Vom Salone del Libro zur Buchmesse 2024
Anständige Mädchen in Italien und Deutschland
Die Turiner Buchmesse 2023 schließt mit Rekord-Besucherzahlen und starken Regengüssen. Sie endet für mich mit hohem Fieber. Noch immer schwach sitze ich im Zug Turin-Reggio Calabria mit Halt in Rom. Mir gegenüber am Vierertisch sitzen zwei Leserinnen aus Kalabrien, die nach dem Salone die italienische Halbinsel durchqueren, um zurück nach Hause zu fahren. Wir sind alle müde, aber glücklich.
Von Sarah Wollberg
„Ich habe mir nur ein Buch gekauft“, sage ich, „am letzten Tag habe ich mich noch zum Stand vom Verlag NNE durchgekämpft, ich wollte es mir schon seit Wochen holen“. Stolz halte ich es hoch wie eine Trophäe. Pink leuchtet es vor unseren Augen. „Ragazze perbene von Olga Campofreda“, unterstreiche ich. „Das bin ich!“, ruft die junge Frau neben mir. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in meinem Fieberwahn richtig gehört habe.
Sie ist es wirklich. Mein Zug wäre eigentlich schon am Vortag gewesen, aber ich hatte ihn aufgrund des Fiebers nicht nehmen können. Jetzt sitze ich hier, neben Olga.
Debüt in Deutschland
Während die Landschaft Richtung Süden an uns vorbei zieht, unterhalten wir uns. Deutschland ist das erste Land, in das ihr Debütroman übersetzt wird. „Benvenuta tra le mie ragazze! Ci vediamo a Francoforte”, schreibt sie am Ende in mein Buch, als ich in Rom aussteigen muss und sie weiter nach Neapel und von dort in ihre Heimatstadt Caserta fährt.Frankfurter Buchmesse 2024
Da sitzen wir wieder nebeneinander. Anständige Mädchen auf der Buchmesse 2024. Doch wer sind eigentlich die anständigen Mädchen von Olga Campofreda? „Es sind die Mädchen, die sich den Ansprüchen der Familie und der Gesellschaft beugen und zu allem ja sagen. Sie gehen den Weg, der von der Familie seit Generationen vorgegeben wird und fügen sich den traditionellen Rollenbildern, in der die Frau vor allem heiratet und Kinder bekommt.“ Wir treffen schon auf den ersten Seiten auf Rossella und Clara, zwei Cousinen, eine ist das perfekte anständige Mädchen, die andere eine „Rebellin“, die den geebneten Weg in Frage stellt.Italienische Autorinnen
Alba De Céspedes mit ihrem Roman Das verbotene Notizbuch von 1953 steht in meinem Bücherregal seit einiger Zeit neben Anständige Mädchen. Sie ist eine der Autorinnen, die Olga Campofreda zu Beginn ihres Studiums in einer Londoner Bibliothek entdeckte. Durch sie und weitere italienische Autorinnen, wie Natalia Ginzburg und Carla Lonzi, lernte sie weibliche literarische Stimmen kennen, die ihr bis dahin unbekannt waren. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr allein, nicht mehr anders: „Literarisches Schaffen nimmt seinen Ausgangspunkt bei unseren inneren Bedürfnissen“, erzählt Campofreda. Gleichgesinnte zu finden, weibliche Standpunkte und Welten zu entdecken, halfen ihr dabei, ihren Roman, den sie seit langer Zeit in sich trug, auf den Weg zu bringen und das Gefühl der Frustration für die Ungleichheit von Möglichkeiten und Lebensentwürfen zu bekämpfen. „Bis vor 10-15 Jahren war es schwierig, italienische Literatur von Frauen in den Bücherregalen und Bibliotheken meiner Heimatstadt zu finden“, erzählt Campofreda. „Übrigens, die Statistiken sagen bis heute, dass Männer Bücher von Männern lesen, während Frauen keinen Unterschied machen. Aber die Vielseitigkeit der Stimmen und Identitäten in der Literatur ist die wahre Revolution gegen die kulturelle Hegemonie, die es bis heute gibt. Wir können nicht so tun, als sei das nicht so.“ Daher unser Aufruf an die anständigen Jungs: Liest auch Anständige Mädchen!Auch Alba de Céspedes wurde 2021 in Deutschland neu verlegt und der seidene Faden in meinem Bücherregal spinnt sich weiter: Ihre Übersetzerin ins Deutsche ist Verena von Koskull, die auch Olga Campofreda übersetzt.
Dialog zwischen den Generationen
Auch der Dialog zwischen den Generationen sei wichtig, findet Campofreda. „Wir sollten den Mut haben, nein zu sagen, ohne zu denken, dass wir nicht mehr geliebt werden, wenn wir unseren eigenen Weg gehen. Wir sollten mit der vorherigen Generation sprechen und ihnen erklären, was wir uns vom Leben wünschen.“ In den 90er Jahren habe man überhaupt nicht mehr über Feminismus gesprochen. Die neuen Verhaltens- und Schönheitsmuster seien vom Fernsehen diktiert worden. „Mein Bewusstsein für Genderfragen“, so die Autorin, „entstand erst durch das Lesen von Autorinnen an der Uni in London.“ Dadurch habe sie gespürt, dass sie Teil eines großen Ganzen sei, dass man den Faden im Gespräch zwischen Generationen wieder aufnehmen müsse. „Ich sage nicht, dass man dafür weggehen muss, aber sie waren in meiner Provinzstadt in meiner Jugend kein Thema. Heute haben wir zum Glück Internet, eine Tür zur Welt, die jungen Generationen können auf Informationen, feministische Schriften und Diskurse zugreifen. In dem Sinne bin ich eine große Fürsprecherin, für das Gute, dass das Internet uns gebracht hat.“ Internet als Informationsquelle und auch als Sprachrohr. Wie man in Deutschland sagt: “Wer spricht, dem kann geholfen werden“. Ich füge hinzu: Wer liest, kann sich selbst und anderen helfen. Ragazze perbene ist ein Netzwerk, das sich immer weiter ausbreitet. Ob Frauen oder Männer, jung oder alt, kommt dazu!Aber vor allem, fahrt öfter mit dem Zug und schaut immer ganz genau darauf, wer neben Euch sitzt: Es könnte eine Autorin sein.