Scurati, Mann und der hypnotisierte Kontinent
M. Die letzten Tage von Europa

Antonio Scurati mit Buchcovers
Foto des Autors: © Mondadori Portfolio | Leemage-opale

„M. Gli ultimi giorni dell’Europa“ (Bompiani, 2022; dt. Titel: „M. Die letzten Tage von Europa“) ist der dritte Band der Mussolini-Romanbiografie, in der Schriftsteller Antonio Scurati den Faschismus in Romanform aufarbeitet. Sieben Jahre Arbeit und 2.000 Seiten Text hat er dem monumentalen Werk bisher gewidmet.

Von Gabriele Magro

Auf Deutsch ist das Buch 2023 bei Klett-Cotta in der Übersetzung von Verena von Koskull erschienen, die auch schon die ersten beiden Bände übersetzt hat: M. L’uomo della Provvidenza (dt. Titel: M. Der Mann der Vorhersehung) und M. Il figlio del Secolo (dt. Titel: M. Der Sohn des Jahrhunderts), der 2019 mit dem Premio Strega ausgezeichnet wurde. Im dritten Band, der den Zeitraum von 1938 bis 1940 behandelt, kommt es zur untrennbaren Verflechtung der Schicksale von Mussolini und Hitler: Angefangen bei den Rassengesetzen über die Münchner Konferenz, den Stahlpakt und den Einmarsch in Polen bis hin zum Kriegseintritt Italiens an der Seite des Dritten Reichs am 10. Juni 1940.

Scurati rekonstruiert mit den Methoden eines Romanautors, nutzt dabei aber Quellen wie ein Historiker: Seine Charakterisierung der Figuren stützt sich auf persönliche Briefe und Tagebucheintragungen, die Ausdrucksweise der handelnden Figuren ist angelehnt an die Sprache historischer Zeitungsartikel und Archivmeldungen. Dieser narrative Zugang wird immer wieder sichtbar gemacht, indem historische Dokumente rein fiktiven Abschnitten gegenübergestellt werden, wodurch ein komplexes intertextuelles Geflecht entsteht. Das Ergebnis ist ein Werk, das in der europäischen Literatur kaum Entsprechungen findet, sondern sich  – zumindest auf formaler Ebene – an der lateinamerikanischen Tradition des Diktatorenromans zu orientieren scheint. Man denke insbesondere an komplexe Quellen-Patchwork-Arbeiten wie Ich, der Allmächtige (1974) von Augusto Roa Bastos und Der General findet keine Ruhe (1985) von Tomás Eloy Martínez. Thematisch bestehen hingegen spannende Schnittmengen zwischen dem Werk Scuratis und der Novelle eines Meisters der deutschen Literatur, der Ende der 1920er Jahre Parallelen zwischen Hypnose und Faschismus, zwischen Diktator und Zauberer aufzeigte.

Mussolini, der Zauberer

In Mario und der Zauberer – einer Novelle von Thomas Mann aus dem Jahr 1930, die 2023 vom Fischer-Verlag neu aufgelegt wurde – macht die Familie Mann während der Hochblüte des italienischen Faschismus Ende der 20er Jahre Urlaub in Forte di Marmi. In der Novelle besucht der Schriftsteller die Vorstellung eines grotesken Zauberers namens Cipolla, der den Kellner Mario hypnotisiert und ihn glauben lässt, er – Cipolla – sei das Mädchen, das der Kellner liebt. Mario küsst den Zauberer, doch als er aus der Hypnose erwacht, erkennt er die Täuschung und tötet ihn.

Der Zauberer Cipolla mit seiner Macht, die Massen zu kontrollieren, ist als Figur zwischen Tragödie und Farce angesiedelt und eine offensichtliche Personifizierung Mussolinis. So schreibt der Literaturhistoriker Alan Bance: „Wie Cipolla wird auch Mussolini anfangs nicht ernst genommen“, schafft es aber, die Anwesenden in seinen Bann zu ziehen, „indem er sich einer eloquenten und irreführenden Ausdrucksweise, einer selbstbewussten Körpersprache und der psychologischen Prinzipien der mentalen Manipulation bedient“.

„Grotesk und überaus hässlich, er geht wie eine Marionette“, schreibt Ranuccio Bianchi Bandelli – eine der wenigen nicht-faschistischen Figuren in Scuratis Roman – über Mussolini in sein privates Tagebuch. Bianchi Bandinelli ist Archäologe sowie heimlicher Antifaschist und hat die Aufgabe, Mussolini und Hitler während des Besuchs des Führers in Italien im Mai 1938 durch die Ruinen Roms zu führen. Auch Bianchi Bandinelli denkt darüber nach, ob er es versuchen soll, die beiden Diktatoren bei dieser Gelegenheit zu töten. Doch anders als der Kellner Mario in Manns Roman findet er nicht den Mut dazu.

Ein Bauchredner seiner selbst

Ab der ersten Seite von Scuratis Roman wirkt Italien wie eine Theaterkulisse, die eigens für den Auftritt des Diktators/Zauberers gebaut wurde. Der imposante Bahnhof Roma Ostiense, an dem Hitler ankommt und der gerade erst in neoklassizistischem Stil erbaut wurde, ist eine Attrappe. Er ist nichts weiter als ein Gerüst aus Rohren, das mit in Marmor-Optik bemalten Holzplatten verkleidet ist. Auch die pompösen Militärparaden, die vor Hitler aufmarschieren, sind ein Trick, der über die mangelnde Vorbereitung und die unzureichenden Mittel des italienischen Heers hinwegtäuschen soll.

In den letzten Szenen vor der Kriegserklärung erinnert Mussolini schließlich an einen Zauberkünstler, der einen Auftritt vorbereitet, mit dem er die Menge hypnotisieren will. Auf den letzten Seiten des Romans probt der fett gewordene Duce in Unterhosen vor dem Spiegel immer und immer wieder die auswendig gelernte Rede, die er an diesem Nachmittag im Palazzo Venezia halten wird. Mit übertriebenen Posen und Gesten täuscht er so lange Ungezwungenheit vor, bis er – in den Worten des Autors – „zum Bauchredner seiner selbst“ wird. Das Ergebnis dieser schrecklichen Komödie ist die Tragödie des Zweiten Weltkriegs, die im Mittelpunkt des nächsten Bandes von Scuratis Mussolini-Saga steht.

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