Dresden: 1. Teil
Das alte und das neue Dresden

Der Kulturpalast – Blick vom Altmarkt, dem ältesten Platz Dresdens
Der Kulturpalast – Blick vom Altmarkt, dem ältesten Platz Dresdens | © Goethe-Institut Italien| Foto: Roberto Sassi

Dresden, aufgrund der barocken Architektur im historischen Zentrum auch „Elbflorenz“ genannt, zählt zu den beliebtesten Reisezielen Deutschlands. Im ersten Teil seiner Reportage erzählt Roberto Sassi von den zwei Gesichtern der sächsischen Stadt: von der Wiederauferstehung der Altstadt zum einen und den rasanten Veränderungen im alternativen Stadtviertel Neustadt zum anderen.

Von Roberto Sassi

NICHT NUR TRÜMMER

Züge verraten immer etwas über die Städte, zu denen sie unterwegs sind. Der Eurocity 173 Hungaria ist da keine Ausnahme – an Bord findet sich eine spannende Mischung aus Gesichtern, Sprachen, Gerüchen. Auf der Lokomotive prangt das stilisierte weiß-blaue Logo der České dráhy, der Tschechischen Bahnen, während die Wagons ungarisch sind, endet die Fahrt doch am Abend in Budapest. Am Berliner Hauptbahnhof steige ich in einen Wagon der zweiten Klasse. Es ist ein Vormittag Mitte Oktober, an Bord sind viele Tourist*innen auf dem Weg nach Prag, einige werden vielleicht in Brno oder Bratislava aussteigen, andere wiederum – wie der etwa siebzigjährige ungarische Herr, neben dem ich Platz nehme – haben zwölf Stunden Zugfahrt vor sich.

Was verrät der Eurocity 173 Hungaria über Dresden? Das frage ich mich, während vor dem Fenster die Dörfer des ländlichen Brandenburgs mit ihren immer gleichen niedrigen Häusern vorbeiziehen. Zumindest, so sage ich mir, erinnert er an die geografische Nähe zur Tschechischen Republik und das slawischsprachige Mitteleuropa. Diese Nähe trägt Dresden bereits im Namen: Das altsorbische Wort Drežďany bedeutet „Menschen, die in den Wäldern leben“.

Während der knapp zweistündigen Fahrt blättere ich in Kurt Vonneguts Roman Schlachthof 5, den ich immer wieder mal lese. Als das Buch 1969 erschien, hatte die breite Öffentlichkeit kaum vom tragischen Schicksal der deutschen Stadt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs gehört. Heute ist ihre Geschichte hingegen weitgehend bekannt. Jetzt, da ich zum ersten Mal nach Dresden fahre, lese ich wieder in Vonneguts Werk und denke daran, dass es dieses Buch war, das mich vor etwa zehn Jahren dazu veranlasste, mich über die verheerenden Bombenangriffe zwischen 13. und 15. Februar zu informieren. Wenn man von Dresden spricht, scheint es unmöglich, nicht hier zu beginnen: bei den Ruinen und dem Wiederaufbau nach dem Krieg. Das ist die vorherrschende Erzählung. Ich blättere in Schlachthof 5 und nehme mir vor, möglichst einen anderen Zugang zu wählen. Während der Zug langsam unter dem von Sir Norman Foster gestalteten Bogendach in den Dresdner Hauptbahnhof einfährt, erinnere ich mich selbst noch einmal an meinen Vorsatz. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, ihm treu zu bleiben.

VON DER GEGENWART IN DIE VERGANGENHEIT (UND UMGEKEHRT)

Die Prager Straße ist eine breite Fußgängerpromenade, die den Bahnhof mit der Altstadt verbindet. Man kann wirklich nicht sagen, dass sie architektonisch ein harmonisches Bild bietet, auch wenn mit den in den sechziger Jahren mittig errichteten Brunnen versucht wurde, die Straße ansprechender zu gestalten und ein wenig von den Hotels, den großen Kaufhäusern und den Fast-Food-Ketten abzulenken. Bereits seit dem 19. Jahrhundert gilt die Prager Straße als Dresdens Einkaufsmeile, nur dass sie damals mit knapp 17 Metern nur ein Drittel so breit war wie heute und die angrenzenden Gebäude maximal vier oder fünf Stockwerke hoch waren. Dann fielen im Februar 1945 die Bomben und in der Nachkriegszeit änderte sich das Stadtbild radikal.

Auf meinem Weg in Richtung Altstadt bleibe ich ungläubig vor einem gigantischen Wohnblock stehen, der sich zu meiner Rechten erstreckt. Über mir Hunderte von Fenstern, eingepasst in einen weißen Betonkasten, der in der Länge zwei Fußballfelder misst. Der Block erinnert an die berühmte Unité d'Habitation von Le Corbusier, allerdings mit einem leicht sowjetischen Touch. Der Bau ist ein unübersehbares Zeugnis der jüngeren Vergangenheit Dresdens, eine Art von Gebäude, die man gewöhnlich am Stadtrand sieht, hier aber nur wenige hundert Meter vom zentraleren und touristischeren Teil der Stadt entfernt steht. Es ist elf Uhr morgens an einem Dienstag und auf der Prager Straße ist nicht viel los. Der Himmel klart langsam auf, eine ältere Dame inspiziert ein Metallregal mit Hausschuhen im Abverkauf, an einem Imbissstand werden Bratwürste angeboten.
  • Der Zwinger und das Kronentor © Goethe-Institut Italien| Foto: Roberto Sassi

    Der Zwinger und das Kronentor

  • Der Schloßplatz. Im Hintergrund das berühmte Porzellanwandbild „Der Fürstenzug“ © Goethe-Institut Italien| Foto: Roberto Sassi

    Der Schloßplatz. Im Hintergrund das berühmte Porzellanwandbild „Der Fürstenzug“

  • Ein Tourist und eine Touristin auf den Stufen des König-Johann-Denkmals auf dem Theaterplatz © Goethe-Institut Italien| Foto: Roberto Sassi

    Ein Tourist und eine Touristin auf den Stufen des König-Johann-Denkmals auf dem Theaterplatz

  • Eine Gruppe von Tourist*innen im Zwinger © Goethe-Institut Italien| Foto: Roberto Sassi

    Eine Gruppe von Tourist*innen im Zwinger

  • Die Augustusbrücke von der Brühlschen Terrasse aus gesehen © Goethe-Institut Italien| Foto: Roberto Sassi

    Die Augustusbrücke von der Brühlschen Terrasse aus gesehen

  • Die Prager Zeile, der gewaltige Wohnblock in der Prager Straße © Goethe-Institut Italien| Foto: Roberto Sassi

    Die Prager Zeile, der gewaltige Wohnblock in der Prager Straße

  • Dresden Hauptbahnhof © Goethe-Institut Italien| Foto: Roberto Sassi

    Dresden Hauptbahnhof

  • Die Statue von Friedrich August II. von Sachsen auf dem Neumarkt © Goethe-Institut Italien| Foto: Roberto Sassi

    Die Statue von Friedrich August II. von Sachsen auf dem Neumarkt

  • Die Neustadt vom Terrassenufer aus gesehen © Goethe-Institut Italien| Foto: Roberto Sassi

    Die Neustadt vom Terrassenufer aus gesehen

Mit zunehmender Nähe zur Altstadt ändert sich allmählich auch die Architektur. Auf die verglasten, aseptischen Gebäude im Bahnhofsviertel folgen Bauten in typischem DDR-Stil, wie der 1969 eröffnete Kulturpalast an der Nordseite des Altmarkts, des ältesten Platzes in Dresden. Im weiteren Verlauf verengt sich die Straße, ich treffe auf die ersten Tourist*innen mit Kameras um den Hals, Kaffeehausbesucher*innen nutzen die zarten Sonnenstrahlen, um im Freien zu Mittag zu essen. Ich gehe weiter die Schloßstraße entlang und schlendere nun zwischen Kirchen und Gebäuden, die nach ihrer Zerstörung durch die Bomben der Alliierten ab den fünfziger Jahren originalgetreu wieder aufgebaut wurden. Mein erster Eindruck ist, dass diese imposanten Barockbauten etwas Unnatürliches, Unehrliches an sich haben, mit ihren leicht schwarzen Fassaden, als stünden sie schon Hunderte von Jahren und nicht erst seit ein paar Jahrzehnten hier. Würde ich ihre Geschichte nicht kennen, würde ich dann genauso denken? Würde ich wirklich erkennen, dass es sich um Nachbauten statt um Originale handelt? Ich weiß es nicht.

Was ich weiß, ist, dass auf dem Postplatz ein starker Kontrast zu den nahegelegenen modernen Gebäuden deutlich wird. Vor mir, jenseits der von Straßenbahnen und Fußgänger*innen gequerten Freifläche, ragt das Eingangstor des Zwingers mit seiner goldenen Krone empor. Auf der anderen Straßenseite erheben sich die spitzen Türme des Residenzschlosses und dahinter der Glockenturm der Hofkirche, eines der Hauptwerke des Dresdner Barocks. Hinter mir hingegen gabeln sich die Straßenbahnlinien, es gibt ein paar Restaurants für Tourist*innen und ein Hotel, einige Bauarbeiter*innen verlassen eine Baustelle auf der letzten noch unverbauten Fläche. Ich sehe mich auf dem Platz um und denke, dass Dresden, mehr als jede andere deutsche Stadt, die ich bisher gesehen habe, von Nostalgie geprägt ist. Doch es ist eine unvollkommene, unbestimmte Nostalgie, da die Vergangenheit der Stadt zum Teil wieder aufgebaut wurde. Eine Nostalgie, die auf dem Gegensatz zwischen Alt und Neu basiert, zwischen dem, was ist, und dem, was hätte sein können.

DAS ANDERE DRESDEN

Ich bin froh, dass ich mit Berit Weingart vor dem Militärhistorischen Museum verabredet bin. So habe ich am Nachmittag die Möglichkeit, ein anderes Dresden, jenseits des Altstadt-Postkartenmotivs kennenzulernen. Das Museum befindet sich in Albertstadt, drei Kilometer nordöstlich vom Zentrum, wo Ende des 19. Jahrhunderts eine der größten Kasernen Deutschlands errichtet wurde. Das Vorstadtviertel trägt die architektonischen Spuren einer industriellen Vergangenheit, ist nur einen Steinwurf vom Wald entfernt und wurde in den vergangenen Jahren dank zahlreicher kultureller Initiativen, darunter einige Clubs und Lokale mit Live-Musik, mit neuem Leben erfüllt.

Als ich nach meiner Straßenbahnfahrt quer durch die Stadt am Treffpunkt ankomme, sehe ich Berit auf den Treppen sitzen. Sie liest ein Buch, hinter ihr erhebt sich die monumentale Fassade des Museums, die von einer Art riesiger spitzer Klinge – das Werk des Stararchitekten Daniel Libeskind – in zwei Hälften geschnitten wird. Berit ist Doktorandin der Italienischen Literatur- und Kulturwissenschaft an der Technischen Universität Dresden und beschäftigt sich mit italienischen Autorinnen, die während und nach dem Risorgimento tätig waren. „Meiner Meinung nach ist die Albertstadt einer der interessantesten Stadtteile Dresdens“, meint sie, während wir eine breite, stark befahrene Straße entlanggehen, vorbei an einer Tankstelle. „Die ehemaligen Industriegebäude und Kasernen bieten viel Raum für neue Kunst- und Kulturprojekte.“ Berit nimmt mich mit zum Objekt klein A, ein Lokal, in dem Konzerte, Theatervorführungen, Ausstellungen und Diskussionen veranstaltet werden. Die Sommersaison ist bereits zu Ende, die Mitglieder des Vereins, der das Lokal betreibt, sind mit Renovierungsarbeiten beschäftigt. Das Objekt klein A ähnelt optisch einem ehemaligen Lager oder einer Fabrik und befindet sich im alten Industrieviertel. Das Lokal erinnert mich an die Clubs in Berlin und so erzähle ich Berit, dass ich vor Jahren gehört habe, Dresden sei das „neue Berlin“. „Das ist Leipzig“, korrigiert sie mich.

Später gehen wir zurück in Richtung Zentrum, durchqueren den Alaunpark und spazieren weiter in die Äußere Neustadt. Mit ihren asiatischen und veganen Restaurants, ihren Hipster-Cafés und Vintage-Läden gilt sie als das alternative Viertel der Stadt. Berit erzählt mir von der Bunten Republik Neustadt, einer unbeschwerten Mikronation, die von den Bewohner*innen im Juni 1990, wenige Monate nach dem Mauerfall, ins Leben gerufen wurde. Zu dieser Zeit befanden sich die Gebäude der Äußeren Neustadt in einem überaus schlechten Zustand, in den zehn darauffolgenden Jahren wurde 80 % der Immobilien saniert. 11.500 Menschen lebten in dem damaligen Arbeitervorort. Heute sind es über 18.000 und die Mietpreise steigen kontinuierlich. Vor allem junge Menschen zieht es hierher – das Durchschnittsalter liegt bei etwa 32 Jahren – und man hat den Eindruck, dass die Neustadt ein ähnliches Schicksal erfahren wird wie gewisse Berliner Viertel, wie Prenzlauer Berg und Friedrichshain: einst Hochburgen der Subkultur, heute voller Familien mit Kindern und Yogazentren. Berit und ich verabschieden uns am Albertplatz, vor der Haltestelle der Straßenbahn, die mich zurück in die Altstadt bringen wird. Es ist sieben Uhr abends, auf dem riesigen runden Platz herrscht reges Treiben, viele Fahrgäste steigen aus und gehen in Richtung Alaunstraße: Bald werden sich die Bars und Kneipen füllen.

(Fortsetzung folgt…)

 

Berit Weingart

Berit Weingart © © Sarah Christopher  Berit Weingart © Sarah Christopher
Berit Weingart ist in Leipzig geboren und aufgewachsen. Am bilingualen Anton-Philipp-Reclam-Gymnasium nahm sie an diversen Schüleraustauschen in der Schweiz, Italien und Frankreich teil und absolvierte nach dem Abitur zwei Redaktionspraktika im Bereich der Fernsehproduktion. Im Rahmen des Studiums der Germanistik und Romanistik an der Technischen Universität Dresden verbrachte sie einige Semester in Neapel und Trient und schloss ihren deutsch-italienischen Doppelmaster mit einer Arbeit über Migrationsliteratur in Italien ab. Zur Zeit ist Berit Weingart Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft der TU Dresden; ihr aktuelles Seminar beschäftigt sich mit der italienischen Pulp-Literatur der Neunzigerjahre.

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