Düsseldorf: 1. Teil
Düsseldorf: Eine Stadt mit zwei Seelen
Die Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens gilt mit ihren Museen, der Kunstakademie und ihren zahlreichen Künstler*innen als eines der wichtigsten europäischen Zentren zeitgenössischer Kunst. Gleichzeitig ist Düsseldorf eine Wirtschaftsmetropole und Sitz einiger der größten Unternehmen Deutschlands. Roberto Sassi erzählt von den zwei Seelen der Stadt, die er für uns zu Fuß erkundet.
Von Roberto Sassi
Kunst und Business
Draußen vor dem Fenster zieht das ländliche Niedersachsen vorbei, zaghafte Spätnovembersonne taucht die Landschaft in zartes Licht. Grüne, gelbe und braune Felder fügen sich wie Dominosteine ineinander und umrahmen ebenso symmetrisch angelegte kleine Ortschaften. Wir befinden uns hier im ländlichen Gebiet zwischen Wolfsburg und Hannover, einer Region, die von Äckern, Bewässerungskanälen und grünen Wäldern geprägt ist. Ich bin auf dem Weg von Berlin nach Düsseldorf, es ist Montagvormittag, die zweite Klasse des Intercity ist voll von Pendler*innen und Student*innen. Vor mir, auf meinem Computer, ist in Vollbildansicht ein Foto geöffnet, das eine ganz andere Landschaft zeigt. Es ist eine Aufnahme der Altstadt von Blois, einer kleinen französischen Stadt im Loiretal. Der Fluss auf dem Bild ist ruhig, die zerklüftete Silhouette der Stadt am gegenüberliegenden Ufer ist in milchiges Licht getaucht, schwere Wolken hängen am Himmel, auf der linken Seite führt eine Steinbrücke sanft zum Ufer hinab.Ich betrachte das Foto aufmerksam und vergesse für einige Minuten die Landschaft da draußen, denn die Aufnahme stammt von Elger Esser, einem der bekanntesten Landschaftsfotografen Deutschlands, mit dem ich am Nachmittag zu einem Interview verabredet bin. Während der Zug, nun etwas langsamer, in die Außenbezirke Hannovers einfährt, studiere ich das Bild bis ins kleinste Detail, als ob sich in der Altstadt von Blois, in der Perspektive und den von Esser gewählten Farben irgendwelche Spuren, irgendeine mysteriöse Vorahnung von Düsseldorf entdecken ließen.
Ich nutze die Fahrt, um etwas über Joseph Beuys zu lesen. Der Schöpfer der sogenannten „Sozialen Plastik“ studierte nach dem Zweiten Weltkrieg an der renommierten Kunstakademie Düsseldorf, wo er ab den 60er Jahren selbst unterrichtete. Es ist die starke künstlerische Tradition der Stadt, die mir in den kommenden vier Tagen als roter Faden dienen soll. Was mich fasziniert, sind weniger die Museen und die Generationen von Künstler*innen, die in der florierenden lokalen Szene miteinander wetteifern, sondern die Art und Weise, wie es die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt schafft, zwei so unterschiedliche Bilder von sich selbst unter einen Hut zu bringen: das einer bedeutenden Hochburg der Kunst und das eines der wichtigsten Wirtschaftszentren Deutschlands.
VOM BAHNHOF ZUM FLUSS
Als ich kurz nach 14 Uhr am Hauptbahnhof Düsseldorf ankomme, liegt die Temperatur bei fast Null Grad. Der Himmel ist klar, auf dem Bahnhofsvorplatz wimmelt es von Menschen, einige stehen Schlange, um an einem der Imbissstände in der Nähe der Straßenbahnhaltestelle Kebab oder Glühwein zu kaufen. Das von mir gebuchte Hotel befindet sich in der Altstadt, also mache ich mich auf den Weg in Richtung Zentrum, wobei mir der spitze Glockenturm der Johanneskirche als Orientierungspunkt dient. Mit zunehmender Nähe zur Altstadt weichen die spartanischen Wohnhäuser in der Friedrich-Ebert-Straße – der großen Straße, die vom Zentrum zum Bahnhof führt – deutlich größeren und moderneren Glasbauten, in denen Büros, Bankfilialen und Versicherungsgesellschaften untergebracht sind. Das ist Düsseldorf, wie ich es mir vorgestellt hatte, die Stadt, in der einige der größten Unternehmen des Landes ihren Sitz haben, in der die Mode- und die Kommunikationsbranche Investitionen und Gesellschaften aus aller Welt anziehen. Ich gehe an den Fassaden dieser aseptischen Gebäude vorbei, mustere die Schreibtische und die Gesichter der Angestellten, die in ihre Arbeit am Computer versunken sind oder telefonieren. Was hat Kunst mit all dem zu tun? Noch während ich mir diese Frage stelle, wird mir bewusst, dass es sich dabei um einen ziemlich naiven Gedanken handelt – Wohlstand und Sammlertätigkeit gehen gern Hand in Hand.Auf meinem Weg in Richtung Zentrum komme ich in die Königsallee, die berühmte Einkaufsstraße, die hier einfach nur Kö genannt wird. In der Mitte der 87 Meter breiten und beinahe einen Kilometer langen Straße fließt der Stadtgraben, der sich aus der Düssel speist. Teure Modeboutiquen und bekannte Juweliere säumen die Allee zu beiden Seiten, Luxusautos fahren über die kleinen Brücken des Kanals, ein Weihnachtsmarkt samt Eislaufplatz kündet von den bevorstehenden Feiertagen. Ich lasse den Rucksack im Hotel und mache mich zu Fuß auf zu meinem Termin mit Elger Esser. Sein Atelier befindet sich im Stadtteil Unterbilk im Südwesten der Stadt, nicht weit vom Medienhafen, der ab Beginn der 90er Jahre durch ehrgeizige Projekte von Stararchitekten wie Frank Gehry und Daniel Libeskind aufgewertet wurde. Es ist vier Uhr nachmittags, die Uferpromenade strahlt im Licht der langsam hinter der Rheinkniebrücke untergehenden Sonne, einige Jogger*innen sind unterwegs, hinter mir teilen sich das Riesenrad und der Glockenturm von St. Lambertus die Kulisse. Die breite Fußgängerpromenade wurde 1997 eröffnet, davor befand sich hier eine große, von Autos verstopfte Straße. Heute fließt der Verkehr durch einen unterirdischen Tunnel, wodurch die Altstadt wieder über direkten Zugang zum Fluss verfügt. Ich schlendere gemächlich den Rhein Richtung Süden entlang. Als Orientierungspunkt dient mir diesmal der Rheinturm – der Fernsehturm der Stadt, der in der Ferne aufragt und die Skyline prägt.
EIN ABENDESSEN MIT ELGER ESSER
Um zu Elger Essers Atelier zu gelangen, durchquere ich einen leicht abschüssigen Park, vorbei am Landtagsgebäude Nordrhein-Westfalen, und lasse schließlich auch die Einfahrt zum Rheinufertunnel hinter mir. An diesem Punkt ändert sich das Stadtbild radikal, die Stadt besteht wieder aus Wohnhäusern, ratternden Straßenbahnen und Zwanzigjährigen, die vor dem Eingang zu einem Supermarkt herumblödeln. Esser begrüßt mich in Hemd und eleganter Hose, sein Italienisch ist quasi akzentfrei. Bevor er mir eine Führung durch sein Atelier voller Fotos und Archivmaterial gibt, lädt er mich zu einem Kaffee in seiner geräumigen Küche ein. In den Regalen finden sich allerlei italienische und französische Produkte, das Gaskochfeld steht dem in einem Restaurant um nichts nach. Später wird Esser es nutzen, um seine Kochkünste unter Beweis zu stellen. „Düsseldorf ist eine lebendige und lebenswerte Stadt, studentisch und wohlhabend“, meint er, während er seinen Kaffee trinkt. „Düsseldorf ist eine offene Stadt, mit vielen Besucher*innen und Ausländer*innen, zahlreichen Messen und Ausstellungen, zwei bedeutenden Universitäten, der Heinrich-Heine-Universität und der Kunstakademie, kurz gesagt, eine Stadt, die sich ständig erneuert.“ Es spricht der Düsseldorfer in Esser, der seit 1986 hier lebt. Mit knapp 19 Jahren verließ er Rom, um im Weiteren von 1991 bis 1997 an der Kunstakademie zu studieren. „In Düsseldorf gibt es 5.000 Künstler*innen“, erklärt er wenig später und ich bin mir nicht sicher, ob er das im Scherz sagt oder ob es sich um eine genaue Zahl handelt. Die Tatsache, dass es in der Stadt viele Künstler*innen gibt, zeugt von den hervorragenden Bedingungen, die Düsseldorf den in diesem Sektor Beschäftigten bietet. Berlin gilt hier als nicht besonders attraktiv. „Die Düsseldorfer Museen, wissenschaftlichen Einrichtungen und Galerien sind von historischer Bedeutung, sie sind eine Art Fenster zur Welt, das die Stadt wirklich international macht. Die Künstler*innen, die hier arbeiten, haben es nicht nötig, nach Berlin oder Hamburg zu gehen.“Zum Abendessen stoßen dann auch Lorenzo Pompa und Felix Schramm zu uns, zwei weitere lokale Künstler und Freunde von Esser. Die drei kennen einander seit ihrer Zeit an der Akademie und haben alle eine Verbindung zu Italien. Der aus Hamburg stammende Bildhauer Schramm studierte für einige Zeit in Florenz und war Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Bildhauer und Maler Pompa ist 30 Kilometer nördlich von Düsseldorf in Krefeld, der Geburtsstadt von Joseph Beuys geboren, aber in Rom aufgewachsen, wo er als Architekt tätig war.
Während wir essen, lädt mich Esser ein, den beiden doch dieselbe Frage zu stellen wie ihm einige Stunden zuvor, und zwar, welche Bedeutung Beuys heute für Düsseldorf hat. „Eine geringere als man meinen könnte“, hatte er zu meiner großen Überraschung geantwortet. „Und das, obwohl er zu Lebzeiten, vor allem in den 70er Jahren, zweifellos eine prominente Persönlichkeit war. Heute spielt Gerhard Richter eine viel größere Rolle.“ Schramm und Pompa antworten mehr oder weniger ähnlich. Darüber hinaus erzählt Esser eine Anekdote, um mir die Situation zu veranschaulichen: Vor einigen Monaten stand am Joseph-Beuys-Ufer ein temporäres Straßenschild, auf dem sein Name falsch geschrieben war: Joseph „Bouys“. Als ich am Ende des Abends auf dem Rückweg zum Hotel den Fluss entlanglaufe, denke ich an diese Anekdote zurück. Wenn ich weiter geradeaus ginge, würde ich direkt zu dem nach dem Künstler benannten Uferabschnitt gelangen. Aber es ist spät und morgen habe ich eine Stadt zu erkunden.
(FORTSETZUNG FOLGT …)