Rimini Protokoll
Theater als Kontakt mit der Wirklichkeit
Seit mehr als 20 Jahren machen Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi unter dem Namen Rimini Protokoll gemeinsam Theater. Ihre Arbeiten wurden als postdramatisches Theater bezeichnet, als Neues Dokumentartheater oder als Experten-Theater. Denn in Stücken von Rimini Protokoll treten nie Schauspieler auf, die eine auswendig gelernte Rolle aus einem literarischen Theaterstück aufsagen, sondern Menschen, die dem Publikum aus ihrem Leben etwas erzählen: Experten eben für ihr eigenes Leben.
Von Johannes Birgfeld
Eigentlich aber kann man Rimini Protokolls Theater noch einfacher beschreiben: Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi nutzen das Theater als Mittel, um das Publikum immer neu und ganz unmittelbar in Kontakt mit der Wirklichkeit zu bringen. „Die Geschichten selbst“, so haben Sie es einmal formuliert, „müssen nicht erfunden werden, es gilt, sie einzurahmen, auszuwählen und zu fokussieren, zu verbinden, so dass das Publikum sie selbst mit dem eigenen Hermeneutik-Mikroskop durchleuchten kann“.[1] Rimini Protokoll erfindet keine Geschichten, sondern Rimini Protokoll sucht Geschichten, die unseren Blick auf die Wirklichkeit verändern, bereichern, hinterfragen. Und dann lädt Rimini Protokoll Menschen ein, diese ihre Geschichten selbst und ganz direkt anderen Menschen zu erzählen.
Experimente mit der Repräsentation in Theater und Politik
Von Anfang an stellt das Theater von Rimini Protokoll eine ganz zentrale Frage des Theaters neu: Wer repräsentiert hier eigentlich wen? Wer darf auf der Bühne stehen? Für welche Geschichten bietet das Theater ein Forum? Schnell dachten Rimini Protokoll diese Frage auch über das Theater hinaus: 2002, wenige Jahre nach dem Umzug des Bundestages von Bonn nach Berlin, inszenierten sie in Bonn das Stück Deutschland 2. Zuschauer, die zu diesem Stück erschienen, konnten sich nicht nur zurücklehnen und zuhören. Vielmehr wurden sie alle gemeinsam zu den Darstellern in diesem Stück. Denn von 9 Uhr morgens an bis in den späten Abend wurde im Theater eine zeitgleich in Berlin stattfindende Sitzung des Bundestages in Bonn live kopiert: Über Ohrhörer wurden die Reden der Politiker:innen an ihren jeweiligen Bonner Stellvertreter:innen übertragen, die sie dann möglichst zeitgleich laut nachsprachen. So wurden die Zuschauer nicht nur Schauspieler, sondern auch zu den Stellvertretern jener Stellvertreter, die im Bundestag ihre Interessen politisch repräsentieren sollen. Die im Berliner Bundestag Abwesenden, die Bevölkerung, die im Berliner Bundestag von Repräsentanten vertreten wird, die in ihrem Namen sprechen, traten in Bonn an, um für einen Tag selbst zu den Vertretern ihrer selbst zu werden. Einen Tag lang verkörperten sie die, die sie sonst verkörpern und vertreten.2021: „Konferenz der Abwesenden“ oder: neue Fragen der An- und Abwesenheit
Seit ihren Anfängen haben Rimini Protokoll die Frage der Repräsentation in Politik, Gesellschaft und Theater vielfach neu gestellt. 2019 begannen sie, ein Stück zu konzipieren, in dem Experten im Mittelpunkt stehen sollten, von denen von Beginn an feststand, dass sie nicht zu den Aufführungen anreisen würden. Es entstand die Konferenz der Abwesenden. Nach der deutschsprachigen Premiere in Dresden war die in Kooperation des Institut Pierre Werner, des Goethe-Instituts und des Théâtre National du Luxembourg organisierte Aufführung in Luxemburg die erste, die an zwei Tagen nacheinander in zwei verschiedenen Sprachen stattfand – auf Deutsch und Französisch –, und es war zugleich am zweiten Abend die französische Premiere.Wer zu diesem Abend als Publikum erschien, konnte darauf gefasst sein, bei der Inszenierung mithelfen zu müssen, denn an diesem Abend waren weder Schauspieler noch Experten vor Ort. Anwesend waren allein das Publikum, die Techniker des Théâtre National du Luxembourg (mit Unterstützung von Daniel Wetzel von Rimini Protokoll im Hintergrund), ein Vorschlag für die Gestaltung des Bühnenbildes und die Texte der eingeladenen Experten: ins Deutsche übersetzt als Tonband-Mitschnitte. Zum Vortrag würden diese Texte nur dann kommen, wenn sie von Zuschauern gesprochen würden, die dafür auf die Bühne gehen würden. Anders gesagt: Ohne die Bereitschaft, den Erfahrungen eines anderen Menschen eine Stimme und einen Körper zu geben, für jemand anderen die Stimme zu erheben und ihn physisch zu repräsentieren, würde es den Theaterabend nicht geben. Was aber kann spannender sein und aufregender, als einmal ohne ein Risiko für den eigenen Körper das eigene Leben gegen ein anderes zu tauschen, als jemandem, der eine Stimme braucht, eine zu leihen? Schnell boten sich im TNL Zuschauer an, die ersten Rollen zu übernehmen. Und im Zweifelsfall half das Locken der Moderatorenstimme vom Band mit auf der Bühne bereitstehenden Pralinen dabei, auch schüchtern-mutige zur Mitgestaltung des gemeinsamen Theatererlebnisses zu verlocken.
Klimaschutz und Pandemieerfahrung
Rimini Protokoll hatten die Konferenz der Abwesenden zunächst als Antwort auch auf die Klimakrise gedacht: Lässt sich Theater allgemein CO2-neutraler gestalten? Dann kam die Corona-Pandemie dazu und so wurde die Konferenz der Abwesenden zu einem vielgestaltigen Porträt von Erfahrungen mit Abwesenheit. Ein Stück, das auf gewinnbringende Weise an jedem Abend anders verläuft. Immer schlüpfen andere Zuschauer in die gleiche Rolle und interpretieren sie neu. Der über das Ohr gehörte Text wird von jedem Interpreten anders vorgetragen, klarer, schüchterner, dramatischer, zögernder, bestimmter. Einen Gewinn aber ziehen aus dem Abend nicht nur die Zuschauer vor Ort, die sich selbst zur Stimme andere machen, um ihren Geschichten Gehör zu verschaffen. Rückmeldungen sendet das Rimini Protokoll-Team auch an die Experten, die so Abend für Abend mit an sie verschickten Nachrichten und Fotos erleben, wie ihnen kurzzeitig wieder ein gesunder Körper geliehen wird oder dass sie doch in Europa ein Stimme bekommen, auch wenn sie daran an der Peripherie des Kontinents lange schon nicht mehr glauben können._____________________
[1] Rimini Protokoll: ABCD. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Mit e. Nachwort hg. v. Johannes Birgfeld. Berlin: Theater der Zeit Verlag 2012, S. 10.