Die Spuren und das Erbe des Kolonialismus suchen unsere Gegenwart immer noch heim, wie abwesende-anwesende Gespenster, nicht nur in den Museen, den Bauwerken und den Straßennamen, sondern auch in unserem Alltag und unseren Wohnungen, in unserer Sprache und unseren tiefsten Gefühlen. Der maßgeblichste Aspekt dieses Prozesses ist seine scheinbare Transparenz, seine fast Unsichtbarkeit: Sie hat mit der auf Gewohnheit beruhenden Wahrnehmung zu tun, die unser Alltagsleben bestimmt (man denke nur an bestimmte Redensarten, wie das Italienische „è successo un ambaradan“(*), die fast niemand mit dem Kolonialismus in Verbindung bringt). Wir sind es nicht gewohnt, unsere „Normalität“ zu hinterfragen, dabei ist sie erfüllt von diesen Spuren, die sowohl in Abwesenheit wie in Anwesenheit wirken: So fehlt die Kolonialzeit in den Lehrplänen der Schulen fast vollständig, und ebenso mangelt es an einer Analyse, bei der die Kolonialzeit nicht ausschließlich als „Kapitel unserer Geschichte“ betrachtet wird, sondern als Prozess, der (in unterschiedlichen Formen) in der Gegenwart weiterhin Gestalt annimmt.
Man kann die Komplexität der kolonialen Ordnung und die Art und Weise, in der sie sich immer noch in eine pervasive und allgegenwärtige Kolonialität übersetzt, nicht in ein Archiv einschließen, weder in das eines ethnographischen Museums, mit seinen umstrittenen Kulturgütern, noch das einer Stadt, mit ihren Straßennamen und Bauwerken. In all dem gibt es etwas, das das Archiv übersteigt, das nicht archivierbar ist und das Archiv selbst als Form der Organisation, Narration und Kontrolle der Erinnerung und der Identität, die uns zu eigen sind, in Frage stellt. Im Übrigen ist gerade das Archiv ein Instrument, durch das sich die Kolonialität immer weiter reproduziert hat.
Einige Gegenstände, einige Körper, einige Stimmen gehen über das Archiv hinaus, entziehen sich seiner Grammatik. Auf welche Weise befragen sie uns also? Wie stellen sie sich den Narrationen entgegen, die wir erschaffen, um uns zu erzählen, wer wir sind? Auf welche Weise unterziehen sie unsere Epistemologie einer kritischen Betrachtung? Wie überschreiten sie unsere Diskursräume und holen uns aus unseren Komfortzonen (zu denen die Museen gehören)?
Diese Gegenstände, diese Körper sollten nicht ins Museum kommen, damit sie ihr Skandalpotential bewahren, wie Achille Mbembe schreibt: Stattdessen sollten sie es weiter mit ihrer Abwesenheit oder ihrer gespenstischen Anwesenheit heimsuchen, sollten überall und nirgendwo sein, und ihr Erscheinen sollte immer die Form eines Einbrechens, nie die einer Einrichtung oder Institution haben (Mbembe,
Nanorassismus 2019).
Die Instrumente der Darstellung waren und sind mächtige Vehikel, mit denen diese Gespenster geschaffen und am Leben erhalten werden. Wie kann also der Versuch aussehen, diese tief verwurzelten und gut verborgenen Bilder und Ikonografien zu decodieren und zu be-richtigen? Die Konstruktion von visuellen Stereotypen hat ein unendliches „Archiv“ hervorgebracht, das mehr als jedes andere imstande ist, sich über Metamorphosen und Täuschungen, die sich einer unmittelbaren Deutung entziehen, zu erneuern und zu aktualisieren. Die erste Angriffswaffe des Kolonialismus war die umfassende Vereinnahmung der Imagination der Kolonisierten. Eine neue kulturelle Ökologie ist nötig, durch einen ökologischen Dekolonisierungsprozess im Sinne des Umweltingenieurs Malcolm Ferdinand (M.Ferdinand,
Une écologie décoloniale: Penser l'écologie depuis le monde caribéen, 2019), die die Bedeutung der zeitgenössischen Darstellungen berichtigt und die enthaltenen kolonialen Reste gründlich aussiebt.
Die Kunst, als Form des kulturellen Aktivismus, ist eines der möglichen Mittel, ist eine der Praktiken, und muss lernen sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, die von der kolonialen Moderne in Europa geprägt ist, um den wahren Ursprung ihrer rassifizierten Darstellungen der Gegenwart zu verstehen.
Zu oft hat die ,abendländische‘ Kunstgeschichte, und die italienische mehr als alle anderen, die rassistische und stereotype Tragweite ihrer Darstellungen verdrängt, vor allem im 19. und 20. Jahrhundert, und anderen „Geschichten“ die Aufgabe übertragen, eine unbequeme und gewalttätige Vergangenheit, in der sowohl die Imagination wie die Körper der außer-europäischen Völker unterdrückt wurden, zu deuten. Wir müssen mit der dekolonialen Lesart der Geschichte unserer Künste beginnen, um neue Sprach- und Darstellungsformen zu entwickeln, die sich offen mit den Wurzeln einer Reihe von Gründungsmythen der Kunst in Europa auseinandersetzen: Sie hat die unendlichen Archive rassifizierter und rassistischer Bilder, die dann als „universelle Werte“ in der ganzen Welt verbreitet wurden, nicht nur begleitet, sondern öfter noch Seite an Seite mit den Kolonisatoren hervorgebracht. Und wir müssen anfangen zu überlegen, welche Art von Bildern dieses ästhetische Paradigma in Bezug auf die Selbstdarstellung der Herrschenden als Genies und Kulturbotschafter hervorgebracht hat: ein patriarchalisches, chauvinistisches und gewalttätiges Modell.
Vielleicht sind wir also aufgerufen, uns diesem „Unarchivierbaren“ zuzuwenden, und zwar gerade, um das Archiv in Szene zu setzen und seine Funktionsweise zu beleuchten, das heißt, auch seine dunkle Seite, die Seite, auf der die Dinge und Stimmen im Dunkeln, unsichtbar, bleiben. Vielleicht sind wir aufgerufen zu dekonstruieren, umzustürzen und das Archiv als Instrument der Erinnerungswürdigkeit zu verbreiten.
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(*) Der Ursprung des Wortes „Ambaradan“ leitet sich vermutlich von Amba Aradam ab, einer bergigen Hochebene (amba) in Äthiopien, in deren Nähe 1936 eine blutige Schlacht zwischen Italienern und Abessiniern stattfand. Die Schlacht bestand aus Angriffen und Gegenangriffen der italienischen Truppen unter dem Kommando von Marschall Pietro Badoglio gegen die äthiopischen Truppen von Ras Mulugeta Yeggazu. Im Laufe des Konflikts verbündeten sich die italienischen Truppen mit einigen lokalen Stämmen, von denen sich jedoch je nach den laufenden Verhandlungen einige wiederum mit dem Feind verbündeten, um sich dann wieder den italienischen Soldaten anzuschließen. Nach ihrer Rückkehr nach Italien begannen diese, angesichts der ungeordneten und chaotischen Situation, von „come ad Amba Aradam“ zu sprechen, „es ist ein Amba Aradam“. Durch Krasis verschmolzen die beiden Wörter zu einem und wurden zu „ambaradam“. Aufgrund von Ausspracheschwächen im Laufe der Jahre wurde das abschließende „m“ zu „n“. Es lassen sich jedoch auch Schriften und Werke finden, in denen beide Endkonsonanten unterschiedslos verwendet werden.
Quelle: Perché si dice “Ambaradan”, l’origine del modo di dire (libreriamo.it)