Hamburg: 2. Teil
Hamburg: Eine Stadt mit vielen Gesichtern
Die Elbphilharmonie, St. Pauli, das Grindelviertel: Im zweiten Teil seiner Reportage über Hamburg erkundet Roberto Sassi die verschiedenen Gesichter der Freien und Hansestadt Hamburg.
Von Roberto Sassi
VON DER ELBPHILHARMONIE BIS ST. PAULI
Der Weg zur Aussichtsplattform der Elbphilharmonie führt über eine 82 Meter lange Rolltreppe. Während ich mich also durch einen Tunnel befördern lasse, der an jene in hochmodernen U-Bahn-Stationen erinnert, denke ich daran, was Nicoletta Di Blasi am Vortag zu mir gesagt hat: Während Berlin auf eine ganze Reihe von Wahrzeichen zählen kann, die Millionen von Tourist*innen anlocken, ist es in Hamburg das Gesamtpaket aus Architektur und musealem Angebot, das die Stadt so attraktiv macht. Ich sage mir, dass das stimmt, und doch wirkt die Elbphilharmonie ganz und gar nicht wie ein „einfacher Fußsoldat“. Das von Herzog & de Meuron entworfene Konzerthaus hat sich mit seiner wuchtigen Präsenz, den astronomisch hohen Investitionen für seinen Bau und den in allen Souvenirläden erhältlichen Gadgets eindeutig das Ziel gesetzt, zum Wahrzeichen Hamburgs zu werden.Von der weitläufigen Plattform, die um das gesamte Gebäude führt, sieht man die deutsche Metropole in ihrer ganzen Größe. Es ist wolkig, um zehn Uhr vormittags sind nicht viele Besucher*innen da, und die wenigen, die hier sind, nutzen die Aussicht für Selfies. Wieder einmal bin ich beeindruckt von der riesigen Anzahl an Kränen: von den massiven Kränen im Hafengebiet und den schlankeren Baustellenkränen, die in der HafenCity und im Rest des Zentrums verstreut stehen. Von hier oben ist der Eindruck einer Baustellenstadt, die immer in Bewegung ist, sogar noch stärker. Nach dem Besuch der Elbphilharmonie nehme ich die U-Bahn nach St. Pauli. Es ist eine ungewöhnliche Uhrzeit, um Hamburgs Ausgehviertel zu erkunden, aber eine gute Entscheidung. St. Pauli hat morgens den verschlafenen Charme eines Theaters nach der Vorstellung. Kaum trete ich aus dem U-Bahnhof, stehe ich vor zwei riesigen, asymmetrischen Türmen, die wie schief zusammengeklebt wirken. In meinem Stadtführer lese ich, dass es sich um die 2012 fertiggestellten „Tanzenden Türme“ des iranisch-deutschen Architekten Hadi Teherani handelt, in denen heute zahlreiche Büros untergebracht sind. Nicht gerade der Empfang, den ich von St. Pauli erwartet hatte. Die Türme befinden sich auf Höhe Hausnummer 1 der Reeperbahn, der bekanntesten Straße des Viertels, und das verrät vielleicht etwas darüber, wie Hamburg seine Zukunft sieht.
Auf der Reeperbahn sind viele Kneipen und Fast-Food-Läden noch geschlossen, vor einer Spielhalle steht ein etwa siebzigjähriger Mann und raucht nervös. Ein Corona-Testzentrum und ein Sexshop, Tür an Tür, teilen sich die Abwesenheit von Besuchern. Ein paar Meter weiter ordnet ein Angestellter im offiziellen Fanshop des FC St. Pauli einen Stapel T-Shirts mit Totenkopfmotiv. Ich spaziere lange herum und setze mich dann in den Gastgarten eines griechischen Restaurants, um zu Mittag zu essen. Die Gäste sind fast alle Dreißigjährige auf Mittagspause, wahrscheinlich Stammgäste. Von meinem Tisch habe ich den Eingang zur Herbertstraße, der berühmten Rotlichtmeile, im Blick. Während ich esse, sehe ich nur einen Mann, der sich in die kleine Straße wagt. Mit schnellem Schritt verschwindet er hinter dem Tor, die Kapuze des Sweatshirts über den Kopf gezogen.
UNTERWEGS MIT DER ÜBERSETZERIN VON CAMILLERI
Am Nachmittag begebe ich mich ins Grindelviertel, das seit jeher als Zentrum der jüdischen Gemeinde Hamburgs gilt. Die Szenerie ändert sich radikal: elegante Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert, Antiquariate, koschere Kaffeehäuser, Fahrradläden. Hier lebt Annette Kopetzki, die zweite „Insiderin“, die ich interviewen werde. In ihrer Mail hat sie mir vorgeschlagen, eine Radtour zu machen. Annette, die in Hamburg geboren und aufgewachsen ist, übersetzt zahlreiche bekannte italienische Schriftsteller*innen ins Deutsche, darunter Roberto Saviano, Erri De Luca, Valeria Parrella und Alessandro Baricco. Sie ist es, die dem deutschen Lesepublikum auch den ausdrucksstarken sizilianischen Dialekt von Andrea Camilleri verständlich macht.Annette tritt lächelnd vor die Tür, sie trägt Jeans und T-Shirt und erklärt mir umgehend mit einer Mischung aus italienischer Herzlichkeit und deutschem Pragmatismus, dass mein Fahrrad auf dem Dachboden steht und wir es herunterholen müssen. Sie möchte mir auch ihren Sohn Giacomo vorstellen, der in der Nähe wohnt, 37 Jahre alt ist und als Kameramann arbeitet. Er ist in Rom geboren, während Annettes Zeit in Italien. Ich plaudere mit ihm auf dem Weg zur ersten Station unserer Tour: dem Campus der Universität Hamburg. Annette studierte in den 70er Jahren hier. „Es war eine schwierige Zeit, eine Zeit der politischen Unruhen, die Zeit der Baader-Meinhof-Bande. Ich kam aus einer ziemlich konservativen katholischen Familie und fühlte mich anfangs wie ein Fisch auf dem Trockenen“, erzählt sie auf dem halbverwaisten Vorplatz der Universität. „Dann habe ich mich angepasst …“, fügt sie lachend hinzu. Vor uns erhebt sich der Philosophenturm, der mit seinen 52 Metern den Campus überragt. Annette erinnert sich an ihre Studienzeit, die hitzigen Studentenversammlungen, die Nachmittage im Abaton-Kino. Dann führt sie mich zum Joseph-Carlebach-Platz, der weniger wie ein Platz wirkt, als vielmehr eine zwischen den umliegenden Gebäuden freigebliebene Fläche. Auf dem Boden erinnert ein Mosaik an die Anfang des 20. Jahrhunderts erbaute und 1938 von den Nazis zerstörte Synagoge. „Die damals größte Synagoge Norddeutschlands“, erklärt Annette unter dem misstrauischen Blick eines Polizisten, der die angrenzende jüdische Schule bewacht. „In den kommenden Jahren wird sie wiederaufgebaut werden.“
Nachdem wir uns von Giacomo verabschiedet haben, schwingen wir uns auf die Räder und fahren langsam ins Grindelviertel. Es ist ein ganz anderes Hamburg als das der HafenCity, architektonisch aus dem 20. Jahrhundert, entspannt, ohne den Modernisierungseifer, der anderswo zu spüren ist. Wir folgen einer Straße entlang der Außenalster, dem größeren der beiden Hamburger Stadtseen, zu unserer Rechten ziehen prächtige Villen mit Garten, die amerikanische und die britische Botschaft, eine Akademie für Mode und Design vorbei. Annette bedeutet mir, in den Park Planten un Blomen einzubiegen. Der Himmel hat sich verdunkelt, es sieht aus, als würde es bald regnen. Wir setzen uns auf eine Bank, um einen Teil des Interviews aufzunehmen. Ich frage sie, wie sich Hamburg seit Beginn der 90er Jahre, also seit ihrer Rückkehr in die Stadt, verändert hat. Sie denkt einen Augenblick nach und meint dann: „Es wurde überall gebaut.“
RÜCKKEHR NACH BERLIN
Eine Anekdote besagt, dass der Hamburger Naturlyriker und Politiker Barthold Heinrich Brockes bei einem Spaziergang durch Hamburg gemeinsam mit einem befreundeten Maler diesen aufforderte, mit seinen Händen ein Fernrohr zu formen und sich umzusehen, damit er eine Reihe von Landschaften ausmachen könne, die er später einzeln malen sollte. Ich lese diese Geschichte auf einer der Infotafeln der Hamburger Kunsthalle. Es ist mein dritter und letzter Tag in der Stadt, ich nutze das schlechte Wetter, um das Museum zu besuchen. Ich bin gespannt darauf, Caspar David Friedrichs berühmten Wanderer über dem Nebelmeer aus der Nähe zu sehen. In dem Saal, in dem das Werk ausgestellt ist, machen zwei junge Frauen Anfang zwanzig ein paar Fotos in lustigen Posen, dann ziehen sie weiter. Ich setze mich auf eine Bank und betrachte das Gemälde mehrere Minuten lang, und zwar vollkommen allein – ein Privileg, das uns bei Werken dieser Art nicht oft zuteilwird.Später, als ich bei leichtem Regen in Richtung Bahnhof gehe, denke ich zurück an die Anekdote zu Brockes und sage mir, dass ich letztlich mehr oder minder genau das mache, was er seinem Malerfreund geraten hat: Ich suche eine Reihe von Landschaften, um anschließend von ihnen zu berichten. Allerdings ist mir dabei wichtig, dass ein roter Faden erkennbar ist, dass diese Landschaften nebeneinandergestellt etwas über Hamburg erzählen. Auf der Suche nach einem weiteren Bild, vielleicht genau dem, das alles zusammenhält, finde ich mich im Zug nach Berlin wieder, zwischen den Wohnblocks und Industriehallen am nördlichen Stadtrand der Hauptstadt. Und als der Zug im Stadtgebiet langsamer wird, fällt mir ein Gebäude auf, das ich zwei Tage zuvor nicht bemerkt hatte, ein imposanter Backsteinbau, der vage an die Lagerhäuser der Speicherstadt erinnert. Ich habe ein Déjà-vu, als würde der Zug wieder in die andere Richtung fahren. Dann denke ich, dass es genau das ist, was Städte wie Hamburg machen: Nachdem man sie gesehen hat, tauchen sie plötzlich woanders auf.