Literaturhaus Berlin
„Ich wollte mehr und mehr“
Ich treffe die Schriftstellerin Judith Schalansky wenige Tage vor ihrer Reise nach Wien, wo ihr offiziell der prestigeträchtige Christine-Lavant-Preis 2020 verliehen werden wird. In Italien erscheinen ihre Bücher bei Nottetempo und Bompiani.
Von Giulia Mirandola
In der Fasanenstraße 23 sind die Gartenarbeiten in vollem Gange, gegenüber ist ein Arbeitertrupp mit der Sanierung eines historischen Gebäudes befasst. Um in Ruhe miteinander sprechen zu können, fliehen wir vor dem Lärm des Rasentrimmers und der Mischmaschine ins Kaffeehaus. Im Hintergrund sind nun Klaviermusik und die Stimmen der anderen Gäste zu hören, die sich wie wir über ein wundervolles Frühstück freuen dürfen.
Was essen Sie gerne zum Frühstück?
Ich liebe Kaffee, das ist die Droge, die ich mir jeden Morgen erlaube. Dazu esse ich ein Quarkjoghurt, gemischt mit Nüssen, Früchten und Kürbiskernöl. Dann bringe ich oft unsere Tochter in die Schule, die mir dann regelmäßig diese eine Frage stellt, auf die ich keine Antwort weiß: „Warum beginnt die Schule so unglaublich früh?“
Wir sind hier im Literaturhaus. Wann haben Sie das Literaturhaus zum ersten Mal besucht? Welche Bedeutung hat es heute für Sie?
Das Literaturhaus ist ein typischer Westberliner Ort. Ich hatte einige Veranstaltungen hier, aber ich könnte jetzt nicht mehr sagen, welche die allererste war. Ich wohne heute lustigerweise gar nicht weit entfernt von der Fasanenstraße. Das Li-Be hat natürlich immer diesen Inselcharakter, oder – noch besser – Oasencharakter. Ich finde toll, dass es jetzt dieses neue Team gibt, das dieses altehrwürdige Haus ganz neu interpretiert.
In dieser Villa hat Richard Hildebrandt, Teilnehmer an der ersten und zweiten deutschen Nordpolarexpedition, gewohnt. In Ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“(*) erkunden Sie fünfzig Inseln „auf denen ich nie war und niemals sein werde“, wie es im Untertitel heißt. Ist das Lesen Ihres Erachtens eine Art Expedition?
Absolut, ja. Das gilt für die Leserinnen und Leser, aber eben auch für mich, wenn ich schreibe. Ich freue mich dann, dass ich mich mit einem Thema auseinandersetzen kann. Am Atlas zu arbeiten war eine Möglichkeit, in die Ferne zu reisen, ohne den Schreibtisch zu verlassen. Expeditionen bieten oft gutes Material, um über das Geschichtenerzählen nachzudenken. Im Grunde ist das ja das Heldenepos, das immer wieder erzählt wird. Aber mich haben oft die Lücken in den Quellen interessiert, das Scheitern, die Kompensationen, der Moment, in dem bei der Expedition zur neuseeländischen Campbell-Insel sich die Wolke vor die Sonne schiebt und damit die Beobachtung des Venus-Transits unmöglich macht. Für mich ist das Konzept von Literatur als Fiktion irreführend. Ich arbeite in der Grenzregion zwischen Belletristik und Sachbuch.
Sie schreiben gewöhnlich in der Stabi (Staatsbibliothek). Was ist für Sie ein Buch und was eine Bibliothek?
Eine Bibliothek ist eine Sammlung von Büchern. Ein Buch ist ein Medium. Es ist das Medium, in dem ich denke. Das Buch in der Form, wie wir es heute kennen, gibt es schon seit vielen hundert Jahren, Form und Inhalt sind darin zwingend miteinander verschmolzen. Manchmal scheint mir, dass man auch bei einem Buch zwischen Seele und Körper unterscheiden kann. Jede neue Ausgabe wäre dann eine neue Inkarnation.
Seit 2013 geben Sie beim Berliner Verlag Matthes & Seitz die Reihe „Naturkunden“ heraus. Was suchen Sie in der Natur? Was bedeutet es für Sie, dieses Programm zu kuratieren?
Mich faszinieren in der Natur vor allem jene Organismen, die Kategorien sprengen und die wir aller Erforschung zum Trotz noch immer schwer fassen können, wie zum Beispiel Korallen oder Pilze. Jutta Person, die Autorin von Korallen, schreibt, dass man mit Korallen immer per Sie bleibt. Zwischen ihnen und uns besteht eine gewisse Distanz. Die Fremdartigkeit zeigt sich schon allein darin, dass Korallen vollkommen anders organisiert sind. Streng genommen kann man gar nicht von Korallenindividuen sprechen, sondern nur von Verbünden und Zusammenschlüssen. Die Idee von „Ich“ und „Wir“ wird da obsolet. Doch obwohl wir eigentlich wissen, dass das Leben hochsymbiotisch ist, tun wir Menschen meistens so als lebten wir in einem Bunker.
Die Reihe Naturkunden ermöglicht mir eine für mich ideale Position: Ich kann mit dem Verleger Andreas Rötzer zusammen ein Programm gestalten, ohne das Gewicht der sonstigen Aufgaben eines Verlagshauses auf meinen Schultern zu spüren.
Das ist eine große Frage. Um Bilder zu lesen, muss man nicht unbedingt alphabetisiert sein, es ist keine Vorbildung nötig. Während meines Studiums der Kunstgeschichte mussten wir häufig Gemälde beschreiben, das war eine wundervolle Übung. Die Herausforderung besteht darin, das Bild genau zu beschreiben, ohne es zu interpretieren. Das lehrt das genaue Hinsehen und es ist eine wahnsinnig gute Übung, um schreiben zu lernen.
Haben Sie in Ihrer Kindheit Bilderbücher gelesen? Und haben Sie vielleicht ein Lieblingsbuch?
Es gibt ein Kinderbuch, das ich sehr geliebt habe: Der kleine Häwelmann von Theodor Storm. Es gab in der DDR eine Ausgabe mit etwas unheimlichen Illustrationen von Hans Ticha. Der kleine Häwelmann ist ein Junge, der nicht schlafen will. Als seine Mutter schon längst schläft, fängt er an in seinem Rollenbett auf und ab zu fahren, erst im Zimmer, dann draußen durch die Stadt und den Wald zu segeln. Der Mond leuchtet dem Kind, fragt aber immer wieder: „Junge, hast du noch nicht genug?“ Und das Kind antwortet: „Nein, mehr, mehr! Alle Welt soll mich fahren sehen!“ Diese Geschichte hat mich sehr begeistert. Auch ich wollte immer „mehr und mehr“ und auch ich wollte gerne in die Welt hinausziehen. Am Ende des Märchens fällt das Kind in „das große Wasser“, also das Meer. Die Lautähnlichkeit von „Meer“ und „mehr“ finde ich hier wirklich sehr schön.
(*) deutsche Ausgabe: mare Verlag 2009; italienische Ausgabe: Atlante delle isole remote, Bompiani 2013
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