Wald – Austausch zwischen Pierre Ibisch und Giorgio Vacchiano
Der Wald: Klimaretter und Klimaopfer
Unwetter, Dürre und Parasiten zerstören in Deutschland Tausende Hektar Wald in kürzester Zeit. In Italien haben die Wälder in 30 Jahren ein Fünftel an Fläche zugenommen. Wald kann das Klima kühlen, leidet aber inzwischen selbst an den Folgen der Klimakrise. Inzwischen rückt Holz aber auch als Brennstoff und nachhaltiges Baumaterial ins Blickfeld. Ganz schön viele Ansprüche für die Wälder. Verlieren wir unsere Klimaretter und was ist zu tun?
Von Sabine Oberpriller
Pierre Ibisch, einer der bekanntesten Verfechter der ökologischen Waldbewirtschaftung Deutschlands, will den deutschen Wald mal machen lassen. Giorgio Vacchiano, Autor des Buches Resilienz des Waldes, findet, das Holz der italienischen Wälder könnte besser genutzt werden. Dass das kein Widerspruch ist, entdecken sie in einem lebhaften Austausch.
Pierre Ibisch: Wenn ich in ganz alten Wäldern bin. Wo der Mensch nicht eingegriffen hat, wo es sehr große, alte Bäume gibt, wo alles undurchdringlich ist, wo nicht alles verstanden werden kann, wo es keine Wege gibt und man sich klein und als Teil des Ganzen fühlt. Das sind die großartigen Momente. Die habe ich zum Beispiel regelmäßig in den Urwäldern der Karpaten, in der Ukraine.
Giorgio Vacchiano: Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit einem Bären, in einem Wald in Kanada: Wahrzunehmen, wie er mit dem Lauf des Wassers, den Fischen und den Bäumen des Waldes verbunden ist, deren Verbreitung er unterstützt, weil er die Samen isst und überall verteilt. Auch wenn ich nur Gast bin, fühle ich mich als Teil dieses Netzwerks. Wir sind Teil der Natur und so fühle ich mich als Teil von etwas Größerem. Was mich auch fasziniert, ist die Veränderung zu beobachten. In allen Wäldern ist die Vegetation in Bewegung, auch in denen hinterm Haus. Die alten, sterbenden Bäume machen für Neues Platz. Ereignisse, die uns vielleicht zerstörerisch erscheinen, wie ein Feuer oder ein Windschlag, bringen Veränderung, neue Arten an Pflanzen und Tieren.
Sie nennen beide Wälder außerhalb Ihrer Heimat. Vermissen Sie solche Waldmomente zu Hause?
P.I.: Absolut. Deutschland ist stolz, Waldland zu sein. Gut ein Drittel der Fläche ist mit Wald und Forsten bedeckt. Da ist es eine Schande, dass man kaum alte Bäume und Wälder sieht. Es gibt wenige, irrsinnig kleine Schutzgebiete. Wir haben ein europäisches Ökosystem aus Buchenwald, das von Sizilien bis Nordschweden und von den britischen Inseln bis nach Moldawien weite Teile unseres Kontinents prägt. In Deutschland sind nur wenige Hektar übrig, wo man eine Ahnung bekommt, wie alte Wälder aussehen könnten. Diesen Buchenwäldern wurde eine UNESCO-Welterbe-Stätte gewidmet, die ausgehend von den Karpaten Gebiete in weiteren Ländern einschließt, auch Deutschland und Italien. Es ist die größte und komplexeste Welterbestätte weltweit. Das finde ich sehr schön, weil sie verdeutlicht, wie Weltnaturerbe Länder verbindet, dass ein Waldökosystem Teil der europäischen Identität ist.
G.V.: Italien mangelt es nicht an Wäldern. Wir sind mittlerweile bei 40% der Fläche, Tendenz steigend. Heutzutage sind die Wälder dabei, sich in einigen Gebieten zu erholen, vor allem in den Bergen, aus denen der Mensch sich zurückzieht. Diese Gebiete des UNESCO-Welterbes sind unglaublich wichtig, weil sie uns als Modell dienen. Wenn wir lernen, wie ein Wald funktioniert, wie er sich erneuert, indem wir die wenigen Flächen beobachten, wo er noch unberührt ist, dann können wir vielleicht lernen, wie wir die besten Kompromisse finden, um ihn richtig zu bewirtschaften. Der größte Teil der europäischen Wälder wird vom Menschen für seine Bedürfnisse genutzt, aber es kommt auf die Art an, wie wir sie bewirtschaften.
Deutschland hat weniger Wald als Italien. In 50 Jahren ist 10 Prozent Fläche dazugekommen, in Italien in 30 Jahren 20 Prozent. Wie sehen Sie die Entwicklung des Waldes in Ihren Ländern?
P.I.: Es kommt noch schlimmer: In Deutschland sterben auf großen Flächen die Bäume ab und Wälder brechen zusammen. Das ist die Kombination aus Fehlern der Waldnutzung in der Vergangenheit und dem Klimawandel. Über 50% unserer Wälder sind in einem naturfernen Zustand, Monokulturen oder artenarme Forsten. Die verlieren wir. Der wichtigste Baum der deutschen Forstwirtschaft, die Fichte, stirbt in weiten Teilen Deutschlands. Das sollte Anlass sein, dass die konventionelle Forstwirtschaft auf den Prüfstand kommt. Dass man sich fragt, ob eine ökologische Waldbewirtschaftung erfolgsversprechender ist.
In Italien nutzen wir wenig Holz, gemessen an dem, was jedes Jahr wächst. Gleichzeitig sind wir der zweitgrößte Importeur weltweit.“
Giorgio Vacchiano
P.I.: Naja. Es ist nicht so, dass die forstliche Planung in Deutschland großartige Wirkungen entfaltet. Es ist nicht schlecht, dass sich die Wälder in Italien etwas entwickeln konnten. Ich denke, dass es mit Blick auf die weltweite Situation gut ist, wenn Wälder ihr natürliches Potenzial entfalten können. Ein verstärkter Schutz von Wäldern sollte aber tatsächlich nicht dazu führen, dass man seinen Bedarf an Holz durch Importe deckt. Dieser Vorwurf trifft ganz Europa: Allein für Holzpellets werden über 17,5 Millionen Tonnen pro Jahr eingeführt. Im Moment diskutieren wir im Rahmen der Energiewende und des Klimaschutzes, Kohlekraftwerke auf die Verbrennung von Holz umzustellen. Da kommen die absurdesten Ideen: zum Beispiel Import von Buschholz aus Namibia, um ein Kraftwerk in Hamburg zu betreiben.
G.V.: Ich sehe keine Gegensätze. Natürlich muss die Planung für bestimmte lokal begrenzte Bereiche gemacht werden. Und dabei muss man die globalen Auswirkungen berücksichtigen. Wir haben bis jetzt so eine Planung überhaupt nicht. Die Nachfrage nach Material besteht aber. Also müssen wir herausfinden, wie wir ihr begegnen können. Aber für die Waldplanung ist es essentiell, wichtige Aspekte zu berücksichtigen: Die Klimaempfindlichkeit, die Biodiversität und die langfristigen Auswirkungen.
P.I.: Die deutsche Forstwirtschaft ist stolz, die Planung praktisch erfunden zu haben. Das geht zurück auf die Holzkrise im 18. Jahrhundert, als man erkannte, dass man nicht mehr ernten sollte als nachwächst. Nach dem Prinzip wurden die Plantagen aufgebaut, die jetzt zusammenbrechen. Durch die ökonomischen Interessen wurden einige zentrale Aspekte außer Acht gelassen, wie die Gesundheit und Resilienz des Waldes. Aktuell macht mir Sorgen, dass viele Förster und Forstwissenschaftler glauben, bei der Anpassung an den Klimawandel schlauer zu sein als der Wald. Man plant, wo sich Wald in etlichen Jahrzehnten wie aus welchen Baumarten zusammensetzen soll. Er wird in der deutschen Forstwirtschaft häufig nur als Gruppe von Bäumen gesehen, nicht als komplexes Ökosystem. Das ist Hybris.
G.V.: In Italien ist diese Debatte nicht sehr stark. Die größte Sorge ist im Moment, dass die Fähigkeit der Wälder, CO2 zu speichern, abnimmt. Wir müssen den Forstbehörden neue Instrumente an die Hand geben: Vorhersage-Modelle, die sensibel für das Mikroklima sind. Denn die Art, wie man einen Baum schlägt, verändert auf unterschiedliche Weise die Temperatur am Boden und für die nachwachsenden Bäume. Italien hat eine neue nationale Waldstrategie: Künftig muss man bei der Waldplanung wissen, welche Orte sensibler auf die Klimaerwärmung reagieren, wo also möglicherweise Hilfestellungen nötig sind, um die Widerstandskraft zu fördern.
P.I.: Wir forschen auch zum Mikroklima und erkennen, dass man mit dichterem Wald und mehr Waldfläche der Erwärmung der Landschaft etwas entgegensetzen kann. Wir haben das in den extrem heißen Sommern gesehen, wo die durchschnittlichen Höchsttemperaturen in einem aufgelichteten Kiefernforst acht Grad höher waren als in einem dunklen, dichten Buchenwald. Wir können Wald als Kühlelement einsetzen, um uns etwas Zeit für die Anpassung an den Klimawandel zu ‚kaufen‘. Gegenüber den scheinbar exakten Vorhersage-Modellen bin ich skeptisch. Die Vorhersagbarkeit von komplexen Systemen hat Grenzen, und wir sollten nicht so tun, als könnten wir die Wälder der Zukunft vorhersehen. In Deutschland wird seit Jahren ausgerechnet, wie lange Baumarten es an einem bestimmten Fleck aushalten. In der Tatsache überholt uns die Realität uns regelmäßig, oder unkalkulierbare Überraschungen passieren: Auf einmal gibt's einen Pilz und der bringt die Bäume einer Art um.
G.V.: Es gibt besser und weniger gut vorhersehbare Aspekte. In Italien geht die größte Gefahr der Zerstörung von Waldbränden aus. Mittlerweile können wir auf Basis der Meteorologie, der Beschaffenheit des Geländes und der Vegetation präzise vorhersagen, wie Feuer sich verhalten wird, und für geeignete Prävention sorgen. Man kann an kritischen Punkten Vegetation zurückschneiden, dort wo Feuer besondere Intensität entwickeln würde, weil sich zum Beispiel viel Totholz angesammelt hat. Klar, wir verändern damit den Wald, aber in dem Fall geht es uns auch um die Sicherheit der Menschen.
Der Wald wird in der deutschen Forstwirtschaft häufig nur als Gruppe von Bäumen gesehen, nicht als komplexes Ökosystem. Das ist Hybris“.
Pierre Ibisch
G.V.: Wir machen gerade eine Studie mit Weißtannen, die von den Alpen im Norden bis nach Kalabrien in ganz Italien vorkommen. Es ist möglich, dass die Tannen, die in Kalabrien gewachsen sind, eine größere Toleranz gegenüber Trockenheit entwickelt haben als die Weißtannen im Norden. Ich sehe eine Ausnahme, bei der es sinnvoll sein kann, Wald aktiv anzupflanzen, statt abzuwarten: In Italien sind 90% der Fläche von Erdrutschen, Lawinen und Muren bedroht. Wälder können einen bedeutsamen Schutz gegen diese Phänomene darstellen. Wenn dann ein Sturm, wie Vaia 2018, 10mio. Kubikmeter Bäume abräumt, ist es dringend, den Wald zu ersetzen, denn natürliches Nachwachsen würde zu lange dauern.
P.I.: Wenn ich in Deutschland dafür plädiere, das Ökosystem ‚machen zu lassen‘, den Selbstheilungskräften zu vertrauen, werde ich oft als naiv oder romantisch dargestellt. Aber das bin ich nicht. Ich glaube nur nicht, dass wir die Gefahr des Waldsterbens und der Versteppung aufhalten können, indem wir Bäume aus anderen Ländern pflanzen. Die wichtigste Schlussfolgerung aus allem, was wir wissen, kann nur sein, dass wir diesen Klimawandel nicht wollen sollten. Es ist Zeit, dass auch die Forstwissenschaftler und Förster massiv einen vehementen Einsatz gegen den Klimawandel fordern, statt zu suggerieren, wir könnten uns den neuen Wald für das neue Klima bauen. Wir müssen schnellstmöglich von den Emissionen der Treibhausgase runterkommen.
Klimawandel, Naturschutz, Energiewende, Bevölkerungswachstum, Urbanisierung. Auch die Baubranche interessiert sich für Holz als nachwachsenden Rohstoff. Wie bringt man all diese Herausforderungen künftig zusammen?
P.I.: Klimawandel bedroht Wald und Menschen, Wald hilft Menschen im Klimawandel. Deshalb müssen wir lernen, Wald zu erhalten. Das wird nur gehen, wenn wir im Wald mehr sehen als einen Holzlieferanten. Wir werden die anderen Leistungen, wie Kühlung oder Speicherung von Wasser, mehr wertschätzen. Wir werden erkennen, dass die Wälder das Holz für sich selbst brauchen, damit sie funktionieren. Im Hinblick auf die europäische Waldstrategie und die Pläne, mehr Holzhäuser zu bauen, ist das ein Problem: Es wird kein beliebiges Wachstum geben, so lang unsere Wunschliste auch sein mag.
G.V.: Ich glaube, in Europa müssen wir den Weg der Integration gehen. Denn es gibt viele Menschen, die Vieles vom Wald fordern: Holz, Klimaschutz, Schutz vor Erdrutschen, Biodiversität. Diese Integration muss auch auf politischer Ebene stattfinden. In Italien fehlen die Phasen des Austauschs zwischen den Ministerien, in denen sie Kompromisse finden. Zum Beispiel wollen wir Holz für die Energiegewinnung nutzen. Das ist aber nur selten in ganz bestimmten Fällen vorteilhaft für das Klima, zum Beispiel wenn es um Abfallholz geht. Uns muss bewusst sein, dass wir in den anderen Fällen CO2 aus dem Wald holen. Das bedeutet, wir müssen es in anderen Bereichen einsparen: im Transportwesen, bei der Energiegewinnung... Das Klima betrifft einfach alles. Und das zeigt, wie sehr wir von den Wäldern abhängen.
Pierre Ibisch
Weniger planen, mehr den Wald selbst machen lassen.“
Pierre Ibisch, 53, ist Biologe und Professor für Nature Conservation und Gründer des Centre for Econics and Ecosystem Management an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde sowie zweiter Vorsitzender der Deutschen Umweltstiftung. Er arbeitet weltweit zur Erhaltung der biologischen Vielfalt, von den Urwäldern der ukrainischen Karpaten bis zu den Anden oder dem Altai-Gebirge. Zwei Orchideen, eine Bromelie und eine Froschart sind nach ihm benannt. Er veröffentlichte unter anderem das Lehrbuch zur Nachhaltigkeit Der Mensch im globalen Ökosystem und ist Mitherausgeber des Jahrbuch Ökologie.
Giorgio Vacchiano
Ich betrachte gern die jungen Bäume und male mir aus, was ihre Zukunft sein wird.“