage, ob und wo sie in Burrel Boxen übte, antwortete sie: „ Ich habe es früher in Schweden gemacht, doch hier nicht mehr, denn im Fitnessstudio gibt es mehr Jungen.“ Sie wirkte ein wenig schüchtern, als sie mit ihren Boxhandschuhen auf der Straße posierte, doch meinte sie es sei ihr egal, was die Leute sagen würden.
Anxhela lebt in einem kleinen Bergdorf, in der Nähe von Burrel. Sie muss täglich mindestens eine Stunde durch die Berge laufen, um zur Schule zu kommen. Sie spricht perfekt Englisch und hat einen starken Charakter. Sie lebt mit ihrem Vater und ihrem jüngeren Bruder zusammen und hat zu ihrem Vater eine sehr enge Beziehung. Zuerst wollte sie uns nicht zu sich nach Hause bringen, denn sie wollte nicht, dass wir die kläglichen Lebensbedingungen sähen, doch nach einer Weile stimmte sie zu und wir trafen auch ihren Vater und ihren Bruder auf dem Weg zu ihr nach Hause. Sie lebt auf einem Hügel mit einer wunderschönen Aussicht und einem Fluss, der unterhalb des Hauses vorbeifließt. Trotz der atemberaubenden Aussicht bemerkten wir, dass es dort oben keine richtige Straße gab und das junge Mädchen bei jedem Wetter zu Fuß zur Schule geht. Wenn man Anxhela in die Augen schaut, kann man sich vorstellen, was für ein Kampf ihr Leben ist, doch sieht man ebenfalls das Selbstvertrauen, mit dem sie sämtliche Hindernisse auf ihrem Lebensweg überwinden wird.
Mila Teshaieva:
Bathore, Ballsh und Mjeda
1.-7. August
Text Mila Teshaieva und Ben Andoni
Unser erstes Ziel in Albanien ist die Siedlung Bathore bei Tirana. Die Geschichte des Ortes erklärt seinen gegenwärtigen Zustand. In den frühen 90er Jahren, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, zogen viele arme Familien aus dem ganzen Land auf der Suche nach Arbeit nach Tirana. Die lange Reise aus dem Gebirge unternahmen zum Großteil verzweifelte und mittellose Bauern, die in der Hauptstadt zwar irgendeine Arbeit fanden, bei der Suche nach einer Unterkunft aber große Schwierigkeiten hatten. Nach einigen Jahren stellte die neue Regierung diesen Menschen leeres Bauland zur Verfügung, auf dem sie eine neue Siedlung errichten konnten.
Die Familien, die sich in Bathore niedergelassen hatten, waren aber nicht in der Lage, ihren Lebensstil zu ändern und sich in richtige Stadtmenschen zu verwandeln. Deshalb habe ich hier sehr verschlossene und traditionsbewusste Familien getroffen, in denen von Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau keine Rede ist und arrangierte Ehen auf der Tagesordnung stehen. Mädchen dürfen das Grundstück nicht verlassen, und ihre Freunde sind meist Cousins, mit denen sie in derselben Umgebung aufwachsen. Den Kontakt zu diesen Familien hat die Schulleiterin hergestellt, die uns freundlicherweise auch begleitet hat; dank ihrer Autorität konnten wir mit den Kindern ins Gespräch kommen.
Edlira Koloshi hat letztes Jahr ihr Abitur bestanden und möchte sich bei der Sportuniversität in Tirana bewerben. Ihr Traum ist es, Sportlehrerin zu werden, aber der einzige Ort, an dem sie laufen kann, ist ihr Garten. Sie singt auch gerne, zum Großteil albanische Volkslieder. "Ich würde Singen gerne zu meinem Beruf machen, aber Sie sehen ja selbst, dass man seinen Traumjob hier nicht ausüben kann. Ich könnte bei meiner Mutter bleiben und ihr bei der Hausarbeit helfen, dann abwarten und sehen, was sich als nächstes ergibt".
Die Väter von zwei Mädchen, Olta und Klauvisa Sefa, haben derzeit einen harten Job in England und kommen nur im Sommer nach Hause. Sie sind 16 Jahre alt und haben eine enge Beziehung zueinander; tagsüber verbringen sie ihre Zeit mit anderen gleichaltrigen Verwandten. Sie verwenden weder Facebook, noch andere Social Networks und werden von ihren Familien streng bewacht. Die beliebteste Freizeitbeschäftigung ist Volleyball, ein Sport, den sie im Garten praktizieren. „Wir lernen auch gerne Englisch, denn dadurch haben wir die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen. Wir warten jedenfalls ab, was unsere Väter für uns entscheiden“.
Jungen haben beim Weggehen normalerweise mehr Freiraum, finden aber draußen nur selten etwas zu tun. Gerald Hoda (17) und Erion Spahiu (18) schauen in ihrer Freizeit gemeinsam Videos auf You Tube an oder unterhalten sich miteinander. Gerald hat keine sehr klaren Vorstellungen von seiner Zukunft, möchte aber in erster Linie die Möglichkeit haben, im Ausland zu studieren. Erion kennt das Leben im Ausland ein wenig; seine Familie hat in Deutschland Asyl beantragt, durfte aber nicht bleiben. Er ist fest entschlossen, wieder nach Deutschland zu gehen: „Wer noch nie dort war, hat keine Ahnung vom wirklichen Leben in Europa. Ich werde es noch einmal versuchen, aber diesmal auf legalem Weg.“
Zwei Freunde, Igli Spahiu (17) und Mariglen Domi (18), spielen die meiste Zeit über Fußball oder Karten zu Hause. Igli macht in einem Jahr Abitur und ist sich über seine Zukunft noch unsicher. Mariglen hat die Schule abgeschlossen und hilft nun seinen Eltern im Haus. Ins Ausland zu gehen verunsichert ihn, er ist aber auch hier mit seinem Alltag unzufrieden. „Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Ich habe Angst davor, in einem fremden Land alleine zu sein, sehe aber in Albanien keine Perspektiven“.
Ballsh
Unser nächstes Ziel führt uns in den Süden des Landes. Eine stark beschädigte Straße führt in die Stadt Ballsh, wo eine Ölraffinerie die Luft verunreinigt. Der Geruch von Benzin macht das Atmen schwer, aber die Bewohner scheinen es nicht mehr zu bemerken und sind jedenfalls froh über ihre Arbeitsplätze in der Raffinerie. Hier spreche ich mit einer Gruppe von Mädchen, die alle in dieselbe Klasse gehen, in derselben Umgebung wohnen und eng miteinander befreundet sind. Sie haben unterschiedliche Persönlichkeiten und Charaktere, aber ich war davon beeindruckt, wie gut sie alle Englisch sprechen. Sie leben in einer Stadt mit wenig Möglichkeiten und sind es deshalb gewohnt, amerikanische Filme anzuschauen und auf diese Weise die Sprache zu lernen. Eine von ihnen ist die zarte und sensible Valentina Malasi; sie ist wie ein Vogel, der in einem Käfig gefangen ist. Ihre Eltern haben ein Restaurant im Stadtzentrum, und sie hilft dort oft aus. Am liebsten malt sie, und ihr Zimmer ist voller Zeichnungen und Bilder.
Eine weitere Freundin in der Gruppe ist Fabiola Dishaj, die schüchterne und stille Tochter einer Schulleiterin und eines Feuerwehrmannes. Vor kurzem hat sich ihr Vater bei einem Arbeitsunfall 60% seines Körpers verbrannt. Der Unfall gab ihr einen Anstoß: „Ich möchte Ärztin werden, denn ich möchte mich um meinen Vater und meine Leute kümmern. Arzt sein ist toll, denn man zaubert ein Lächeln auf das Gesicht der Menschen“.
Die Vorbilder von Fiona Lamaj sind ihre Altersgenossen in den USA; sie möchte ebenso frei sein und ihre Jugend in vollen Zügen genießen. Sie ist mutig und romantisch und träumt davon, verliebt zu sein, hat aber gleichzeitig Angst, dass Liebe nur Schmerz mit sich bringt.
Klevi Malasi wird von ihrer Familie ständig bewacht. Aber wenn sie Gelegenheit hat wegzugehen, spielt sie gerne mit ihren Freundinnen. Ihr Traum ist es, ein IT-Ingenieur zu werden und Programme zu entwickeln. „Ich möchte ein IT sein, denn ich kommuniziere gerne mit Leuten über das Internet. Ich schaue mir Filme an, wo Leute mit Computern großartige Sachen machen. Wir sind noch immer sehr weit vom wirklichen Leben entfernt ...“. Ich bat um die Erlaubnis ihrer Eltern, und unter der Aufsicht der Schulleiterin durften wir ihren Hof verlassen und uns zu einem kleinen See in der Umgebung begeben.
Mjeda
Unser letztes Ziel ist Mjeda, eine kleine Siedlung in der Region Shkoder, die weltweit für ihre Tradition der Blutrache bekannt ist. Hier sehen wir die wahre Schönheit der albanischen Natur: mächtige Flüsse, umgeben von Bergen, Wäldern und herrlichen Wiesen. Die Menschen hier scheinen entspannter zu sein als in anderen Orten und haben ein besseres Einkommen. Empfangen werden wir von zwei Freundinnen, Griselda Brahimi und Erisa Brahimi, die echte albanische Gastfreundschaft unter Beweis stellen. Beide Mädchen sprechen ebenfalls sehr gut Englisch und haben sich ihre Sprachkenntnisse aus Filmen angeeignet; die Persönlichkeit dieser Mädchen unterscheidet sich aber eindeutig von der Wahrnehmung der "Rolle der Frau" in der traditionellen Gesellschaft. Obwohl sich beide Familien als Muslime bezeichnen, haben sie sie in Bezug auf die Religion einen eher neutralen Lebensstil. Die Mädchen haben scheinbar keine religionsbedingten Einschränkungen und können selbst über ihr Leben bestimmen.
Erisa hat eine Vorliebe für Biologie und möchte Ärztin werden. “Ich würde gerne ins Ausland gehen, und als Arzt bekommt man auf der ganzen Welt Arbeit. Ich bin bereit, alles zu tun, um meinen Traum zu verwirklichen: Ein schönes Leben führen und meiner Familie helfen”.
Griseldas Familie lebte früher in Griechenland, wo ihr Vater seinen Job hatte, aber jetzt ist er arbeitslos. Ihre Familie investiert alles in die Ausbildung und die Zukunft ihrer Kinder. Das Mädchen hat eine sehr enge Beziehung zu seiner Mutter, und ich bin davon überzeugt, dass ihre Mutter alles tun wird, damit die Tochter frei über ihr Leben entscheiden kann.
Jutta Benzenberg:
Die Kinder von Adriatik City
5.-15. August
Text Jutta Benzenberg, Interview Ben Andoni
Gestern unternahm ich die letzte Reise für unser Projekt nach Albanien zur Adriatik City. Ben, der Albanische Journalist und ich fahren durch zahlreiche verschlafene Straßendörfer.
Die Häuser proper, teilweise neu gebaut, jedes in seinem eigenen Baustil und mit Farben, die die Zugehörigkeit zu hiesigen Parteien zeigen. "Sozialistisch” von Pink bis Knallrot zu Bordeaux, “Demokratisch” von Hellblau bis Petrol. Die Gelben könnten dann die Farben der Emigranten sein…
Heute sind wir da, um die jüngsten Einwohner von Adriatik City zu fragen, wie sie sich ihr Leben in ihrem Land vorstellen und um noch einige begonnene Geschichten fotografisch zu ergänzen.
Wir sind wie immer auf gut Glück losgefahren. So arbeite ich immer. Nach dem Motto: Mal sehen was passiert. Und heute passiert vieles.
Für die Kinder und deren Mütter, die Väter schliefen alle, waren wir eine willkommende Abwechslung in den langen Ferien, die die Kinder zu Hause in der für uns empfundene Einöde verbringen. Ich ließ mir alle Orte zeigen, die sie zum Spielen, Hausaufgaben machen und Schlafen haben. Die Kinder, eine Clique, wie man sie aus der Kinderserie “Die Pfefferkörner “ kennt. Alle eng miteinander verbunden, lebhaft und abenteuerlustig. Sie nahmen mich an die Hand und führten mich in eine bizarre, karge Landschaft. Man könnte meinen, wir seien in Afrika, auch die Hitze war vergleichbar. Dann zeigten sie mir die Zimmer, in denen sie schlafen und spielen. Ein eigenes Kinderzimmer haben sie nicht, geschlafen wird auf dem schmalen Sofa in der Küche. Sie schickten mich auf eine Zeitreise, die mich zurück ins Jahr 1991 brachte.
Die Kinder haben unendlich viel Spielraum und bewegen sich in allen Wohnungen, als gehörten sie allen. Als gäbe es keine Distanz zwischen den Familien.
Eine bildschöne junge Mutter erzählt mir stolz, dass sie eine Wohnung mietet und die gegenüber gekauft hätte. Die Einrichtung wurde zusammengeschustert aus alten Tischen und Hölzern. Aber sie sind stolz auf das, was sie haben. Bewundernswert.
Ein junger Mann ruft uns vom Fenster aus zu, ob er helfen könne. Es stellt sich heraus, dass er in der Hauptstadt Tirana lebt und hier seinen Urlaub verbringt. Dieser Ort sei für ihn aber seine Heimat. Er erzählt mir, dass er als Kind jeden Tag mit dem Esel loszog, um frisches Wasser zu holen. Dann zeigt er seinen Arm und sagt: "Schau, wenn ich das erzähle, bekomme ich Gänsehaut". Auf der Rückfahrt nach Tirana diskutieren der Journalist und ich über den Titel des Projekts “Im Schatten”. Ich sehe diese Kinder nicht im Schatten. Sie sind glücklich hier auch ohne die Dinge, die die Kinder in Tirana, Berlin oder Paris haben. Die Freiheit, die sie geniessen, reicht ihnen zum Leben.
Aber es stellt sich immer noch die Frage, was sie sich für ihre Zukunft wünschen.
Einige Antworten fanden wir in Gesprächen und sie sagen mehr als alle Analysten, die hier jeden Tag in den zahlreichen Talkshows im TV auftreten.
Adjola (10 Jahre alt): I am convinced to be a lawyer. You could win and be very important person. Also, Albania needs beauty girls to be lawyer. But, also I would like to be a doctor in medicine. I like this profession too, because I see in Turkish movies how important the doctor are. We need also here the doctor because we do not have the doctor. You have to go far to confront the doctor.
Gerald (11 Jahre alt): I would like to be singer. The singer can profit a lot and like to be in Tv every day. I should sing and dance even here you can not get proper place to do, but I get possibility to do this lonely in my room. I like to be as famous and I will do that. Also I like to be Ninxha, but I do not say this to the people, because they can laugh with me.
Jutta Benzenberg:
Adriatik City
Januar 2018
"Ich zeige dir einen Ort in Albanien, den du so schnell nicht vergessen wirst." Und ja, Herve der Franzose, der genau wie ich schon so lange in Albanien lebte, hatte Recht. Adriatik City ließ mich nach der ersten Begegnung nicht mehr los. Diese Geisterstadt ist wie ein Ort, den man eigentlich nur im Traum finden kann. 4 Häuserblocks mitten in Nirgendwo, die in der Hoxha Zeit errichtet wurden für Arbeiter, die in einer staatlichen Fabrik beschäftigt werden sollten. Doch wurde diese Fabrik nie fertiggestellt, aber die Menschen, die dort lebten, blieben auch nach der Wende.
Es fiel mir auf, dass es viele Kinder dort gibt, die offensichtlich viel Spaß in dieser so großzügigen, einsamen Landschaft haben. Sie sprangen auf den Bunkern herum, liefen ziellos von einem Haus zum anderen, zeigten mir die alte verrottete Schule. Eine unglaubliche Energie, die in dieser verlassenen Gegend freigesetzt wird.
Sie sagen mir: "Wir warten nur darauf bis wir erwachsen sind, und dann hauen wir ab".
Wir, Ben Andoni, der albanischen Journalist, und ich, trafen die Männer dieser vergessenen Stadt in dem modernen Restaurant, dass absurderweise in dem Nichts gebaut wurde und tranken, wie es so üblich ist, viel Kaffee und Raki (Schnaps). Bei all ihren Beschwerden blieb mir ein Satz im Kopf. Einer sagte zu mir: "Weißt du Jutta, wenn deine Kanzlerin uns sagen würde, dass die Albaner ohne Probleme nach Deutschland kommen können, bliebe Albanien schon morgen ohne einen einzigen Menschen".
Als sie aber sahen, wie bestürzt und traurig ich war nach der Aussage, scherzten sie, schwärmten von der Landschaft, dem guten Essen und dass es dann doch nicht so schlimm sei, wie es aussehe, und sie die Hoffnung nicht verloren haben. Sie wollten den Gast nicht betrübt nach Hause gehen lassen, denn egal wo man in Albanien ist, zählt Gastfreundschaft zu ihrem höchste Ehren-Kodex .