Das Projekt

Kunst - Begriff erweitern! ©aep

Anlässlich des 100. Geburtstages des Künstlers Joseph Beuys hat das Goethe-Institut Italien Kunststudierende aus den Kunstakademien Düsseldorf und Brera in Mailand dazu eingeladen, Skizzen für Aktionen und an Aktion gebundene Werke zu entwerfen, wie auch artist statements zu formulieren, die sich mit der Frage nach einer Erweiterung des Kunstbegriffs konfrontieren.
Das Projekt wurde vom Goethe-Institut Mailand organisiert.
 

Autorin und Kuratorin Susanna Schoenberg

Das Lebenswerk von Joseph Beuys steht für eine Zeit zwischen den Zeiten: der Zeit ohne wahre Kunst und Wissenschaft des Dritten Reiches, und der eines multidimensionalen Avantgardismus, der alles Mögliche anzusprechen vermag, und sich vor allem im Jetzt verortet. Diese Zeit zwischen den Zeiten ist nicht überall gleich zugänglich; viele Dimensionen des Handelns und Argumentierens von Joseph Beuys können im Hinblick auf diese Zeit gar nicht richtig mit einem Publikum der Gegenwart behandelt werden, so global dieses Publikum heute ist. Die "Wunde", die Joseph Beuys die Betrachter*in zum Zeigen aufforderte, können die meisten Betrachter*innen des Heute nicht zeigen. Nicht dass die Themen unaktuell sind, aber die Betroffenheit ist eine andere, so wie sie erlebt und reflektiert wird, und dementsprechend künstlerisch verwendet werden kann.

Die Kompetenz, über die dieses Projekt verfügen will, um Joseph Beuys' Lesbarkeit, Aktualität und Verwertbarkeit mitzudiskutieren, entspringt aus der Reflektion künstlerischer Arbeit. So sind es Kunststudierende, die mit ihren artist statements und ihren Skizzen für Aktionen und an Aktion gebundene Werke (hier) auf die Frage zu antworten versuchen, was eine Erweiterung des Begriffs der Kunst (heute) überhaupt bedeutet. Sie studieren an zwei europäischen Kunstakademien, kommen aus weit mehr unterschiedlichen Ländern, sprechen mehrere Sprachen, benutzen vielfältige Mittel - Techniken, Medien, kulturelle und subkulturelle Bezüge.

Beuys selbst hat nachdrücklich auf die künstlerische Arbeit hingewiesen, als das, was im Werk den Wert schafft. Die Kompetenz (die Ermächtigung) von Kunst basiert auf Arbeit, auch nicht unbedingt auf Kunstfertigkeit, sondern auf dem Verständnis von künstlerisch-kreativem Prozess als Arbeitsprozess. Dementsprechend bedeutet die Erweiterung des Kunstbegriffs eine Korrektur der Betrachtung davon, was an der Kunst Wert ist, wie auch eine Übertragung der Methode der Kunst auf andere Bereiche der Gesellschaft. Der Erweiterung geht (nach Beuys) eine "Zuspitzung" voraus: Mit dem erweiteten Kunstbegriff ist nicht eine Auflösung der Kunst gemeint (in das Soziale oder Politische), sondern eher eine Übertreibung von Kunst, eine Radikalisierung künstlerischer Arbeit. Von diesem Standpunkt aus ist es auch nicht überraschend, wenn das künstlerische Werk für die Betrachter*innen nicht (rational) zugänglich ist. Obwohl Beuys seine Werke sehr oft öffentlich gedeutet hat, hat er die Position vertreten, dass bei der Betrachtung von und der Begegnung mit Kunst keine Deutung gefragt oder notwendig sei.

Um die Erweiterung des Kunstbegriffs konkret anzugehen, wurden die eingeladenen Nachwuchskünstler*innen dazu angeregt, sich zu grundsätzlichen (arbeitsethischen und kunsttheoretischen) Fragen zu positionieren: Wie betrachte ich, die künstlerisch arbeitende Person, das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft; wie schätze ich die Wirksamkeit künstlerischer Arbeit in der Bestimmung des Wertes von Kunst ein; wie erlebe ich die Einschreibung der künstlerischen Persönlichkeit in das eigene Werk?
Sie wurden dazu angeregt, nicht so sehr die eigene äußerliche Vorstellung der Position einer Künstler*innen in der Gesellschaft zu vergegenwärtigen, sondern die Evidenz einer Haltung in der eigenen Arbeit zu suchen, mit Achtung möglicher Fragen zu Identität und Diversität, Feminismen, dekolonialen Praktiken, und der Artikulierung von Verletzbarkeiten.

Zehn künstlerische Positionen konnten ihre Skizzen für die hier veröffentlichte Präsentation umsetzen, die Text, Bild und zeit-basierte Medien kombiniert. In den einzelnen Seiten zeigen sich Beiträge, die unterschiedliche Zustände der Formgebung präsentieren, vom Manifest (Nazarenko, Ginex, Zhongnanhai), über die Skizze (Odori, Ozherelyeva) und die dirigierte Aktion (Corti, Jess, Manege Kollektiv) zum  Werk, das sich selbst hinterfragt (Yang, Epstein). Sie fokussieren Prozeßhaftigkeit (Jess, Ozherelyeva), basieren auf Kollaboration (Zhongnanhai, Yang) und Verhandlung (Jess), bezwecken Partizipation (Manege Kollektiv, Odori) und Transfer (Corti, Jess). Sie agieren kollektiv und subversiv (Manege Kollektiv), transkulturell (Jess) und subkulturell (Nazarenko, Zhongnanhai). Sie stellen Fragen der Identität (Ginex), der Verbindung (Nazarenko, Ozherelyeva), der Persönlichkeit und der Heilung (Corti), der Tat und der Verantwortung (Epstein, Manege Kollektiv). Sie verwenden Techniken wie Zeichnung, Animation, Collage, Text, Gesang, Tanz, Karaoke, Cyanotypie, Schneiden und Nähen, spray lettering, action painting, happening, Übersetzungen und scoring unterschiedlicher Art, und das Fällen eines Baumes.

Mit einer Präsentation im Raum hätte das Projekt eine komplexere Architektur ausprobieren können, mit Querverweisen, dialektischen Kontrapunkten und Kontaminierungen zwischen den einzelnen Arbeiten. Die Vielfalt der Ansätze steht auch für ein Feld von Ideen und Erfahrungen, das aus unterschiedlichen Erweiterungen des Kunstbegriffes entsteht. In diesem Feld spielt die Hinterfragung des Kunstmarkts eine Rolle, begleitet von einer materialistischen Prägung und einer Erziehung zum kollektiven Handeln für den Wohlstand der Gemeinschaft. An einem virtuellen Gegenpol zeigt sich das Interesse für die Relation zwischen Dingen, das sich intim definiert und gleichzeitig die Konkretheit der in Relation gebrachten Dinge mit einer Abstraktion der Relation und der Verbundeheit hervortreten lässt. Mehrere Positionen verwenden sich selbst, sie suchen einen Bezug zum eigenen Gesicht, zur eigenen Urteilskraft, zu einer im Mythos gelegenen Identität. Andere betonen die Inklusion des Anderen, mit Bewegung, Tanz und Gesang. Auf einer Seite wird Konsens geübt, auf der anderen der Angriff, der unsere Denkgewohnheiten und Widersprüche herausfordert.
Die aktuelle Umsetzung präsentiert die einzelnen Beiträge als selbstständige Module, die zwar nicht über die Instrumente verfügen, um miteinander zu interagieren, dafür aber selbst für Komplexität und Mehrschichtigkeit stehen. Die Elemente jeder Präsentation lassen Selbstreflektion, Fragestellung, Formfindung als Werkteile erscheinen; in dieser Perspektive sind die Beiträge selbst Umsetzungen des Projektauftrags KUNST - BEGRIFF ERWEITERN!

Einen besonderen Dank richte ich an die Teilnehmer*innen für ihre Offenheit und ihre Arbeit, an das Team von Goethe-Institut Mailand, an die Kolleg*innen der Videowerkstatt der Kunstakademie Düsseldorf, an Manuela Gandini und an Professor Romano Gasparotti für die Beratung in der Auswahl der künstlerischen Positionen aus der Accademia di Belle Arti di Brera.

Susanna Schoenberg ist Künstlerin mit einem Schwerpunkt in Medien, Film und Performance; ihr erweiterter Kunstbegriff lässt sie als Dozentin und Kuratorin agieren, mit einer Vorliebe für Interdisziplinarität und Transkulturalität.
 

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