„Drei Kameradinnen“ von Shida Bazyar
Das Versagen gegenüber dem Rassismus
Was ist wahr und was nicht in Shida Bazyars Roman„Drei Kameradinnen“ (Kiepenheuer & Witsch 2021)? Was wahr ist, sagt sie uns laut und deutlich Bazyars Alter Ego, die forsche Ich-Erzählerin Kasih, die ihre Leser*innen von der ersten Seite an nicht schont. Was nicht wahr ist, wird sie aber erst ganz zum Schluss verraten.
Von Giovanni Giusti
Ein Gebäude in einem einfachen Wohnviertel geht in Flammen auf. Menschen sterben. Menschen mit Migrationshintergrund, wie sie selbst. Und Saya, ihre beste Freundin, wurde dafür verhaftet. In einem unaufhaltsamen Gedankenstrom, im fast zwanghaften Schreibfluss einer einzigen Nacht, ausgelöst durch diese Tragödie, erzählt Kasih aus ihrem Leben und dem ihrer Freundinnen Saya und Hani. Das heißt, sie erzählt daraus das, von dem sie meint, dass es ihr Publikum wissen soll. Ihren Namen erfahren wir fast nebenbei erst nach über 80 Seiten, aber wir erfahren nicht, aus welchem Teil eines ganz allgemeinen „Nahen Ostens“ ihre Familie flüchten musste, auch nicht, in welcher deutschen Stadt sie nun lebt.
Freundinnen schon immer und für immer
Kasih, Hani und Saya sind die Drei Kameradinnen des deutschen Titels (Kiepenheuer und Witsch 2021), der ganz bewusst an Drei Kameraden anknüpft, die Kriegsveteranen, von denen Erich Maria Remarque in einem Roman der 1930er Jahre erzählt. Ihre Familien sind als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, die Mädchen haben studiert, sind, was man integriert nennt, auch wenn sie sie in Vierteln leben, die als Ghettos betrachtet werden, und von mehr und weniger subtilen Formen des Rassismus umgeben, auf die jede von ihnen anders reagiert. Sie sind Freundinnen, schon immer und für immer. Kameradinnen. Schwestern im Kampf.Obwohl sie sich immer wieder die Sinnfrage stellt, erzählt Kasih aus ihrem Leben; der Brand und Sayas Verhaftung werden zum Anlass für eine nächtliche „Beichte“, unterbrochen von ständigen Abschweifungen, scheinbar ungeordneten Flashbacks, die wie aus dem Nichts auftauchen, von einem Wort, einem Gesicht hervorgerufen werden, ohne präzisen zeitlichen Ablauf, und die uns doch stets in der Geschichte zu halten vermögen. Zuallererst ist die Geschichte von Kasih selbst, die sich „Mädchen“ nennt und gleich präzisiert, dass sie das in Deutschland ist, in ihrem Ursprungsland aber selbst schon jugendliche Kinder haben könnte; die wütend und frustriert ist, weil sie trotz eines erstklassigen Abschlusses in Soziologie keinen Job findet, und enttäuscht von den Männern, vor allem ihrem Ex-Freund Lukas. Die Geschichte von Saya, gewissermaßen die Anführerin der drei, „die Kluge, die immer alles durchschaut, die alles weiß, die schneller denkt als alle anderen“, die Integrationsworkshops hält und geradezu verbissen gegen den Rechtsradikalismus im Internet ankämpft. Die Geschichte von Hani, die als ausgebeutete Sekretärin arbeitet und damit glücklich ist, umso mehr, als sie sogar eine Gehaltserhöhung durchsetzen kann.
Kasih zuhören
In ihrer Schreibnacht, dieser nächtlichen Auseinandersetzung mit ihren Leser*innen lässt Kasih eine Welt erstehen, die Deutschland ist, Europa, und die auch von „nicht-weißen“ Menschen bewohnt wird, wie sie sie nennt, im Gegensatz zu den „weißen“ Deutschen. Währenddessen steigt unsere Ungeduld zu erfahren, was wirklich passiert ist, wie es dazu kam, was Saya damit zu tun hat. Am Ende des Romans jedenfalls hat Kasih unser ganzes Verständnis und all unsere Sympathie, obwohl sie uns über 300 Seiten lang ziemlich grob angefasst hat und nicht nur, weil sie uns trotz der ernsten Themen auch mit witzigen Szenen beschenkt, wie der Inszenierung einer fiktiven Talkshow der 90er Jahre.Man möchte sich am liebsten mit Kasih unterhalten, sie besser kennenlernen, sich mit ihrer Hilfe auseinandersetzen mit Integration und Rassismus. Das eigene Versagen gegenüber dem Rassismus aufarbeiten, um Begriffe aus dem Buch zu zitieren. Und tatsächlich würde es schon helfen, Menschen wie Kadih einfach zuzuhören. Dieser Wunsch zeigt, was Shida Bazyar mit diesem Roman gelungen ist, der nicht nur eine gut erzählte Geschichte bietet, sondern eine scharfsinnige Betrachtung über Migration einer Autorin, die als in Deutschland geborene Tochter von Eltern, die vor der islamischen Revolution aus dem Iran flohen, weiß, wovon sie spricht.