Die zeitgenössische Definition des Begriffs „Wohnen” bezeichnet die Gesamtheit unserer existentiellen Lebensbedingungen. Sie verweist auf eine allgemeine philosophische Reflektion über die Ontologie des Seins und liefert zugleich einen Ansatz zur Interpretation unseres konkreten historischen und sozialen Kontextes.
Wohnen wird nicht – oder nicht nur – in seiner wörtlichen Bedeutung als „Leben an einem physischen Ort“ verstanden, sondern vielmehr in der philosophischen Auslegung des Begriffs, die der deutsche Philosoph Martin Heidegger mit dem Satz „Mensch sein heißt als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen“ umschrieben hat: Als Dasein zwischen zwei oder mehreren Welten, in einem Grenzraum, wo sich die physischen und zeitlichen Dimensionen des Ortes nahezu auflösen, in einem Spannungsfeld mannigfaltiger und stets variierender Formen des „Wohnens“ (das Haus, das Land, die Erde…).
Diese Interpretation schlägt sich in der architektonischen Skulptur
Vittorio Messinas Habitat con varchi in una regione piovosa nieder, mit der der Künstler erneut auf jenes Konzept der „Zellen” zurückgreift, das seinen Schaffensprozess seit nunmehr über dreißig Jahren prägt. Die Zelle versinnbildlicht für Messina die existentiellen Bedingungen unseres Daseins, einen symbolischen und variablen Ort, der, entsprechend des ihn umgebenden Raumes, stets neue Gestalt annimmt. In Messinas Zellen vereinen sich Komponenten der kalt-nüchternen Industriearchitektur mit immer wieder wechselnden Gegenständen unseres täglichen Lebens. Die verschiedenen Elemente sind übereinander gelagert oder hängend angeordnet und werden häufig mittels wenig stabiler Klemmvorrichtungen zusammengehalten. Die Zelle als begriffliche und zugleich konkret physische Entität wird so zum Emblem des Übergangs, des ungewissen Wohnens, der Grenzlinie zwischen einem noch nicht eröffneten und einem bereits abgeschlossenen Kapitel der modernen Technologie, zu jenem fluktuierenden Raum, der sich zwischen Ratio und Instinkt auftut. Messina stellt so eine Verbindung her zwischen dem Begriff „Wohnen“ als abstrakt-ontologisches Konzept und seiner konkret-historischen Lesart, die sich mit der Darstellung einer im Verfall begriffenen Industriearchitektur eröffnet.
Die deutsche Antwort auf Messinas Skulptur ist
Andreas Lutz’ Video-Installation
Wutbürger. Mit diesem 2010 angeblich von dem deutschen Journalisten Dirk Kurbjuweit geprägten Neologismus bezeichnet man den klassischen Durchschnittsbürger, der in öffentlichen Protestkundgebungen lauthals seinem wachsenden Unmut über die aktuelle politische und wirtschaftlichen Lage sowie die Verarmung des Mittelstands Luft macht. In seiner fünfstündigen, in eine Box projizierten Video-Performance greift Lutz auf diesen Ausdruck zurück, um den Niedergang einer bestimmten Gruppe des in den Nachkriegsjahren entstandenen Bürgertums zu definieren, der stellvertretend ist für das Scheitern des typischen – im spezifischen Falle deutschen – „Herrn Jedermann“.
Das ungewisse Wohnen betrifft auch die sogenannten Randgruppen der Gesellschaft, deren Auftreten und beruflicher Status nicht den Standards des bürgerlichen Mittelstands entsprechen. Anders als Lutz sieht
Ulf Aminde in der Ausgrenzung allerdings weniger den Niedergang, als vielmehr die Ungewissheit des gesamten Daseins, die jedoch von weiten Teilen der westlichen Bevölkerung als geradezu normale Konstante des Lebens bereitwillig akzeptiert wird. In seinem Video
Weiter (2004, „Keep going”) gelangt sie in Form eines Tanzes, eines Spiels zur Darstellung: Vor einer Kulisse des urbanen Zerfalls, auf einer von Bauruinen umgebenen Rasenfläche spielt eine Gruppe von Street Punks zum Sound ihrer Musik die „Reise nach Jerusalem“. Sie tanzen, fallen zu Boden, rempeln sich gegenseitig an, zerstören nahezu alle Stühle und strahlen dabei dennoch durchgehend Zufriedenheit und Lebensfreude aus. Der Mangel an Gewissheiten wird bei Aminde zu einem positiven Lebensstil, zu einem erstrebenswerten Zustand.
Valentino Catricalà