„Afrozensus“
„Diskriminierung in allen Lebensbereichen“
Wie sieht das Leben Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland aus? In welchen Bereichen wurden sie schon diskriminiert und welche rassistischen Alltagssituationen haben sie erlebt? Mit dem „Afrozensus“ führten die Organisationen Citizens For Europe und Each One Teach One 2020 die bisher umfangreichste Onlinebefragung zum Thema durch. Projektleiterin Teresa Bremberger von Citizens For Europe erläutert, wieso eine statistische Erhebung überfällig war und was die Ergebnisse bedeuten.
Von Ceyda Nurtsch
Frau Bremberger, in anderen Ländern liegen schon lange statistische Daten zu den Lebensrealitäten Schwarzer Menschen vor. In Deutschland war das bisher nicht der Fall, zumindest nicht in größerem Umfang. Was ist das Hauptanliegen des „Afrozensus“?
Wir wollten diese Daten überhaupt erst einmal erheben, weil es sie bis jetzt in Deutschland nicht gibt. Obwohl schon internationale Organisationen darauf hingewiesen haben, hat sich die Bundesregierung bisher nicht wirklich darum gekümmert. Dafür wurde sie auch schon von den Vereinten Nationen gerügt. Uns ging es erst einmal darum, eine Datengrundlage bereitzustellen. Zum einen, um Selbstorganisation zu fördern, zum anderen, damit die Politik eine Grundlage hat, mit der sie arbeiten kann, um Maßnahmen zu stärken und zu fördern, die Anti-Schwarzen-Rassismus in Deutschland bekämpfen.
Sie haben für den „Afrozensus“ die Antworten von über 5.000 Teilnehmenden ausgewertet. Wie haben Sie Befragten ausgewählt?
Unsere wichtigste Vorgehensweise ist die Community-basierte Arbeit, das heißt die enge Zusammenarbeit mit Schwarzen Selbstorganisationen, sowohl bei der Entwicklung des Fragebogens als auch bei der Bewerbung der Umfrage. So konnten wir sicherstellen, dass die unterschiedlichen Perspektiven aus den Schwarzen Communities sich in der Umfrage widerspiegeln und sie möglichst viele Schwarze Menschen in Deutschland erreicht.
Sie fragen die Diskriminierungserfahrungen in 14 Lebensbereichen ab, vom Privatleben über Kunst und Kultur bis Bildung und Polizei. Was sind die Hauptergebnisse?
Es ist ganz eindeutig, dass die Befragten in allen Lebensbereichen Diskriminierung erfahren haben. Außerdem bestätigen sich verschiedene Muster von spezifisch Anti-Schwarzem-Rassismus. Zum Beispiel, dass Schwarze Menschen kriminalisiert werden. Ein anderes Muster ist die Fremdmachung, die Exotisierung, obwohl Schwarze Menschen ja schon lange Teil der deutschen Gesellschaft sind. Etwa, wenn den Menschen ungefragt in die Haare gegriffen wird. Diese rassistischen Stereotypen bilden sich auch immer strukturell ab: Wenn Schwarzen Menschen prinzipiell Kompetenzen und Professionalität abgesprochen werden, dann hat das auch immer Auswirkungen auf andere Ebenen, beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt.
Haben Sie diese Ergebnisse erwartet, oder gab es auch etwas, das Sie überrascht hat?
Als Schwarzes Forscher*innenteam haben wir uns in vielen Ergebnissen wiedergefunden. Und es gibt ja schon einen unheimlichen Wissensschatz darüber, wie Schwarzes Leben in Deutschland aussieht. Gleichzeitig hat unsere Umfrage gezeigt, wie divers Schwarzes Leben in Deutschland ist. Überrascht und auch noch einmal bestätigt hat uns bei unseren Fokusgruppen, die wir in den Bereichen Bildung und Gesundheitswesen durchgeführt haben, wie groß das Wissen bei den Menschen selbst ist. Mit welcher Analyseschärfe sie ihr eigenes Leben reflektieren und welche Muster sie erkennen. Das war auch für das Team ein sehr ergreifender und bereichernder Moment.
Wenn es schon einen großen Wissensschatz gibt, wieso braucht es dann noch eine solch systematische Umfrage? Anders ausgedrückt: Warum ist es wichtig, die Einzelerfahrungen in einen kollektiven Zusammenhang zu stellen?
Weil es immer noch so ist, dass Rassismus häufig individualisiert oder Rassismuserfahrungen abgesprochen werden. In dem Moment, in dem wir das in einen größeren Kontext einbetten und all diese Erfahrungen zusammenholen, entsteht eine Validierung der eigenen Erlebnisse. Das nimmt auch ein Gefühl der Isolation.
Hat sich durch die Black-Lives-Matter-Bewegung etwas dahingehend geändert, dass die Stimmen Schwarzer Menschen auch in Deutschland lauter werden?
Die Stimmen waren schon die ganze Zeit sehr laut. Es wird nur jetzt etwas mehr zugehört. Ich persönlich denke, dass die Debatte sehr verkürzt abgelaufen ist. Sie hat immer wieder an einem Punkt angesetzt, über den Schwarze Menschen und Organisationen in Deutschland schon hinaus sind. Der Wunsch wäre, da schon ein paar Schritte weiter zu sein. Anzuerkennen, dass es Rassismus und Anti-Schwarzen Rassismus in Deutschland gibt, und zu gucken, welche Strukturen dazu führen, dass bestimmte Menschen in der Gesellschaft von Teilhabe ausgeschlossen werden.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Ergebnissen des „Afrozensus“?
Für die Politik auf jeden Fall der Handlungsdruck, sich mit dem Thema zu beschäftigen und entsprechende Maßnahmen zu entwickeln. Etwa in Form eines Aktionsplans gegen Rassismus und eines Demokratiefördergesetzes, das auch schon in Arbeit ist. Es braucht Gelder, die Schwarzen Organisationen direkt zugutekommen, und auf jeden Fall eine Professionalisierung im Umgang mit Rassismus. Das beinhaltet unter anderem eine rassismus- und diskriminierungskritische Ausbildung für Lehrer*innen, Psychotherapeut*innen, Ärzt*innen und Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten.
Afrozensus
Über eine Million Menschen afrikanischer Herkunft leben in Deutschland, schreiben die Autor*innen des „Afrozensus“, bis jetzt gebe es über diese Gruppe aber kaum spezifische statistische Daten. Der „Afrozensus“ wollte das ändern: Die Erhebung aus dem Jahr 2020 ist aktuell die größte Befragung unter Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland zu den fünf Themenbereichen Engagement, Diskriminierungserfahrungen, Anti-Schwarzer Rassismus, Umgang mit Diskriminierung, Resilienz und Empowerment. Rund 5.700 Fragebögen wertete das Team aus, führte Expert*inneninterviews, qualitative Befragungen sowie Fokusgruppendiskussionen. Die Teilnehmenden stammen gebürtig aus 144 Ländern und leben alle in Deutschland. Durchgeführt wurde der „Afrozensus“ von der zivilgesellschaftlichen Organisation Citizens For Europe und dem Verein Each One Teach One e.V., finanziert wurde das Projekt von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
Der Bericht kann hier kostenfrei heruntergeladen werden.