Lübeck
Lübeck Ende Juli

Der Strand von Travemünde mit den typischen Strandkörben
Der Strand von Travemünde mit den typischen Strandkörben | © Goethe-Institut Italien | Foto (Zuschnitt): Roberto Sassi

Lübeck wird häufig mit Thomas Mann assoziiert. Zugleich besticht die geschichtsträchtige Stadt mit ihrem historischen Zentrum im Stil der Backsteingotik, das heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Unser Autor Roberto Sassi hat Lübeck für uns erkundet – und zwar bis hinauf nach Travemünde, das als eines der beliebtesten Seebäder der Deutschen gilt.

Von Roberto Sassi

AUF DEM WEG IN DIE HANSESTADT

Die Anreise nach Lübeck mit dem Zug erwies sich als schwieriger als erwartet. Grund dafür war nicht so sehr der Intercity Berlin–Hamburg, in dem es sehr ruhig zugeht, sondern vielmehr der überfüllte Regionalexpress 80 nach Travemünde an der Ostsee. Es ist ein Sonntag Ende Juli, ich bin hier im nördlichsten Bundesland Deutschlands und doch habe ich das Gefühl, irgendwo in Südeuropa zu sein: Jugendliche in Flipflops mit Rucksäcken auf den Schultern, Großfamilien mit viel zu viel Gepäck, der starke Geruch von für den Strand mitgebrachtem Proviant. Der Waggon ist voll, es ist laut, viele Fahrgäste sind gezwungen, im Stehen mitzufahren. Was ich hier sehe, sind die Nebenwirkungen des 9-Euro-Tickets, der Monatskarte, mit der man diesen Sommer landesweit den Nah- und Regionalverkehr nutzen kann.

Als ich in Lübeck ankomme, ist es fast Mittag und der Hauptbahnhof ist von hellem Licht durchflutet, das durch das Glasdach und die verglasten Seitenfronten nach innen dringt. Ich mache mich ohne Eile auf den Weg in Richtung Altstadt, die sich in der Ferne hinter den spitzen Türmen des Holstentors, des alten westlichen Stadttors, abzeichnet. Auf der Straße neben dem Fluss herrscht mäßiger Verkehr, einige Passant*innen trotzen den über 30 Grad und spazieren den Uferweg direkt am Wasser entlang. Auf der anderen Straßenseite stellt eine Reihe roter Backsteinhäuser mit Blick auf die Trave sofort all jene zufrieden, die auf der Suche nach dem hanseatischen Lübeck sind. Ein paar Tourist*innen suchen den besten Aufnahmewinkel für ein Foto der Salzspeicher neben dem Holstentor, die mit ihrer ungewöhnlichen, schiefen Architektur zu den Wahrzeichen der Altstadt zählen.

Bis vor kurzem wusste ich nicht viel über dieses alte Handelszentrum, das von den zwei Flüssen Trave und Wakenitz umrahmt wird und dessen Farben und Stimmung an gewisse malerische skandinavische Städte erinnern. Ich wusste von der Hanse und dem Hafen, einem der wichtigsten an der Ostsee, und auch, dass in Lübeck gleich drei Nobelpreisträger lebten – Günther Grass, Willy Brandt und Thomas Mann –, denen heute jeweils ein eigenes Museum gewidmet ist. So befindet sich etwa das Hotel, in dem ich untergebracht bin, nur wenige Meter entfernt vom Buddenbrookhaus, dem mit Abstand berühmtesten der drei Museen, das jedoch leider wegen Umbauarbeiten bis 2025 geschlossen ist. Unter der grünen Plane, die das Gerüst verdeckt, blitzt die weiße Fassade hervor – eine farbliche Anomalie zwischen den roten Backsteinhäusern. Von 1841 bis 1891 waren in diesem eleganten Gebäude in der Mengstraße 4, direkt gegenüber der imposanten Kirche St. Marien, die Büros der Firma Mann untergebracht. Wenn das Museum seine Tore wieder öffnet, wird es auch das angrenzende Haus Nummer 6 mitumfassen. In diesem im Stil der Backsteingotik gehaltenen Gebäude klafft breit die Öffnung einer Durchfahrt, die ein seltsames Bild bietet. Denn direkt hinter den beiden historischen Häusern erhebt sich der massive Korpus aus Zement und Metall eines mehrstöckigen Parkhauses.

VOM ALTEN LÜBECK INS NEUE TRAVEMÜNDE

Die Altstadt von Lübeck ist relativ klein. Auf der einen Kilometer breiten und zwei Kilometer langen Insel leben knapp 13.000 der insgesamt 220.000 Einwohner*innen der Stadt. Es ist Sonntagnachmittag und auf den Straßen sind nur wenige Tourist*innen zu sehen, wahrscheinlich haben es die meisten von ihnen vorgezogen, an den Strand zu fahren. Nachdem ich meine Sachen ins Hotel gebracht habe, mache ich mich auf zur Uferstraße „An der Untertrave“ und folge dem Flusslauf bis zum nördlichsten Punkt der Insel. Dort überquere ich die Burgtorbrücke, die von der Altstadt in den Stadtteil St. Gertrud führt. Auf einer Wiese in der Mitte einer stark befahrenen Kreuzung sticht eine schmale, unregelmäßige Skulptur ins Auge, in deren Spitze eine Art Schädel gemeißelt ist. Eine Inschrift auf dem Sockel informiert mich darüber, dass die Stele den 500 Opfern der sogenannten Todesmärsche gewidmet ist: Nachdem die Häftlinge der Konzentrationslager Auschwitz und Mittelbau-Dora gezwungen worden waren, diese vor der Befreiung durch die Rote Armee zu räumen, hielten sie sich im April 1945 für einige Wochen in Lübeck auf. Von hier wurden sie anschließend in Richtung Neustadt in Holstein weitergetrieben, wo der Großteil von ihnen am 3. Mai bei der Versenkung des Gefangenenschiffs Cap Arcona ums Leben kam.
  • Touristen in der Königstraße © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Touristen in der Königstraße

  • Der Eingang zum Museumsquartier St. Annen © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Der Eingang zum Museumsquartier St. Annen

  • Der Innenhof des Museumsquartier St. Annen © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Der Innenhof des Museumsquartier St. Annen

  • Die Hubbrücke © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Die Hubbrücke

  • Die Trave vom alten Hafen aus gesehen © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Die Trave vom alten Hafen aus gesehen

  • Die Gegend am alten Hafen © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Die Gegend am alten Hafen

  • Die Trave von der Untertrave betrachtet © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Die Trave von der Untertrave betrachtet

  • Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal

  • Die Persiluhr in Travemünde © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Die Persiluhr in Travemünde

  • Karusell in Travemünde © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Karusell in Travemünde

  • Der Strand von Travemünde mit den typischen Strandkörben © Goethe-Institut Italien | Foto: Roberto Sassi

    Der Strand von Travemünde mit den typischen Strandkörben

Ich bleibe einige Minuten stehen und betrachte das Denkmal und die breite, stark befahrene Kreuzung, dann nehme ich eine kleine, abschüssige Straße, die mich zurück ans Flussufer auf Höhe des alten Hafens führt. Die Lager, in denen früher die Waren aufbewahrt wurden, haben sich in Fitnesscenter, Büros und trendige Bars mit Palmen vor der Tür verwandelt. Ein touristisches Segelboot voller Rentner*innen quert den Fluss in Richtung Anlegestelle. Ein Stück weiter paddeln vier Freund*innen langsam auf ihren Paddleboards. Die Altstadt ist so klein, dass ich in zwei Stunden beinahe alle wichtigen Orte besichtigt habe: das Rathaus, das Heiligen-Geist-Hospital, das Burgtor, das Museumsquartier St. Annen. Ich habe sogar noch Zeit für einen kurzen Abstecher in ein supertouristisches Lokal: das 1806 gegründete Café Niederegger, in dem man Marzipanspezialitäten des gleichnamigen Herstellers kaufen kann (Lübecker Marzipan ist das deutsche Marzipan schlechthin).

Am nächsten Tag nutze ich die milderen Temperaturen, um nach Travemünde zu fahren. Ich bin bereits in den Regionalzug eingestiegen, als der Ausfall der Fahrt wegen eines technischen Problems mitgeteilt wird. Ich weiche also auf den Bus aus, und das ist ein Glück, denn so habe ich die Gelegenheit, den Hafen aus der Nähe zu sehen. Vor dem Fenster ziehen Lagerhallen voller gestapelter Kisten vorbei, im Hintergrund glänzen Containerschiffe in der Sonne, auf einem riesigen Parkplatz warten Dutzende von Wohnmobilen mit schwedischen und finnischen Kennzeichen auf die Fähren nach Malmö und Helsinki. Vorbei am Hafengebiet steige ich aus und wage mich zu Fuß in den touristischen Teil Travemündes vor – den mit den knallbunten Fachwerkhäusern, den chaotischen Souvenirläden und den überfüllten Restaurants.

Seit dem frühen 19. Jahrhundert zählt das Seebad zu den beliebtesten in ganz Deutschland. In den „Buddenbrooks“ beschreibt Thomas Mann Travemünde als einen Ort der Ruhe und der Sorglosigkeit, und zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, als Mann sich dort aufhielt, dürfte das auch gestimmt haben. Heute ist von dieser Welt nicht viel übrig geblieben, ausgenommen natürlich das berühmte Kurhaus, dessen strenge Optik an Kuraufenthalte der Bürgerschicht im Zeichen der Stille und der Langeweile erinnert. Zwar mangelt es nicht an wohlhabenden älteren Menschen, die zur Erholung hierherkommen, doch sind sie zu einer Minderheit geworden. Die Uferpromenade ist verstopft mit Tourist*innen aller Altersgruppen, in den Bars werden zum Beat von Technomusik Mojitos und Caipirinhas serviert, Scharen von Kindern planschen unter den wenig aufmerksamen Blicken ihrer Eltern zwischen den Wasserstrahlen der Brunnen. All das vor dem Hintergrund des Maritim Hotels, eines architektonischen Kolosses, der mit seinen 125 Metern die gesamte Küste dominiert und an dessen Spitze sich das höchste Leuchtfeuer Europas befindet.

Eine geraume Weile spaziere ich nur wenige Meter neben den für Ostseebäder typischen Strandkörben die Promenade entlang, wobei ich immer wieder Menschen Ukrainisch sprechen höre. Das sollte mich nicht wundern, ist Deutschland doch eines der europäischen Länder, die seit Beginn des Krieges die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben, und trotzdem ist die große Zahl ukrainischer Familien überraschend. Im Zug zurück nach Lübeck denke ich über sie nach, wie auch über die Uferpromenade, die sich durch nichts von der in anderen europäischen Badeorten unterscheidet, und im Rückblick wird mir klar, wie naiv ich war: Ich hatte mir ein Travemünde vergangener Tage vorgestellt, einen Ferienort wie aus den Buddenbrooks, und stattdessen habe ich einen Ort gefunden, der von der Gegenwart erzählt.

DAS ANDERE LÜBECK

Die Engelsgrube ist die vielleicht geschichtsträchtigste Straße der Altstadt. Da sie von den schweren Luftangriffen des 29. März 1942 verschont blieb, reihen sich dort heute Gebäude aus unterschiedlichen Jahrhunderten aneinander (von denen die ältesten aus dem 14. Jahrhundert stammen). Am Morgen des letzten Tages spaziere ich unter einem Himmel, der Gewitter verspricht, durch die zahlreichen kleinen Gassen und Höfe, die von dieser leicht abschüssigen Straße abzweigen und hier Gänge genannt werden. Die bunten Häuschen des Viertels wurden einst von den Familien der Handwerker, Metzger, Bäcker und Hafenarbeiter, kurz gesagt von der Arbeiterklasse bewohnt, doch in den vergangenen Jahren haben sie sich zu einem Luxus für die wenigen Bewohner*innen und ein paar glückliche Tourist*innen entwickelt. Die in Holzbauweise platzsparend nebeneinandergezwängten Häuser erinnern unaufdringlich an die arbeitsreiche Kaufmannszeit.

Mit diesen Postkartenmotiven im Kopf mache ich mich auf den Weg zum Zug zurück nach Berlin. Unweit vom Bahnhof, als ich die Altstadt endgültig hinter mir gelassen habe, wird mir bewusst, dass ich nur einen kleinen Teil der Stadt gesehen habe. Von dem anderen Lübeck, das sich über eine Fläche von über 200 Quadratkilometern erstreckt, das aus Wohnvierteln, Büros, stark befahrenen Straßen und Schulen besteht, kurzum von dem Lübeck, das nicht mehrere Tausend Besucher*innen pro Tag anzieht, habe ich kaum etwas mitbekommen. Das nächste Mal dann.

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