Freiburg: 2. Teil
Zwanzig sein in Freiburg
Im vorliegenden zweiten Teil seiner Reportage über Freiburg erzählt Roberto Sassi von einer internationalen, kulturell lebendigen Universitätsstadt. Dazu erkundet er einige der repräsentativsten Orte im Zentrum und trifft die Verlegerin Alessandra Ballesi-Hansen von nonsolo Verlag.
Von Roberto Sassi
STUDIERENDE, ERINNERUNG UND UMWELTSCHUTZ
Freiburg ist eine Student*innenstadt. Das wird mir klar, als ich zum Platz der Alten Synagoge zurückkehre, wobei ich dank der warmen Mittagssonne mit kurzen Ärmeln unterwegs bin. Am Tag zuvor hatte mir Andrea Burzacchini erklärt, dass sich dieses Viertel in den vergangenen Jahren zu einem kulturellen Zentrum der Stadt entwickelt hat. „Hier befinden sich das Hauptgebäude der Universität, die neue Universitätsbibliothek, das Stadttheater und ein Multiplex-Kino“, hatte er erläutert, während er der Reihe nach auf die einzelnen Gebäude zeigte. Es ist Mitte September, das Wintersemester hat noch nicht begonnen, aber im Umkreis der Bibliothek sind bereits viele Student*innen zu sehen. Einige sitzen auf der breiten Treppe des Theaters, andere auf den Betonplatten in der Nähe des Gedenkbrunnens der Alten Synagoge, wieder andere haben sich auf dem Grünstreifen neben der Straße ausgestreckt. Laut offizieller Statistik der Universität waren im vergangenen Studienjahr über 24.000 Studierende inskribiert. Wenn man bedenkt, dass Freiburg 230.000 Einwohner*innen hat, ist die Rechnung einfach: jede*r Zehnte studiert.Ich setze mich auf eine Bank auf dem Platz, direkt vor dem Gedenkbrunnen, der in Wirklichkeit ein etwa zwanzig Zentimeter tiefes Becken ist. Sein Grundriss erinnert an den der Synagoge, die 1938 von den Nazis zerstört wurde. Zwei junge Männer, beide noch keine zwanzig, lesen die Informationstafel, die ihre Geschichte erzählt, während auf der Straße unaufhörlich Fahrräder vorbeiziehen. Ich beobachte das Treiben der Passant*innen und Radfahrer*innen und denke zurück an meine Reise nach Hamburg und die Synagoge am Bornplatz, die dasselbe traurige Schicksal erlitten hat. Ich denke zurück an den Platz, auf dem sie sich befand, an die Leere zwischen den umstehenden Gebäuden, eine Art urbane Narbe, die nicht verheilt ist, und an den Umstand, dass die Synagoge in den kommenden Jahren wiedererrichtet wird: eine andere Art, mit Erinnerung umzugehen und sie in die Gegenwart einzubinden.
Ich esse in einer lokalen Imbissstube, die ebenfalls hauptsächlich von Student*innen und Angestellten in ihrer Mittagspause bevölkert ist, und entferne mich danach ein Stück vom Zentrum. Ich folge der Bertoldstraße bis zur wichtigsten Fußgänger- und Straßenbahnbrücke der Stadt, der Stühlingerbrücke, die über den Hauptbahnhof und den Omnibusbahnhof führt und den westlichen Teil der Stadt mit der Altstadt verbindet. Im darunterliegenden Park, vor den beiden hohen Türmen der Herz-Jesu-Kirche, sitzt eine Gruppe im Gras. Kinder jagen den Seifenblasen nach, die aus einem Imbisswagen geblasen werden, eine Frau versucht ungeschickt, einen Hula-Hoop-Reifen um die Hüften kreisen zu lassen. Ein Stück weiter, am oberen Ende des sanften Hangs, findet eine Veranstaltung der Grünen Jugend statt. Ich setze mich auf die Wiese und höre den Fragen der jungen Aktivist*innen an Terry Reintke zu – die Europaabgeordnete der Partei ist nur wenige Jahre älter als sie. Anderswo hätte ich diese Szene zumindest als ungewöhnlich empfunden, nicht aber in Freiburg. Immerhin ist die Stadt auch in politischer Hinsicht „grün“. So „grün“, dass die Umweltpartei bei den Bundestagswahlen am 26. September gar 32,6 % der Stimmen erhielt: mehr als das Doppelte wie auf nationaler Ebene.
EINE ITALIENISCHE VERLEGERIN IN DEUTSCHLAND
Mein letzter Tag in Freiburg ist ein Samstag. Die Altstadt ist ziemlich überlaufen, ich weiche den Passant*innen aus, darauf achtend, nicht in einem der vielen Bächle zu landen, die sich durch die Straßen der Stadt ziehen. Wer hineintritt, muss laut Volksglauben einen Freiburger oder eine Freiburgerin heiraten. Während ich zum Münsterplatz gehe, wo der große Markt stattfindet, sinne ich über die Aussage eines Kellners im Lokal von gestern Abend, eines überaus gesprächigen 25-Jährigen nach, der meinte: „Alle wollen nach Berlin.“ Danach zeigte er auf einen gleichaltrigen Kollegen und fügte hinzu: „Er zieht im Dezember hin.“ Ich denke über diese absolut normale Sehnsucht nach einer Metropole nach, die ich selbst gut kenne. In seinem Alter lebte ich in einer ähnlich großen Stadt.Am späten Vormittag nehme ich die Straßenbahn Richtung Süden, um mich mit Alessandra Ballesi-Hansen zu treffen, der zweiten Wahl-Freiburgerin, die ich interviewen möchte. Alessandra lebt seit Ende der 80er-Jahre hier, arbeitete lange Zeit als Lektorin an der Universität und gründete 2017 den nonsolo Verlag, der Werke zeitgenössischer italienischer Autor*innen auf Deutsch herausgibt. Am Telefon hat sie mir als Treffpunkt das Schloss-Café Lorettoberg im Stadtteil Wiehre genannt. Um dorthin zu gelangen, muss ich ein Stück den Bohrerbach entlang durch ein Viertel mit niedrigen, eleganten Gebäuden und schließlich einen Weg zur Kuppe eines kleinen Hügels hinauf, von dem aus man die Berge des Schwarzwalds sieht. „Die Lebensqualität in Freiburg ist sehr hoch“, meint Alessandra auf der Panoramaterrasse des Cafés. „Und obwohl die Stadt relativ klein ist, ist das kulturelle Angebot hervorragend. Das ist vor allem der großen Zahl an Student*innen zu verdanken.“ Wie Andrea Burzacchini erzählt auch sie mir vom Platz der Alten Synagoge und berichtet insbesondere von den Aktivitäten des Stadttheaters und dem Programm in einigen Kinos, wie dem Kommunalen Kino und dem Harmonie. „Man kann praktisch jeden Abend ein klassisches Konzert besuchen oder einen Autorenfilm sehen. Was meinen Bereich angeht, kann ich sagen, dass bei unseren Lesungen und Buchpräsentationen der Saal fast immer voll ist. Das zeugt auch vom Interesse für italienische Kultur und Literatur.“ Um uns herum genießen die Gäste ein spätes Frühstück, hin und wieder hört man ein Auto die Straße heraufkommen oder auf dem Kies parken. Alessandra zeichnet ein Bild von Freiburg als Universitätsstadt und zeigt mir damit eine andere Perspektive als die des jungen Kellners, der von Berlin träumt. „Viele kommen für das Studium hierher, weil die angebotenen Leistungen exzellent sind, man denke nur an die neue Bibliothek“, erläutert sie. Ich höre ihr zu, während sie die Gründe aufzählt, aus denen die Hochschule sowohl in Deutschland als auch im Ausland angesehen ist, und ich erinnere mich an eine weitere Statistik, die ich vor meiner Abreise gelesen habe: Über 4.000 Inskribierte, insgesamt 18 % sind internationale Studierende.
AUF ZUM WOCHENENDE IN BERLIN
Ich bin nicht überrascht, dass im Zug nach Berlin neben Familien mit Kindern und Geschäftsreisenden auch viele Zwanzigjährige sitzen. Die meisten sind zu zweit oder zu dritt unterwegs, manche auch allein, mit dem Rucksack im Gepäckfach und den Gedanken schon im bevorstehenden Wochenende. Wir fahren quer über das Land, die Nachmittagssonne scheint zaghaft durch die Fenster herein und ich meine, eine gewisse Vorfreude in den Gesichtern der jungen Leute zu erkennen, oder besser in ihren Augen, denn aufgrund der Maske kann ich nur raten, ob sie lächeln oder nicht. Die einen fahren in irgendeinen Club tanzen, die anderen zu ihren Partner*innen, die sie viel zu selten sehen, wieder andere wollen einfach ein paar Tage in der Großstadt genießen. Ich bin mir sicher, dass unter ihnen auch solche sind, die ihr Leben in Freiburg nicht aufgeben würden.Als ich am Berliner Hauptbahnhof ankomme, ist es halb zehn. Ich nehme die Straßenbahnlinie M10 nach Hause, die Haltestelle vor dem Bahnhof ist überlaufen, einige Jugendliche hören über Bluetooth-Lautsprecher Rap-Musik. Die lange Nacht in Berlin hat gerade erst begonnen. Wie so oft, wenn ich von einer Reise zurückkomme, spüre ich beim Gedanken an das, was ich hinter mir lasse, eine verfrühte Wehmut aufkeimen. Ich weiß, dass sie verfliegen wird, sobald ich meine Wohnung betrete. Und doch hinterfrage ich, während die M10 in Richtung Prenzlauer Berg fährt, meine Entscheidung, in Berlin zu leben. Ich frage mich, ob die Fahrräder und Fußgänger*innen auf dem Platz der Alten Synagoge, das Glucksen der Bächle in der Altstadt, die Kaiser-Joseph-Straße, die mit Obst und Gemüse vollbeladenen Markstände auf dem Münsterplatz, die surreale Ruhe im Vauban nicht netter wären. Wäre eine übersichtliche und funktionale Stadt wie Freiburg nicht besser? Diese Fragen stelle ich mir, aber als die Straßenbahn in der Eberswalder Straße hält und ich mit dem Rucksack auf den Schultern aussteige, vor mir die Hochbahn und das vertraute Getümmel von Menschen aller Altersgruppen, die sich auf der Suche nach einer Bar in Richtung Kastanienallee bewegen, als ich also verstehe, dass ich wirklich wieder zurück bin, ist die Wehmut schon wieder verflogen. Abgelöst von einem anderen Gedanken, dem ich später in Ruhe nachgehen möchte: Ab nun kann ich Berlin mit einem anderen Deutschland vergleichen.