Interview mit Ingo Schulze
Was brauchen wir wirklich?

Ingo Schulze Interview
© Ingo Schulze

Mit dem international renommierten Autor geht unsere Interviewreihe zu Ende. Ingo Schulze steht mit seinen Büchern und Essays für eine kritische Auseinandersetzung mit unserer konsumorientierten Gesellschaft. Die Krise habe uns gezeigt, sagt Schulze, dass politisches Denken und Handeln auch ohne Rücksicht auf Wachstum und Gewinn möglich ist. Wäre das nicht ein Ausgangspunkt für eine gerechtere Welt?

Von Maria Carmen Morese & Johanna Wand

Wie hat die Corona-Krise Ihre Arbeit verändert?
 

Mein jüngster Roman ist am 4. März erschienen, am 12. März hatte ich in Leipzig die letzte von insgesamt vier Lesungen vor Publikum daraus (“Die rechtschaffenen Mörder”, S. Fischer). Alle anderen Lesungen fielen aus. Nun werde ich am Freitag, d. 19. Juni wieder eine Lesung vor Publikum haben. Insofern war für mich die Coronakrise eine Art Wellenbrecher, das Buch ist gerade heraus und eine Woche später ist alles dicht. Ungefähr 30 Veranstaltungen sind ausgefallen. Es gab ein paar virtuelle Lesungen und Gespräche, aber es ist eigenartig, ohne Publikumsreaktionen zu lesen und zu sprechen, mir fehlen die Fragen aus dem Publikum. Ich lerne mein Buch ja tatsächlich erst durch die Leserinnen und Leser kennen. Natürlich habe ich auch finanzielle Einbußen durch den Ausfall der Lesungen.
 
Was haben wir nach 3 Monaten Lockdown gelernt? Haben wir etwas gelernt?
 

In Deutschland sind wir vergleichsweise glimpflich davon gekommen. Zuhause sein zu müssen ist für mich keine Strafe, ganz im Gegenteil. Und da die Kinder schon größer sind, war es vom Gefühl her ein bisschen wie Weihnachtsferien, weil man da auch von früh bis abends kocht und um den Tisch sitzt.
Ich war und bin fasziniert vom Primat des Politischen. Politikerinnen und Politiker hören auf Wissenschaftler und handeln danach, ohne Rücksicht auf das, was bis eben noch unantastbar schien, nämlich wirtschaftliches Wachstum und Gewinn. Das wünschte ich mir auch weiterhin. Es gibt so viele Dinge, die wir aufgrund von wissenschaftlichen Aussagen ändern müssen - von der Kinderbetreuung, dem Gesundheitswesen über die soziale und ökonomische Ungleichheit bis zum Kampf gegen die Erderhitzung -, dass die politischen Entscheidungen während der Corona-Zeit ein Beispiel gegeben haben, auf das man nun stets verweisen kann.
 
Die neuen Umstände beunruhigen uns, aber sie ermutigen uns auch zu visionärem Denken. Von welchem Danach träumen Sie?
 

Die Krise hat im Grunde die Verhältnisse kenntlicher gemacht. Wir haben fragen müssen, was brauchen wir wirklich? Und nicht: Wie können wir noch mehr produzieren und verkaufen? Dieses andere Denken, das der Gesellschaft gezwungener Maßen auferlegt worden ist, halte ich aber für zukunftsweisend. Es kann nicht sein, dass die erste Bürgerpflicht darin besteht zu konsumieren. Das ist absurd! Wenn unsere Gesellschaft nur dann gut funktioniert, ist etwas falsch an ihr. Das ist wirklich keine neue Erkenntnis, aber jetzt wurde sie mal wieder evident.
 
Jetzt sehen wir, dass scheinbar alles so weiter geht wie zuvor. Worüber sollten wir noch einmal nachdenken?
 

Wir sollten darüber nachdenken, was wir für systemrelevant halten, das heißt auch, wie wir diesen Begriff interpretieren. Systemrelevant wurden diejenigen, die ziemlich schlecht bezahlt werden, für die es kein home-office gab, die weiterhin die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen mussten, um zur Arbeit zu fahren und die in der öffentlichen Wahrnehmung kaum sichtbar sind oder völlig unsichtbar. In welcher Fernsehserie, in welchem Museum, in welchem Roman kommen die vor, die unser materielles Leben gewährleisten? Die Systemrelevanz von Literatur und Kunst ließe sich daran bemessen, in wie weit es gelingt, diese Unsichtbaren national wie international sichtbar zu machen.
 

Biographie

Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren und lebt in Berlin. Nach dem Studium der klassischen Philologie in Jena arbeitete er zunächst als Schauspieldramaturg und Zeitungsredakteur. Bereits sein erstes Buch „33 Augenblicke des Glücks“, 1995 erschienen, wurde sowohl von der Kritik als auch dem Publikum mit Begeisterung aufgenommen. „Simple Storys“ (1998) wurde ein spektakulärer Erfolg und ist Schullektüre. Es folgten das Opus magnum „Neue Leben“ (2005), die Erzählungen „Handy“ (2007) und „Orangen und Engel“ (2010) sowie die Romane „Adam und Evelyn“ (2008) und „Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“ (2017), für den Ingo Schulze mit dem Rheingau Literatur Preis ausgezeichnet wurde und der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. Zudem veröffentlichte Ingo Schulze Essays und Reden, darunter „Was wollen wir?“ (2009) und „Unsere schönen neuen Kleider“ (2012), sowie das Künstlerbuch „Einübung ins Paradies“ (2016). Im März 2020 erschien zuletzt der Roman „Die rechtschaffenen Mörder“. Ingo Schulzes Werk wurde auch mit internationalen Preisen ausgezeichnet und ist in 30 Sprachen übersetzt. (www.ingoschulze.com)

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