Transparenz in Sammlungsbeständen schaffen
Menschliche Überreste in Museen
Die ersten Rückgaben menschlicher Überreste aus ethnologischen Sammlungen in deutschen Museen zeigen eine große Veränderungsbereitschaft mit Blick auf menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten. Der Provenienzforscher Ilja Labischinski erläutert, welche Aspekte für einen respektvollen Rückgabeprozess wichtig sind und welche Rolle dabei die Forschung und die Mitarbeitenden in Museen spielen.
Von Ilja Labischinski
Im Sommer 2020 beschloss der Stiftungsrat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Rückgabe von zwei Schädeln aus dem Ethnologischen Museum in Berlin an das Museum Te Papa Tongarewa nach Neuseeland. Bei den Schädeln handelt es sich um Toi moko, ein zeitgenössischer Māori-Ausdruck, der für bestimmte sterbliche Überreste von Māori-Vorfahren verwendet wird. Für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz war dies die erste Rückgabe menschlicher Überreste aus ihren Sammlungsbeständen. Unweigerlich fragt man sich: Warum erst jetzt?
Bis heute befinden sich die Überreste zehntausender verstorbener Menschen aus kolonialisierten Gebieten in deutschen Museumssammlungen. Dabei sollte nicht aus dem Blick geraten, dass es sich um eine große Bandbreite an unterschiedlichem Sammlungsgut handelt. Dazu zählen neben menschlichen Schädeln und Knochen auch alle Bestandteile des menschlichen Körpers, die zu kulturellen Objekten verarbeitet wurden, wie beispielsweise menschliche Haare an einer Rassel oder ein Knochen, der zu einer Flöte verarbeitet wurde.
Menschliche Überreste – ein problematischer Begriff
So groß die Bandbreite an menschlichen Überresten in Museen heute ist, so unterschiedlich waren auch die Motive, diese Sammlungen anzulegen. Sammlungen von Schädeln sind eng verknüpft mit der Entstehung der Anthropologie als wissenschaftliche Disziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihnen gemein ist, dass sie lange Zeit nicht als verstorbene Menschen, sondern als Objekte behandelt wurden. Sie gelangten auch aufgrund einer rassistischen Wissenschafts- und Sammlungspraxis in Museen.Der Deutsche Museumsbund definiert menschliche Überreste als alle unbearbeiteten, bearbeiteten oder konservierten Erhaltungsformen menschlicher Körper sowie Teile davon. Dabei ist dies gewiss ein problematischer Begriff, zeugt er doch von einer Objektivierung, die verstorbene menschliche Individuen im Zuge ihres Eingangs in Museumssammlungen erfahren haben. Dennoch spreche ich in diesem Artikel von menschlichen Überresten, da sich der Begriff in der öffentlichen Diskussion und im politischen Diskurs etabliert hat. Gleichzeitig halte ich es für wichtig aufzuzeigen, wie die oftmals gewaltvolle Geschichte von Museumssammlungen noch heute in unseren Sprachgebrauch eingebettet ist.
Rückgaben menschlicher Überreste aus Deutschland an Herkunftsländer sind immer noch Einzelfälle.
Bei der Aneignung von menschlichen Gebeinen aus Gräbern oder aus dem Besitz der Nachfahren lag praktisch nie das Einverständnis der Angehörigen vor oder dieses erfolgte meist gegen deren Willen. Während es schon immer Proteste gegen den Raub von menschlichen Überresten gab, so werden doch spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Forderungen nach ihrer Rückführung immer lauter.
Rahmenbedingungen für Rückgaben
Erst langsam öffnen sich Museen und insbesondere ihre politischen Träger*innen den Forderungen. Aber in Deutschland hat sich die Situation mittlerweile verändert. So sah Monika Grütters, in ihrer Amtszeit 2013 bis 2021 als Staatsministerin für Kultur und Medien, mit der Rückgabe der zwei Toi moko nach Neuseeland ein zentrales Versprechen der „ersten Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten von Bund, Ländern und Kommunen“ eingelöst: die Rückgabe menschlicher Überreste aus kolonialen Kontexten an ihre Herkunftsländer.Der Leitfaden des Deutschen Museumsbundes zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen von 2021 versteht das Eckpunktepapier von März 2019 als Auftrag an die Museen, sich mit Rückgaben auseinanderzusetzen und führt die Empfehlungen für Rückgaben weiter aus. Beide Papiere sehen Provenienzforschung als die Grundlage zur Beurteilung der Herkunft und der Erwerbungsumstände von Sammlungsgegenständen in Museen und damit auch als die Grundlage für Prozesse der Rückgabe menschlicher Überreste.
Die Identität der Mehrheit der menschlichen Individuen in Museumssammlungen ist unbekannt. Somit muss es das Ziel der Provenienzforschung sein, ihre Biografien zu rekonstruieren, ihnen ihre Namen zurückzugeben, ihre Geschichten zu erzählen – kurzum: die menschlichen Überreste zu de-objektivieren und zu re-humanisieren. Für die beiden Toi moko aus Neuseeland ist das leider nicht gelungen. Im Zuge der europäischen Kolonialisierung stieg die Nachfrage so enorm an, dass ein regelrechter Handel mit den Schädeln entstand. Gesichert ist, dass die beiden Toi moko 1879 von Fedor Jagor beziehungsweise 1905 von Hermann Meyer an das Berliner Museum für Ethnologie gegeben wurden. Wie beide in den Besitz der Toi moko gelangten, konnte nicht geklärt werden. Ebenso wenig bekannt sind die Namen und die Biografien der beiden Verstorbenen.
Die Nachfahren und Herkunftsländer in den Mittelpunkt stellen
Sich den Geschichten und Biografien der Individuen in Museumssammlungen anzunähern, kann nur in der Zusammenarbeit mit Forschungspartner*innen aus den Herkunftsländern der Verstorbenen gelingen. Für einen respektvollen Umgang mit menschlichen Überresten sowie einen respektvollen Prozess einer Rückgabe braucht es Partnerschaften mit Nachfahren und Personen aus Herkunftsländern. Wir, Mitarbeitende in Museen, müssen dabei Sorge tragen, dass die Wünsche und Anforderungen dieser Menschen respektiert werden. Dabei müssen wir zuallererst zuhören. Berücksichtigen müssen wir auch, dass der Prozess der Rückgabe für die Angehörigen und Nachfahren der Verstorbenen durchaus schmerzhaft sein kann und traumatische Erinnerungen an koloniale Gewalt auslösen kann. Am Ende sind Museen auch ein Grund, warum diese kolonialen Traumata überhaupt existieren.Dass diese erste Rückgabe menschlicher Überreste aus dem Ethnologischen Museum Berlin so spät erfolgt ist, spiegelt eine tiefgreifende Veränderung in der Sichtweise auf Museumssammlungen wider.
Museen in Deutschland können nicht sterbliche Überreste von Menschen, die aus Gräbern geraubt und für rassistische wissenschaftliche Untersuchungen genutzt wurden, als Sammlungsgut wie jedes andere betrachten. Sie müssen weiter umdenken, auch in Bezug auf die Transparenz ihrer Sammlungsbestände. Vielen Angehörigen der Verstorbenen ist gar nicht bewusst, dass ihre Vorfahren sich heute in deutschen Museumssammlungen befinden. Es muss daher unsere Aufgabe sein, proaktiv auf Interessenvertretungen aus den Herkunftsländern der Verstorbenen zuzugehen. Für die Fälle, für die keine Rückgabeforderungen vorliegen, bedeutet das nicht unbedingt, dass keine Rückgabe gewünscht wird. Andererseits darf nicht automatisch vorausgesetzt werden, dass eine Rückführung gewünscht wird, vielmehr müssen die Vorstellungen und Wünsche der Nachfahren im Mittelpunkt stehen und nicht die der europäischen Museen. Wir müssen Rückgaben zukünftig noch stärker als eine Chance, einen Neubeginn von Beziehungen zu den Nachfahren der Verstorbenen und Menschen aus den Herkunftsländern verstehen. So bekräftigte auch Te Herekiekie Herewini, Leiter der Repatriierung am Museum Te Papa in Neuseeland, dass Rückgaben der Anfang des Prozesses der Wiedergutmachung sowie der Heilung und Versöhnung für die am Rückführungsprozess beteiligten Gemeinschaften seien.