Ein Gespräch mit Francesca Melandri
Von Südtirol über Berlin bis Gujarat
![Francesca Melandri Francesca Melandri](/resources/files/jpg932/francesca-melandri-2300x1000-copyr-francesca-mantovani-formatkey-jpg-w320m.jpg)
Francesca Melandri debütierte in Italien 2010 mit dem Roman Eva dorme. Es folgten Più alto del mare und Sangue giusto. Zusammen bilden sie die Trilogie der Väter. In Deutschland erscheinen Melandris Bücher im Wagenbach Verlag, dem Verlag für italienische Literatur in Deutschland, bekannt für sein Engagement.
Von Giulia Mirandola
Welche Beziehung haben Sie zur deutschen Sprache beziehungsweise zu Deutschland und zur Literatur im deutschsprachigen, donauländischen und mitteleuropäischen Raum?
Ich spreche nicht besonders gut Deutsch und lese es mit etwas Mühe, aber meine beiden Kinder sind zweisprachig, sie haben einen deutschsprachigen Vater, deshalb gehört Deutsch zu unserem Familienlexikon. Zu Deutschland habe ich eine private Beziehung, meine Kinder leben mittlerweile hier, und für mich ist es normal zwischen Rom, Berlin und München zu pendeln. In Italien hat sich meine Generation an der deutschen und österreichischen Literatur herangebildet: Joseph Roth, Heinrich Böll, Günter Grass, um ein paar Beispiele zu nennen. Sie und viele weitere Autorinnen und Autoren waren eine Zeitlang zentral, und die Kulturlandschaft, zu der sie gehörten, durchdrang die italienische. Ich habe allerdings den Eindruck, dass seit dem Mauerfall die zeitgenössische deutschsprachige Literatur für italienische Leser weniger relevant ist, und ich habe mich oft gefragt, warum, warum dieser Bedeutungsverlust. Ich habe diese Frage vielen Menschen in Italien und Deutschland gestellt. Manche meinen, es liege daran, dass nur wenige Lektoren in italienischen Verlagen solide Deutschkenntnisse haben, andere vermuten, dass die deutsche Erzählliteratur in den letzten Jahrzehnten weniger in der Lage war, eine universelle Stimme zu finden. Aber ich bin nicht sicher, ob das die tatsächlichen oder die einzigen Erklärungen sind.
Im Herbst 2019 waren Sie Hausgast im Literarischen Colloquium Berlin, einer sehr bedeutenden Kulturinstitution im Bereich der europäischen und außereuropäischen Literatur. Welche Erfahrungen haben Sie während des Residenzprogramms gemacht?
Was ist die Arbeit von Übersetzerinnen und Übersetzer? Was bedeutet „übersetzen“?
Was mich betrifft, ist Übersetzung ein wichtiges Thema. Ich betrachte Übersetzerinnen und Übersetzer als eine andere Art von Autorinnen und Autoren. Meine Mutter, Caterina Minoli, hat viele Klassiker der angloamerikanischen Literatur wie Moby Dick oder Tristram Shandy ins Italienische übersetzt. Als ich aufwuchs, reiste sie am Schreibtisch mit ihrer Olivetti zwischen den Sprachen und den Literaturen hin und her. Schreiben und übersetzen sind Erfahrungen, die miteinander verbunden sind. Als man mich dann selbst in andere Sprachen “übergesetzt” hat – in die vielen Sprachen, in die ich übersetzt wurde – habe ich das zu schätzen gewusst und noch mehr Respekt für die Arbeit meiner Mutter und aller Übersetzer verspürt. Wie Olga Tokarczuk sagt, sind Übersetzer kulturelle Brückenbauer. Es liegt an den Übersetzerinnen und Übersetzern, dass wir uns Teil einer einzigen Menschheit fühlen können und nicht jeder nur in seine eigene, begrenzte Sprachblase verbannt ist. Wenn wir uns alle einer einzigen menschlichen Spezies zugehörig fühlen, verdanken wir das auch, wenn nicht in erster Linie, ihnen.
In Deutschland erscheinen alle Ihre Romane im Programm des unabhängigen Berliner Wagenbach Verlags. Der Verlagsgründer Klaus Wagenbach ist für sein Charisma und sein kulturpolitisches Engagement bekannt. Sind Sie ihm je persönlich begegnet?
![Über Meereshöhe (Più in alto del mare) - Francesca Melandri Buchcover von „Über Meereshöhe“ (Più in alto del mare) von Francesca Melandri, Übersetzung von Bruno Genzler, Wagenbach 2019 © Buchcover © Wagenbach 2019 Über Meereshöhe (Più in alto del mare) - Francesca Melandri](/resources/files/jpg932/copertina-ueber-meereshoehe-formatkey-jpg-default-m.jpg)
Was verbindet die deutsche Vorstellungswelt mit derjenigen, aus der Ihre Geschichten stammen?
![Sangue giusto - Francesca Melandri Buchcover von „Sangue giusto“ von Francesca Melandri, Rizzoli 2017](/resources/files/jpg932/copertina-sangue-giusto-formatkey-jpg-default-m.jpg)
Wo treffen Ihr Schreiben, die historischen Fakten und die Lebensgeschichten, von denen Sie erzählen, zusammen?
![Alle, außer mir (Sangue giusto) - Francesca Melandri Buchcover von „Alle, außer mir“ (Sangue giusto) von Francesca Melandri, Übersetzung von Esther Hansen, Wagenbach 2018](/resources/files/jpg932/copertina-alle-ausser-mir-formatkey-jpg-default-m.jpg)
Was stellt Alexander Langer, seine Bewegung, seine Gedanken, seine Vision heute für Sie dar?
Ich betrachte Alexander Langer als einen meiner inneren Lehrer, als einen Menschen, der seiner Zeit sehr weit voraus war und deshalb häufig missverstanden wurde. Ein Visionär, der aus der Zukunft kam. Mein erster Roman, Eva schläft, spielt in Südtirol, und Langer war der erste Mensch in dieser Region, und später in Europa, der aus der Überwindung der Idenitätsgegensätze ein Element von europäischer Tragweite machte. Während ich den Roman schrieb, habe ich all seine Schriften gelesen, um ihm nahe zu sein. Es gibt in Eva schläft eine Passage, in dem ich ihn beschreibe, aber ich nenne ihn nicht explizit. Nach seinem Tod haben viele große Reden über ihn geschwungen, und ich wollte mich da nicht einreihen. Deshalb wollte ich Eva schläft auch nicht explizit ihm widmen. Aber ich habe auszudrücken versucht, was ich hoffe von seiner Vision und seinen Gefühlen verstanden zu haben, auf implizite, aber organische Art, im Inneren des Romans selbst.
Was hat Sie dazu gebracht, den Text Ich schreibe euch aus eurer Zukunft zu verfassen?
ch habe ihn geschrieben, weil die französische Tageszeitung Libération mich damit beauftragt hatte, als die Franzosen kurz vor dem Lockdown waren. Nicht, dass ich gedacht hätte, es wäre wichtig, das zu tun – ob ein Text wichtig ist oder nicht, entscheidet, wer ihn liest, nicht, wer ihn schreibt. Inzwischen ist er in zweiunddreißig Sprachen übersetzt, darunter Gujarati, Armenisch, Afrikaans … Ich bekomme weiterhin Zuschriften von Menschen, die all diese Sprachen sprechen. Ich glaube, der Grund für diese globale Resonanz ist, dass ich in dem Text von Dingen spreche, die im Grunde sehr einfach sind, universelle menschliche Erfahrungen, mit denen sich Menschen identifizieren konnten, die geografisch sehr weit voneinander entfernt sind: von Soweto bis Estland, von Kalkutta bis Korea. Dass mein „Brief“ viral gegangen ist, hat mich direkt mit der aus meiner Sicht wesentlichen Charakteristik von Covid-19 in Berührung gebracht: nämlich mit der Tatsache, dass diese Erfahrung alle Bewohner unseres Planeten verbindet. Das ist unserer Generation vorher noch nie passiert.
![Die Buchhandlung Dante Connection empfiehlt Francesca Melandri Die Buchhandlung Dante Connection empfiehlt Francesca Melandri](/resources/files/jpg932/la-libreria-dante-connection-raccomanda-francesca-melandri_foto-giulia-mirandola-formatkey-jpg-w320m.jpg)