Hamburg: 1. Teil
Hamburgs Vergangenheit und Zukunft
Hafenstadt, „frei und hanseatisch“, architektonisch ihrer Zeit voraus: Die Stadt Hamburg baut auf ihre Vergangenheit, blickt dabei aber in die Zukunft. Im ersten Teil seiner Reportage über die deutsche Metropole erkundet Roberto Sassi einige symbolträchtige Orte Hamburgs wie den hochmodernen Stadtteil HafenCity und die Speicherstadt mit ihren alten Hafenlagerhäusern.
Von Roberto Sassi
AUF NACH HAMBURG
Der Berliner Hauptbahnhof ist halb verwaist und wirkt so verschlafen wie die Reinigungskraft, die mit ihrem quietschenden Putzwagen an mir vorbeifährt. Ich befinde mich an einem der größten Eisenbahnknoten Europas, es ist zwanzig nach sieben an einem Mittwochmorgen, und doch ist es hier so ruhig wie in einem kleinen Provinzbahnhof. Ich suche auf der großen Anzeigetafel über den Rolltreppen nach meinem Zug: Er fährt von Gleis 7 ab – einem der Gleise im Tiefgeschoss. Als ich am Bahnsteig ankomme, erwartet er mich bereits mit offenen Türen und das Personal an Bord huscht hin und her, als würde es vor Fahrgästen wimmeln. Ich steige in einen Wagen der zweiten Klasse, wir sind zu dritt, alle tragen wir Maske. Eine Frau hat auf ihrem Tischchen den Tagesspiegel ausgebreitet und wird die ganze Fahrt lang darin blättern.Der Zug verlässt den Bahnhof, fährt im strömenden Regen zwischen Wohnblocks und Industriehallen hindurch und weiter inmitten eine Landschaft aus Weizenfeldern und Kiefernwälder. Ich lese noch einmal einige Seiten aus dem Architekturführer, den ich mitgenommen habe, und mache mir ein paar Notizen für die geplanten Interviews. Als vor dem Fenster die ersten, in unerwarteten Sonnenschein getauchten Backsteinhäuser vorbeiziehen, wird mir bewusst, dass wir fast am Ziel sind. Ihre roten Ziegel sind das Markenzeichen Hamburgs, das aus diesem Grund – so mein Reiseführer – oft als südlichste Stadt Skandinaviens bezeichnet wird. Immerhin gehörte Hamburg bis 1768 zum Königreich Dänemark, während der Stadtteil Altona, eine alte Fischersiedlung, gar bis 1864 dänisch blieb. Dass wir fast angekommen sind, erkenne ich auch an einer langen Reihe übereinandergestapelter Container, die wahrscheinlich demnächst nach ganz Europa verschickt oder vielleicht auch verschifft werden. Während ich sie betrachte, denke ich über den Umstand nach, dass wie in allen Hafenstädten auch in Hamburg die Präsenz des Hafens weit über dessen physische Grenzen hinaus spürbar ist.
ZWISCHEN GEGENWART UND VERGANGENHEIT
Um halb zehn fährt der Zug auf die Minute pünktlich in den Hamburger Hauptbahnhof ein. Mein Plan ist es, die Stadt zu Fuß zu durchqueren, aber zuerst frühstücke ich in einem Café in der Mönckebergstraße, die vom Bahnhof zum Rathaus führt. Mit einer Breite von 29 Metern ist diese Straße vielleicht das anschaulichste Beispiel für den städtebaulichen Wandel, den Hamburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zuge des damaligen Bevölkerungswachstums erlebte. Heute sind in den eleganten Gebäuden in der Mönckebergstraße vor allem große Kaufhäuser, Juweliere und Modeboutiquen untergebracht. Um diese Zeit sind jedoch viele Geschäfte noch geschlossen, man sieht nur wenige Passanten, ein paar Fahrräder und einige geparkte LKWs, die ihre Waren abliefern.Wenig später mache ich mich auf den Weg zum Rathaus. Der spitze Turm ist schon von Weitem zu sehen und die Luft riecht salzig, wie ich es bisher nur aus Küstenstädten kenne. Doch von hier bis ans Meer sind es noch einmal hundert Kilometer die Elbe entlang Richtung Norden. Ein paar Möwen ziehen über den riesigen rechteckigen Platz und während ich mit meinem Blick ihren Flugbahnen folge, fällt mir die Geschichte von Luis Sepúlveda ein Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte. Ich halte Ausschau nach dem Glockenturm der Kirche St. Michaelis, einem der historischen Schauplätze der Stadt, kann ihn jedoch nicht finden (ich werde ihn später entdecken, wenn ich das zerklüftete Profil der Altstadt aus der Ferne betrachte). Der Rathausmarkt erzählt von einem wichtigen Kapitel der Geschichte Hamburgs: Im Annus horribilis 1842 zerstörte der so genannte „Große Brand“ weite Teile der Altstadt und der Platz wurde neu gestaltet. Als Inspiration diente dem Architekten Gottfried Semper dabei der Markusplatz in Venedig. Dieser Vergleich mit der Serenissima taucht immer wieder auf, aber da hinter Vergleichen meist eine Form von Faulheit steckt, ziehe ich es vor, ihn nicht zu beachten. Mit dem Rucksack auf den Schultern folge dem Jungfernstieg, der Promenade direkt an der Binnenalster, dem kleineren, weiter innen gelegenen der beiden künstlichen Seen, die von der Alster gespeist werden. Ich setze mich auf eine Betonbank, die Mittagssonne brennt inzwischen heiß herunter, ein Touristenboot legt halb leer ab. Und wieder habe ich vielmehr den Eindruck, am Meer zu sein, statt an den Ufern eines Stadtsees. Es gibt sogar ein Restaurant mit einer Aussichtsterrasse und Palmen am Eingang.
Nachdem ich die Idee einer Bootsfahrt in Gesellschaft betagter Touristen verworfen habe, beschließe ich, die Speicherstadt zu besuchen. Deren charakteristische, imposante Backsteingebäude sind eines der Wahrzeichen von Hamburg. Die Ende des 19. Jahrhunderts zur Lagerung von Transitwaren aus dem Hafen errichteten Häuser wurden während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg zum Teil schwer beschädigt und nach dem Krieg wieder in Schuss gebracht. Im Jahr 2015 wurden sie von der UNESCO zum Welterbe erklärt. Heute beherbergen sie Büros, Museen und skurrile Touristenattraktionen wie Miniatur-Wunderland, die größte Modelleisenbahn der Welt. In einem Straßencafé direkt gegenüber mache ich Mittagspause. Nicht weit entfernt befindet sich ein weiteres Lagerhaus, in dem beinahe ausschließlich Orientteppichhändler angesiedelt sind. In gewisser Weise habe ich so die Vergangenheit und die Gegenwart der Speicherstadt vor mir: auf der einen Seite farbenfrohe, teure Teppiche aus fernen Ländern, auf der anderen Jugendliche, die vor dem Eingang zum Miniatur-Wunderland Schlange stehen.
DIE HAFENCITY
Nach einem kurzen Zwischenstopp im Hotel, um das Gewicht meines Rucksacks zu reduzieren, suche ich Nicoletta Di Blasi, die Leiterin des Italienischen Kulturinstituts Hamburg auf. Wir treffen uns auf der Hohen Brücke in der Nähe des alten Hafens. In ihrer Mail hatte sie mir einen Spaziergang durch die HafenCity, den modernen Stadtteil im Südosten des Zentrums, vorgeschlagen. Nicoletta ist studierte Kunsthistorikerin und lebt seit 2017 in Hamburg. Als ich gleich zu Beginn anmerke, dass mich die Stadt zumindest in architektonischer Hinsicht bereits nach wenigen Stunden überzeugt hat, lächelt sie. „Hamburg ist eine Art Trainingsplatz für Architekten“, erklärt sie und lädt mich ein, mich auf einer der beiden Terrassenanlagen des Überseequartiers, den Marco-Polo-Terrassen, umzusehen. Am Ende des Kais, hinter den exzentrisch wirkenden Gebäuden direkt am Kanal, sticht die nautisch anmutende Silhouette der Elbphilharmonie hervor. Aus der Ferne erinnern ihre unregelmäßigen Glasfassaden an geblähte Segel. „Anfang der 2000er Jahre sah es hier noch ganz anders aus“, fährt sie fort, während wir durch einen Stadtteil schlendern, der bis ins 19. Jahrhundert eine sumpfige Insel war, auf der Vieh weidete. „Selbst vor vier Jahren, als ich in die Stadt kam, waren viele dieser Gebäude noch in Bau.“Noch immer sieht man an zahlreichen Ecken des Stadtteils Baustellen, die von der „Unvollständigkeit“ der HafenCity zeugen, und dennoch ist der Stadtteil bereits zu einem lebenswichtigen Organ des heutigen Hamburgs geworden. Es ist kein Zufall, dass hier seit 2014 die HafenCity-Universität für Baukunst und Metropolenentwicklung ihren Sitz hat. Langsam umrunden wir das direkt an der Elbe gelegene Gebäude, Studenten sehen wir keine, aber es sind auch noch Sommerferien. Am gegenüberliegenden Ufer prägt eine lange Reihe von Kränen und mit Containern beladenen Schiffen das Bild. Nicoletta erzählt mir davon, wie sich der neue Stadtteil in die Speicherstadt integriert hat, von der dialektischen Beziehung zwischen der modernen Architektur und dem Wasser, das in Hamburg ein dominantes, allgegenwärtiges Element darstellt: „Die Bedeutung des Hafens für die Stadt ist deutlich sichtbar, aber in der HafenCity kommt dem Wasser eine andere Rolle zu, es steht in permanentem Dialog mit den umliegenden Gebäuden“.
Inzwischen ist es später Nachmittag, wir durchqueren den Lohsepark, einige Jugendliche spielen Basketball. In der Ferne ragt der Glaskomplex des Spiegel-Verlags empor. Wir halten am Fuß eines relativ schlanken Wohnhochhauses, das in der Mitte eines kleinen Platzes steht und dessen Fassaden rote Rechtecke zieren, die an die historische Architektur Hamburgs erinnern. „Das ist der Cinnamon Tower“, erläutert Nicoletta. Neugierig betrachte ich den Turm und habe den Eindruck, dass er – wie er da nur zwei Schritte von den alten Lagerhäusern entfernt aufragt – perfekt den Geist der HafenCity verkörpert, indem er ihre Fähigkeit widerspiegelt, den Blick in die Vergangenheit zu richten und diese, ohne in scheue Ehrfurcht zu verfallen, in die Gegenwart zu holen.
(Fortsetzung folgt …)
Nicoletta Di Blasi
Wir bedanken uns beim Istituto Italiano di Cultura Hamburg für die freundliche Unterstützung.