Die Verschwindende Wand
​Von Zellophanfolie und Elefanten

Die verschwindende Wand | Installation in Turin, 01.-11. Oktober 2020
Die verschwindende Wand | Installation in Turin, 01.-11. Oktober 2020 | © Goethe-Institut Italien - Foto: Gabriele Magro

Wenn sich für euch in eurem Leben einmal aus irgendeinem Grund die Gelegenheit ergibt, einen Ausstellungsraum wenige Stunden vor dessen Eröffnung zu besuchen, dann tut das.

Von Gabriele Magro

Aus der Perspektive eines Außenstehenden ist das ein sehr spannender Moment. Es ist ein bisschen so, wie wenn du als Kind einen Stein hochnimmst und den darunter aufgeregt herumwimmelnden Ameisen zusiehst. Da sind die Arbeiter, die Holzbretter und Farbeimer umhertragen, die verwirrten Praktikanten mit ihren Badges um den Hals, den Besen in der einen und die Schaufel in der anderen Hand, die Kuratoren und Kuratorinnen, mit ihren Rollkragenpullovern und Patchwork-Röcken, die von einem Raum in den anderen schießen wie Flipperkugeln und zum tausendsten Mal dieselben Ecken, die Anordnung der Kataloge auf den weißen Tischen, die Beleuchtung kontrollieren. Letzteren könnt ihr zusehen, so lange ihr wollt, aber kommt ihnen nicht zu nahe: Sie sind die nervösesten von allen.

Aus sicherer Entfernung frage ich einen von ihnen, ob ich die Zellophanfolie von der Verschwindenden Wand nehmen darf, einer Installation des Goethe-Instituts, die gerade um die Welt reist. Wenn ihr diesen Artikel lest, sind die Graphic Days Turin, die von 1. bis 11. Oktober in der Toolbox stattfinden, wahrscheinlich schon zu Ende, oder zumindest fast. Sollte das der Fall sein, erzähle ich auf Instagram seit zehn Tagen von nichts anderem als dieser Installation und deshalb nein, erkläre ich hier nicht noch einmal, worum es da geht. Lest euch meine Posts durch, ich möchte euretwegen nicht den Faden verlieren. Ich frage also, ob ich die Zellophanfolie entfernen darf, der Flipperkugel-Kurator bremst ab, sieht mich an, sagt nein und macht einen Schritt, als ob er im nächsten Moment wieder mit voller Geschwindigkeit gegen die Wand jagen wollte, aberichmussdochAufnahmenmachen wende ich ein und er gibt verwirrt nach. Unter der Folie, die beim Abziehen dieses Geräusch von sich gibt, das Paolo Conte so gefällt, befinden sich sechstausend Holzklötze, die in einem Plexiglasgerüst stecken. Auf den Holzklötzen stehen hundert Zitate von Männern und Frauen aus ganz Europa. Pindaro, John Lennon und Rosa Luxemburg warten hier darauf, aus der Wand gezogen und mit nach Hause genommen zu werden. Und mit den Klötzen verschwindet nach und nach auch die Wand, zurück bleibt nur das durchsichtige Plexiglasgerüst. Na bitte! Ich hatte gesagt, dass ich euch nicht noch einmal von der Installation erzähle und jetzt habe ich es doch gemacht, weil ich weiß, dass ihr faul seid und die Posts nicht gelesen habt. Die Einleitung ist damit beendet, wir können fortfahren.

Als wir sie (die Mauer) schleiften, wussten wir nicht, wie hoch sie in uns ist.

Reiner Kunze

Eines der Zitate, die sich mir nachhaltig ins Gedächtnis einbrannten, als ich die Holzklötze nach dem Zufallsprinzip herauszog, ist das des Schriftstellers und DDR-Dissidenten Reiner Kunze. Eine Installation wie die Verschwindende Wand ist ein Statement, das sagt: Ungeachtet der aktuellen politischen Situation und einer Wirtschaft, die Kunstwerke nur als Fluchtwährung schätzt, ungeachtet des Umstands, dass immer weniger gelesen wird, kann die Kultur immer noch Mauern einreißen. Die Wand drückt dies auf so explizite Weise aus, dass es, wenn ich jetzt darüber nachdenke, eigentlich gar nicht nötig war, dass ich es auch noch sage. Mit der Verschwindenden Wand bekennen wir uns zur Existenz oder zumindest der Möglichkeit jenes aufklärerischen, egalitären und grenzübergreifenden Europas, das wir seit siebzig Jahren aufzubauen versuchen. Daran ist nichts Heuchlerisches: In einem Ausstellungsraum, wenige Stunden vor der Eröffnung, findet ihr genug Menschen, für die diese etwas pompösen Worte tatsächlich Bedeutung und Wert haben. Und doch hat mir das Zitat von Reiner Kunze ein wenig Angst gemacht. Meine Angst bezieht sich dabei nicht auf die Heuchelei, sondern, wenn überhaupt, auf die Blindheit. Denn manchmal habe ich den Eindruck, dass sich die Kulturbranche in Ausstellungsräumen bewegt, die von dicken Mauern umschlossen sind, Mauern aus Beton, nicht aus Plexiglas. Die Mauer ist noch in uns und um uns herum. Von außen sieht man in diese Kulturräume nicht hinein, aber vor allem sieht man von hier drinnen nicht die Welt da draußen.

Wenn du eine Mauer baust, denke daran, was du draußen lässt.

Italo Calvino

Am dritten Oktober feierten wir dreißig Jahre deutsche Einheit, ein Ereignis, das in gewisser Hinsicht für alle Europäer das Ende eines Europas der Mauern symbolisiert. Die Engländer haben eine sehr schöne Redewendung, um eine Situation zu beschreiben, in der ein gewaltiges Problem besteht, das alle sehen, aber das niemand anzusprechen wagt: den Elefanten im Raum. Sehen wir diesem Elefanten, der seit dreißig Jahren auf unserem Kontinent sitzt, nun also in die Augen: Das Jahr 1990 ist nicht das Jahr, in dem das Europa der Mauern ein Ende fand. Das Europa der Mauern lebt nach wie vor und erfreut sich bester Gesundheit. In der Kunstszene tut man sich, mehr noch als in der Kulturbranche, etwas schwer damit, diese Wahrheit zu thematisieren.



Die Pandemie und der Lockdown haben die sogenannte „Migrationsfrage“ von den Titelblättern der Zeitungen verdrängt und niemand hat sie vermisst. Die Europäer sprechen nicht gern darüber und schon gar nicht gern hören sie andere darüber sprechen. Dadurch ist es uns gelungen, den vergangenes Jahr veröffentlichten Bericht des Transnational Institute über einige Monate hinweg zu ignorieren.

Das Beunruhigende an der Wahrheit ist, dass sie – auch wenn man sie ignoriert, auch wenn es keinen Spaß macht, darüber zu sprechen – immer noch die Wahrheit bleibt, und die sieht folgendermaßen aus: Seit 1989 haben die Länder der Europäischen Union, und in einigen Fällen mithilfe von Frontex auch unmittelbar die EU selbst, Mauern errichtet, die in Summe sechs Mal so lang sind wie die von Berlin. Und das nur auf dem Festland.

Damit ließe sich der Kern der Sache bereits einfach umschiffen: indem wir uns nur auf die Barrieren zu Land konzentrieren, wie etwa die Wachtürme und Stacheldrahtzäune zwischen Melilla und Marokko. Doch das Transnational Institute erklärt, dass wir über das Meer reden müssen. Auch zu Wasser haben wir in den vergangenen dreißig Jahren die Kontrollen verschärft und Grenzen geschlossen und auf diese Weise gleichermaßen 29 Berliner Mauern errichtet.

Amnesty International bestätigt die erschreckenden Schätzungen von über 15.000 Todesopfern auf See im Zeitraum 2014 bis 2019, also innerhalb von nur fünf Jahren. Eine Studie der Freien Universität Berlin schätzt die Zahl der Todesopfer an der Ost-West-Grenze in den vierzig Jahren des Bestehens der DDR auf 327. Damit möchte ich in keiner Weise die beiden Tragödien miteinander vergleichen oder den Opfern gegenüber respektlos sein. Es ist einfach ein Weg, um über die ungeheuerliche Größe des Elefanten nachzudenken und zu veranschaulichen, dass die Welt da draußen jeden Tag jene Geschichte Lügen straft, die wir auf dieser Seite der Mauer über Europa erzählen.

Wir können die Welt nicht retten, indem wir nach den Regeln spielen, denn die Regeln selbst müssen geändert werden.

Greta Thunberg

Die Europäische Union erinnert in der von Beethoven vertonten Ode an die Freude an jene Worte von Schiller, die wir gefühlt schon eine Million Mal gehört haben:

Deine Zauber binden wieder / Was die Mode streng geteilt /Alle Menschen werden Brüder.

Friedrich Schiller

Ich weiß, dass diese Worte für uns, denen der in der Hymne beschworene Zauber bereits fremd geworden ist, nach leeren Phrasen klingen (Schiller hatte eben einen gewissen Hang zum Phrasenhaften, daran kommen wir nicht vorbei). Aber es sind keine hohlen Worte: Sie waren – und ich hoffe von Herzen, dass sie es noch heute sind – Ausdruck der Ambition und des Traums eines gesamten Kontinents.

Holzklötzchen werden unsere Widersprüche in Europa nicht auflösen, und doch ist die Verschwindende Wand eine Gelegenheit, um uns kritisch mit uns selbst auseinanderzusetzen. Wenn ihr sie in Turin verpasst habt, hier eine gute Nachricht: Von 13. bis 15. November ist die Installation in Mailand zu sehen. Ich weiß, ihr seid faul, aber von Turin nach Mailand ist es nur eine knappe Stunde mit dem Zug, also bitte. Aus, hier endet der Artikel, es steht euch frei, eure eigenen Schlüsse daraus zu ziehen.

Das sind meine: Ich glaube, dass die Kulturszene dieses Kontinents, mit ihren Kuratoren, Praktikanten und Arbeitern, die Pflicht hat, sich zu öffnen und die Welt da draußen in die Museen und Bibliotheken zu holen. Ich weiß, dass die Welt voller Mauern ist, Mauern der Lügen in New York ebenso wie Mauern zwischen Nord- und Südkorea, aber es ist jetzt an der Zeit, dass wir über Europa sprechen, über Elefanten und unsere eigene Mauer, „muro nostrum“ also (ein kleines Wortspiel – liebe Lateinexperten, bitte lyncht mich nicht).
 

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