Gespräch mit Nora Krug
On Tyranny
Am 30. September 2021 eröffnet in München die Ausstellung „On Tyranny. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ mit den Originalzeichnungen aus dem neuen Buch von Nora Krug, der Autorin der preisgekrönten und in der ganzen Welt übersetzen Graphic Novel „Heimat“. Das Buch erscheint in Deutschland am 4. Oktober und basiert auf den Lektionen des Historikers Timothy Snyder. Ein Gespräch mit der Autorin über das Buch und die Ausstellung.
Von Giulia Mirandola
Wie kam es zu der Idee, eine neue Ausgabe von Timothy Snyders „Über Tyrannei“ zu konzipieren?
Nachdem ich mein Buch Heimat: Ein deutsches Familienalbum veröffentlicht hatte, kontaktierte mich Herr Snyder mit der Frage, ob ich sein Buch Über Tyrannei illustrieren würde. Die Idee für eine illustrierte Ausgabe hatte sein Verlag an ihn herangetragen, mit der Hoffnung, damit eine andere, vielleicht jüngere Leserschaft zu gewinnen.
Was ist Ihnen an Snyders zwanzig Lektionen besonders aufgefallen und wie haben Sie und Snyder beschlossen, zusammenzuarbeiten?
Über Tyrannei schildert in anschaulicher Weise, was wir als Bürger tagtäglich tun können, um unsere Demokratie zu verfechten. Demokratie darf man nicht als selbstverständlich betrachten. Sie ist ein Prozess, an dem wir alle teilnehmen müssen.
Welches waren die Bildquellen, mit denen Sie sich am intensivsten beschäftigt haben?
Da sich die Beispiele in Über Tyrannei hauptsächlich auf die europäische Geschichte des 21. Jahrhunderts, insbesondere Deutschland und Osteuropa, beziehen, beschäftigte ich mich stark mit historischen Fotografien des Zweiten Weltkriegs und des Stalinismus aus Deutschland, Litauen, Polen und der Sowjetunion. Dennoch war es mir ebenso wie Timothy Snyder wichtig, einen Bezug zu anderen Ländern und Zeiten (inklusive der Gegenwart) herzustellen, weswegen ich viele Dokumente und Objekte aus unterschiedlichen Kulturen und Jahrzehnten in meine visuellen Collagen miteingebunden habe. Wichtig war mir auch, das Thema Sklaverei visuell miteinzubeziehen, da es sich ja dabei um eine Form der Tyrannei handelt.
Welche Bedeutung haben historische Archive, Familienarchive, Antiquitätenhändler und Flohmärkte für Sie?
Archive, Antiquitätenläden und Flohmärkte sind für mich wie Gedenkstätten: sie zeigen uns, wer wir einmal waren. Gefundene Materialien aus diesen Quellen in meine Collagen zu integrieren, bedeutet für mich, Tote wieder zum Leben zu erwecken, Augenmerk auf das zu lenken, was wir versuchen zu verdrängen und vergessen.
Können Sie uns einige Beispiele dafür nennen, wie Sie mit Fotografien und Objekten gearbeitet haben?
In Kapitel 10 (Glaube an die Wahrheit) beschäftige ich mich mit dem Thema der Lüge. Im Text geht es dabei unter anderem um die zahlreichen Lügen, die der ehemalige US Präsident Trump während seiner Amtszeit verbreitete. Ich entschied mich, für dieses Kapitel alte Postkarten zu verwenden, die sich mit dem Thema Lügen befassen. Es gibt hier eine ganze Reihe von „tall tale“ Karten aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts, die auf humoristische Weise Situationen darstellen, die in Wirklichkeit unmöglich wären. Indem ich diese Karten veröffentliche, hoffe ich zu zeigen, dass unsere Bereitschaft zur Übertreibung, zur Angeberei und zu magischem Denken schon immer Bestandteil unseres Denkens war, und auch heute noch leider oft nicht hinterfragt, sogar manchmal ermutigt wird.
Was bedeutete es für Sie, unmittelbar nach der Veröffentlichung von „Heimat“ an „Über Tyrannei“ zu arbeiten?
Da sich Heimat mit der Frage beschäftigte, was für lang anhaltende Konsequenzen Krieg und politische Konflikte auf Menschen – auch über Generationen hinweg – haben, empfand ich die Arbeit an diesem neuen Buch, in dem es ja darum geht, was wir tun können, um gefährliche Tendenzen früh zu erkennen, als seine Fortführung meiner eigenen Arbeit zu diesem Thema.
Wie ist die Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum in München, die vom 1.10.2021 bis 30.01.2022 läuft, konzipiert?
Die Ausstellung widmet sich in 20 Stationen den 20 Kapiteln des Buchs und zeigt Beispiele aus meinen Flohmarktsammlungen, Skizzen und fertigen Zeichnungen, die während der Arbeit an diesem Buch entstanden sind.
Welchen Einfluss haben aktuelle Bilder und Erzählungen aus Ländern, in denen es heute keine Demokratie gibt, auf Sie?
Bilder haben eine starke politische Kraft. Sie können unser Denken verändern, sie können zu Revolutionen aufrufen, sie können uns aber auch zu extremistischem Denken verführen. Als Illustratorin ist es mir wichtig, diese Macht, die Bilder ausstrahlen, zu erkennen und mit dem Medium verantwortungsbewusst umzugehen. Schockierend finde ich die Bilder der von den Taliban übersprühten Modefotos in Kabul, die in den letzten Wochen zu sehen waren – visuelle Auswüchse des Terrors.