Nachbarschaften: Görlitz – Zgorzelec | 1
Die zwei Ufer der Neiße 

Die Altstadtbrücke zwischen Görlitz und Zgorzelec
Die Altstadtbrücke zwischen Görlitz und Zgorzelec | Foto: Roberto Sassi © Goethe-Institut Italien

Görlitz und Zgorzelec trennt ein Fluss. Auf der einen Uferseite liegt Deutschland, auf der anderen Polen. Unser Autor Roberto Sassi hat die beiden Grenzstädte besucht und erzählt in seinem Beitrag von einer schwierigen Vergangenheit sowie einer von Zusammenarbeit und Unterschieden geprägten Gegenwart.

Von Roberto Sassi

Auf der Fußgängerbrücke, die von der Görlitzer Altstadt hinüber nach Zgorzelec führt, finden sich weder Fahnen noch Willkommenstafeln. Passant*innen spazieren in der zarten Spätaprilsonne über die Brücke und eine kleine Gruppe von Tourist*innen bleibt an der Brüstung stehen, um auf das Wasser der Neiße zu blicken, das stillzustehen scheint. Exakt in der Mitte des Flusses verläuft die Grenze zwischen Deutschland und Polen. Die Brücke ist circa achtzig Meter lang, aber nicht weit entfernt verengt sich die Neiße erkennbar auf eine Breite von nicht mehr als zwanzig Metern. Auf der deutschen Seite prägen das spitze Dach der Peterskirche und ihre hohen gotischen Türme die Silhouette der Stadt. Auf der polnischen Seite dominiert ein gewaltiges, turmartiges Gebäude das Stadtbild – ein alter Getreidesilo, den das bunte Gesicht Europas ziert. 

Über die Grenze

Ich lasse die Görlitzer Altstadt hinter mir, denn auf der Wrocławska, der gepflasterten Straße quer zur Brücke in Zgorzelec, wartet ein Taxi auf mich. Es parkt vor einem Laden, der alles Mögliche verkauft, vor allem billige „Zigaretten“, wie zumindest ein deutschsprachiges Schild verspricht. Der Taxifahrer ist um die sechzig, hat ein hartes, rotes Gesicht und scheint nicht besonders glücklich darüber, dass er mich zum Stalag VIII A fahren soll. Er teilt mir den Fahrtpreis in Euro mit, startet seinen alten schwarzen Mercedes und flucht auf Polnisch, als uns ein Moped schneidet. Er dürfte ahnen, dass ich mich für die Geschichte der Stadt interessiere, denn er bemüht sich sehr, mir in gebrochenem Deutsch einige Informationen zu geben. Doch das, was er mir mühsam mitzuteilen versucht, weiß ich bereits: Um den Vormarsch der Roten Armee zu verlangsamen, sprengte die Wehrmacht im Mai 1945 die meisten Brücken über die Neiße und die Oder, darunter auch jene zwischen der Görlitzer Altstadt und den Vororten am anderen Flussufer. Nach Ende des Krieges wurde schließlich auf der Potsdamer Konferenz die neue deutsch-polnische Grenze festgelegt, die über eine Länge von etwa 400 Kilometern dem Lauf der beiden Flüsse folgt. Dabei wurde Görlitz geteilt. Auf der einen Seite lagen nun die Altstadt und die westlichen Stadtteile, die auf deutschem Gebiet blieben, während die östlichen Stadtteile am anderen Ufer der Neiße Polen zugeschlagen wurden und den Namen Zgorzelec erhielten. Sechzig Jahre sollte es dauern, bis die Stadt ihre Brücke zurückbekam. Die 2004 eingeweihte neue Brücke befindet sich an genau derselben Stelle wie ihre Vorgängerin, verbindet jetzt aber zwei verschiedene Städte in zwei verschiedenen Ländern miteinander und trägt zwei verschiedene Namen: Für die Deutschen heißt sie die „Altstadtbrücke“, für die Pol*innen „Most staromiejski“. 

Stalag VIII A 

Es gibt viele Möglichkeiten, wie man versuchen kann, eine Stadt zu verstehen. Eine davon – meines Erachtens die effektivste – ist, bei ihren Wunden zu beginnen, gleich ob offen oder verheilt. Das Stalag VIII A ist zweifellos die größte historische Wunde in Görlitz/Zgorzelec. Von 1939 bis 1945 befand sich hier, auf ländlichem Gebiet etwa vier Kilometer vom Zentrum von Zgorzelec entfernt, ein Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht. Das Taxi setzt mich auf dem großen Parkplatz der Gedenkstätte ab, direkt vor dem Europäischen Zentrum für Erinnerung, Bildung und Kultur. Das moderne Gebäude mit unregelmäßiger Architektur weist einen schmalen Mittelbau auf, der sich wie eine Stahlklinge zwischen die beiden Seitenteile zu schieben scheint. Rundherum, wo einst die sechzig Baracken des Lagers standen, erstreckt sich heute ein Birkenwäldchen.
  • Obermarkt Foto: Roberto Sassi © Goethe-Institut Italien

    Obermarkt

  • Postplatz Foto: Roberto Sassi © Goethe-Institut Italien

    Postplatz

  • Die Neiße Foto: Roberto Sassi © Goethe-Institut Italien

    Die Neiße

  • Europäisches Zentrum für Bildung und Kultur Zgorzelec-Görlitz Foto: Roberto Sassi © Goethe-Institut Italien

    Europäisches Zentrum für Bildung und Kultur Zgorzelec-Görlitz

  • Das ehemalige Gelände des Stalag VIII A Foto: Roberto Sassi © Goethe-Institut Italien

    Das ehemalige Gelände des Stalag VIII A

Das Stalag VIII A wurde in den letzten Monaten des Jahres 1939 von polnischen Kriegsgefangenen errichtet, die im Zuge der Bauarbeiten gezwungen wurden, den Winter in einfachen Stoffzelten zu verbringen. Insgesamt gingen circa 120.000 Gefangene unterschiedlicher Nationalitäten – darunter etwa Franzosen, Briten, Amerikaner und Italiener – durch das Lager, von denen 10.000 nicht mehr nach Hause zurückkehrten. Die größte Gruppe war die der sowjetischen Soldaten. 

Am 15. Januar 1941 wurde hier, in der Baracke 27 B, vor einem Publikum von 400 Internierten und deutschen Wachen eine der schönsten Kammermusikkompositionen des 20. Jahrhunderts, das Quatuor pour la fin du temps von Olivier Messiaen, uraufgeführt. Der französische Komponist, der zu Kriegsbeginn als einfacher Soldat einberufen worden war, wurde 1940 gefangen genommen und in das Stalag VIII A verbracht, wo er sein berühmtestes Werk komponierte. „Er ließ sich dafür auch vom Gesang einiger Vogelarten inspirieren, die er davor noch nie gehört hatte“, verrät mir Alexandra Grochowski bei einem Spaziergang durch den Birkenhain. Die Direktorin des Meetingpoint Memory Messiaen – eines deutsch-polnischen Vereins, der die Erinnerung an diesen Ort durch Forschungs- und Bildungsprojekte sowie Führungen wachhält – wurde in Oberschlesien in Polen geboren, zog jedoch im Alter von einem Jahr mit ihren Eltern nach Deutschland. Nach ihrem Übersetzerstudium an der Hochschule Zittau entschied sie sich vor zehn Jahren, nach Görlitz/Zgorzelec zu übersiedeln und hier zu leben. „Ich wollte wieder Polnisch lernen“, meint sie zu mir, während wir zwischen den kaum noch sichtbaren Überresten der ehemaligen Latrinenbaracken spazieren gehen, die mittlerweile von Pflanzen überwuchert sind. Taktvoll erzählt sie mir die Geschichten einiger Gefangener und zeigt sie mir einen nach dem anderen auf den Tafeln, an denen wir entlangkommen. Dann gesteht sie: „Wenn ich an das Stalag VIII A denke, fühlt sich der deutsche Teil in mir schuldig.“ Da ist sie, die Wunde. Alexandra hätte sie nicht besser beschreiben können. Eine Wunde, die unter anderem dank der Tätigkeit des Meetingpoint Memory Messiaen und der Zusammenarbeit der beiden Städten langsam wieder heilt. 

Im Jahr 1948 wurde das Stalag VIII A abgetragen. Die Gemeinde Zgorzelec hatte beschlossen, die Baumaterialien für den Wiederaufbau Warschaus und anderer zerbombter Städte zu nutzen. Heute finden sich hier nur Bäume und eine Stille, die vom Gesang eben jener Vögel belebt wird, die schon Messiaen inspirierten. 

Altes und Neues 

Während ich durch die kopfsteingepflasterten Straßen der Görlitzer Altstadt spaziere, stelle ich mir immer wieder dieselbe Frage: Wo sind alle? Mitten auf dem Obermarkt, einem der wichtigsten Plätze der Stadt, erstreckt sich vor bunten Barock- und Renaissance-Fassaden ein gewaltiger Parkplatz. Hier stehen bestimmt hunderte Autos und doch sind kaum Fußgänger*innen zu sehen: hier und dort ein Tourist mit Fotoapparat um den Hals, angelockt vielleicht von den vielen Filmen, die in dieser Stadt schon gedreht wurden („Inglourious Basterds“ von Tarantino etwa, um den berühmtesten zu nennen), hin und wieder ein Fahrrad, das über das Pflaster in Richtung Fluss hoppelt, oder ältere Menschen, die in aller Ruhe spazieren gehen. Ein bisschen mehr ist nur auf der Berliner Straße los, der Hauptverkehrsader für Fußgänger*innen und den Straßenbahnverkehr, die direkt zum Bahnhof führt. Doch kaum biege ich erneut in eine Seitenstraße ab, fallen mir die zahlreichen Zu-vermieten-Schilder in den Schaufenstern leerstehender Geschäftslokale ebenso ins Auge wie die wenigen Gäste in den Restaurants und Kaffeehäusern, ja sogar im Einkaufszentrum. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Etwa 55.000 Menschen leben heute in Görlitz, 1990 waren es noch 72.000 und 1950 gar 100.000.

Die Gründe für diesen Bevölkerungsrückgang sind vielfältig, aber seit dreißig Jahren, seit dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung, sind die Hauptursachen die niedrige Geburtenrate und die Abwanderung der jungen Menschen in den Westen, wobei letzteres Phänomen ganz Sachsen betrifft. Die zunehmende Überalterung der lokalen Bevölkerung ist eine Tatsache. So wird laut einigen Prognosen 2035 das Durchschnittsalter bei über 51 Jahren liegen (derzeit liegt es in Deutschland bei 45 Jahren). Dass der Altersdurchschnitt nicht noch höher ist, ist auch den jungen polnischen Familien zu verdanken, die sich auf der anderen Seite der Grenze niederlassen. „Viele Einwohner*innen von Zgorzelec sprechen Deutsch, während in Görlitz nur wenige Polnisch können“, hatte Alexandra Grochowski gemeint. Ihre Worte kommen mir in den Sinn, als ich an einer Apotheke vorbeigehe, an deren Tür ein Schild angeschlagen ist: „Mówimy po polsku“ („Wir sprechen Polnisch“). Zudem fällt mir ein Artikel wieder ein, den ich einige Tage zuvor gelesen habe und in dem Deutsche und Pol*innen hinsichtlich ihrer Beziehung als „fremde Freunde“ beschrieben werden. Ich bin erst seit wenigen Stunden hier, aber irgendwie scheint mir das eine treffende Definition zu sein. Der erste Schritt, um sie zu prüfen, wird sein, erneut über die Brücke über die Neiße zu gehen. Diesmal, um die Stadt auf der anderen Seite des Ufers zu erkunden. 
 
[Fortsetzung: Zwei Städte, eine Europastadt]
 

Europastadt Görlitz-Zgorzelec

Logo Europastadt Görlitz-Zgorzelec ©   Logo Europastadt Görlitz-Zgorzelec
Im Jahr 1998, vor genau 25 Jahren, vereinten sich Görlitz und Zgorzelec zur Europastadt Görlitz-Zgorzelec. Damit wurde der Grundstein für das Zusammenwachsen der deutsch-polnischen Zwillingsstadt gelegt. Heute gibt es einen grenzüberschreitenden Nahverkehr, eine bilinguale Klasse, in der deutsche und polnische Schüler zusammen lernen und viele weitere gemeinsame Initiativen, die von dem Verein Meetingpoint Memory Messiaen getragen werden. Das Görlitzer Projekt engagiert sich für grenzüberschreitende Bildungs- und Erinnerungsarbeit, etwa auf dem Gelände des früheren Kriegsgefangenenlagers Stalag VIIIa in Zgorzelec. Die Altstadtbrücke steht symbolisch für die Verbindung zwischen Görlitz und Zgorzelec. Spaziergänger*innen und Radfahrer*innen fahren dort heute unbeschwert hin und her.

In Zusammenarbeit mit Europastadt Görlitz-Zgorzelec

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