Mit dem Wesen Neapels in Berührung kommen dank der Texte deutschsprachiger Autoren, die im 20. Jahrhundert die Stadt besuchten und ihr flüchtendes, widersprüchliches, oft maßloses Wesen versuchten zu greifen. Tagebücherfragmente, Erzählungen, Reportagen und Gedichte stellt „Station Neapel“ (Passaggio a Napoli) vor. Die kurzen Hörspiele sind als akustische Postkarten gedacht. Sie wenden sich an all die Reisenden, die Neapel hörend entdecken wollen. Und jedes Mal wird Neapel vom Neuen überraschen und ein anderes Gesicht zeigen.
Willkommen zum Auftakt einer Hör-Reise nach Neapel in Begleitung von Walter Benjamin.
Sieben kurze Folgen, sieben Telegramme aus den 30er Jahren über diese antike und zugleich moderne Stadt, jenseits aller bekannten Klischeebilder.
Hier spürt der Philosoph "das lebendige Spiel der Kraft der Geschichte": Neapel, Hafenstadt und Stadt voller Leben und Aberglaube.
Der Anblick des Vesuvsausbruchs, der Aufstieg zum Krater, der rote Feuerschein, der nachts - vom Castel Sant Elmo aus bewundert - “am Himmel aufzuckt”.
Und dann das Getöse einer modernen Stadt, ungebändigt in allen seinen Erscheinungsformen zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Das Bild der Straßenbahn und der Gassenjungen, die sich dieses neuen Verkehrsmittels bedienen als wäre es ein Spiel.
Und schließlich die Krippe, die Darstellung der Geburt Jesu Christi umgeben vom wimmelnden Leben Neapels in kleinstem Maßstab. Und vieles andere.
Walter Benjamin erklärt hier die Beziehung zwischen Neapel und den anderen italienischen Städten
Jeder Stadt wird eine Todsünde zugesprochen, Neapel steht für die Faulheit.
Weiterhin spricht er über die Trägheit der Neapolitaner, aber auch ihren ausgeprägten Sinn für die Arbeit. Und geht es um ihre unbändige Leidenschaft für das Lottospiel und die Ziehung der Lottozahlen.
In dieser Folge wundert sich Walter Benjamin darüber, wie in jedem Stadtviertel oder sogar in jeder Straße bestimmte Artikel produziert und verkauft werden.
Es gibt die Straße der Lederverkäufer, der antiken Bücher oder der Uhren. Überall findet der Verkauf vor Allem außerhalb der Läden statt, direkt auf der Straße, nimmt sie ganz ein.
Dieses Handeln ist wie ein Freilichttheater, die Verkäufer sind Zauberkünstler, misteriöse Händler, wie aus einer orientalischen Fabel entstiegen.
Die Spaziergänge durch die Straßen Neapels gehen weiter. Walter Benjamin scheint es, als ob er sich in einem Wald befände. Ohne Orientierung schreitet er voran, um das alltägliche Leben zu entdecken. Wieder die Magie und die Geschicklicheit der Verkäufer. Der Fischmarkt ist wie ein ungeheuerliches, prachtvolles Acquarium.
Die Kostprobe der Tintenfischbrühe löst die Überlegung in ihm aus , dass es wirklich notwendig ist, während einer Reise auch nicht die kleinste Gewohnheit eines Volkes zu vernachlässigen, um tatsächlich das Herz einer Stadt zu entdecken. Um deren Essenz zu verstehen muss man schlafen und essen wie die Neapolitaner.
In Neapel passiert jeden Tag etwas : Feste, religiöse Zeremonien - jedes Ereignis gleicht einer Theatervorstellung! Walter Benjamin ist besonders von einer ungewöhnlichen Figur beeindruckt: den Künstlern, die die Heiligenbilder auf die Bürgersteige zeichnen. Akkurate , glanzvolleKunstwerke, die ihre Aura verströmen. Sie erscheinen zwischen den staunenden, sie bewundernden Neapoletanern und und werden dann von deren Schritten wieder ausgelöscht.
In dieser letzten Folge erinnert sich Walter Benjamin an seinen ersten Aufenthalt in Neapel im Jahre 1924, als er auf Capri Asja Lacis kennenlernte und in seiner Reportage das Bild von Neapel als “poröse Stadt” schuf.
Weiterhin erzählt er von der Gewohnheit, jede Art von Fest durch ein Feuerwerk zu krönen. Die Küste von Neapel nach Salerno ist sogar nachts dadurch erleuchtet. Walter Benjamin hat die Vorstellung, dass man sich in einen Postboten, verwandeln müsse, um Neapel wirklich kennenzulernen, um so in die Häuser hineintreten zu können, die großen Tore zu durchqueren und unbekannte Straßen zu entdecken.
Bevor er sich verabschiedet, besucht er den Hafen, erzählt von den Menschen,die die Stadt verlassen, um in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Amerika aufzubrechen. Vom Meer aus werfen sie noch einen letzten Blick auf die Stadt, um dieses wunderbare Bild in Erinnung zu behalten.
Nach Walter Benjamin verschickt „Passaggio a Napoli” eine akustische Postkarte von Paul Klee, der sich im März 1902 in Neapel aufhielt. Drei aufregende Tage zwischen dem Theater San Carlo, dem Hügel Posillipo, dem Hafen, der Panoramastraße Corso Vittorio Emanuele und vielen anderen Winkeln. Das neapolitanische Leben erscheint ihm wie eine Explosion von Formen und Farben. Klee bewundert es vom Fenster der Pension Haase aus – einst an den Treppen von Petraio gelegen. Die „herrliche Stadt mit ihrer brausenden Stimme“ breitet sich vor ihm wie ein “bewegtes Gemenge von Flecken, Häuserblockflächen im Licht und Dunkel, weiße Straßen, ernstgrüne Parkstellen” aus. Das alles hält er in seinem Tagebuch fest. Neapel dient ihm als Modell für seine späteren Werke: „Die Vielseitigkeit auszusprechen mit einem Wort!“
Paul Klee besucht das Aquarium „Anton Dohrn“ und das archäologische Nationalmuseum mit der antiken Gemäldesammlung aus Pompeji, die ihn sehr beeindruckte. „Für mich ward es gemalt, für mich ausgegraben.“
Nach einem langen Spaziergang durch verschiedenen Stadtviertel wünscht er sich: „Später einmal wiederkommen, eine Zeitlang Neapolitaner sein!“
Das Gedicht von Marie Luise Kaschnitz “Vedere Napoli” ist eine Hymne an Neapel und auch ein Abschied, der letzte Abend in dieser Stadt. Sie erscheint der Dichterin als ein ungezähmtes Tier, ein Körper, der viele andere Körper gebiert. In der Dichtung wird das neapolitanische Volk zu einem zeitlosen, mythischen Bild. Ein lebendiger Körper, der die Autorin überwältigt. Gerüche, unzusammenhängende Bilder wie Funken. Geheimnisvolle Signale flackern vor ihr auf und beschwören entfernte Erinnerungen. Sie begleiten sie heim. Das Neapelerlebnis lässt sie ihre innere Ruhe wiederfinden.
Neapel, unterworfen von der helldunklen, scharfen und glühenden Poesie Ingeborg Bachmanns. Die Landschaft in “Lieder auf der Flucht”, von den Hügeln des Posillipo und des Vomeros bis nach Camaldoli, ist Beute unsichtbarer Kräfte. Die winterliche Stadt wirkt wie im Krieg, getroffen von eisigen und furchteinflößenden Peitschenhieben. Der Sinn aller Dinge scheint gebrochen, ruft Erinnerungen an nie geheilte Schmerzen hervor. Doch gerade die Poesie eröffnet einen Weg zu neuer Erkenntnis. Mysterium und Realität stehen sich gegenüber. Das Gedicht drückt den Wunsch nach Sommer, Kraft und Liebe aus: “eingeweiht in die Liebe/aber erst hier — als die Lava herabfuhr/und ihr Hauch uns traf/am Fuß des Berges”.
Unsere Hörreise "Passaggio a Napoli endet mit einer Erzählung aus der Suite: "Piazza San Gaetano" von Alfred Andersch.
Direkt im Herzen der Altstadt führt die spöttische und zugleich melancholische Stimme Pulcinellas die Reisenden durch Geschichten über jahrhundertealte Traditionen der Stadt.
Er berichtet über die enge Beziehung des neapolitanischen Volkes zu seinen Heiligen und deren Vermischung mit paganen Gottheiten.
Vor allem ist es der Heilige San Gaetano, der für die Gebete der Neapolitaner ein besonders offenes Ohr hat und dessen Anwesenheit besonders aufmerksame Touristen vielleicht spüren könnten, wenn er herumirrt auf der Suche nach dem “wahren Neapel”.