Ein Gespräch mit Nadia Terranova
Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand

Nadia Terranova
Nadia Terranova | Foto (Zuschnitt) © Daniela Zedda

Seit Juni ist die Schriftstellerin Nadia Terranova mit ihrem Roman „Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand“ (Aufbau-Verlag, übersetzt von Esther Hansen) im deutschen Buchhandel vertreten. In Italien trägt das Buch den Titel „Addio fantasmi“  (Einaudi, 2018) und zählt zu den Finalisten für den Premio Strega 2019.

Von Giulia Mirandola

Es ist der erste Roman der in Messina geborenen Schriftstellerin und Wahlrömerin, der ins Deutsche übersetzt wurde. Die Autorin selbst fühlt sich Deutschland, wie sie erzählt, sowohl aus kulturellen wie aus nicht-literarischen Gründen verbunden. Ihr jüngstes literarisches Werk in italienischer Sprache, der Kurzgeschichtenband Come un romanzo d’amore (Giulio Perrone Editore), ist zum selben Zeitpunkt erschienen, als sie ihre Tour durch die wichtigsten deutschen Städte starten sollte, um Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand zu bewerben. Aufgrund der Pandemie wurde diese nun aber in den Herbst verschoben.
 

Buchcover von „Eva dorme“ von Francesca Melandri, Mondadori 2010
Eva dorme | Francesca Melandri | Buchcover © Mondadori 2010
Wie bist du zum Aufbau-Verlag gekommen, bei dem jetzt die deutsche Ausgabe von „Addio fantasmi“ erscheint – „Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand“?

Addio fantasmi (Einaudi, 2018) hatte Constanze Neumann, der Leiterin des Berliner Traditionsverlagshauses Aufbau-Verlag, sehr gefallen. Neumann ist selbst Schriftstellerin wie auch Übersetzerin und kennt Sizilien sehr gut. Sie war der Meinung, dass mein Roman für den deutschen Markt gut passen würde. Ich bin darüber sehr glücklich und bin neugierig, welche Reaktionen er erhalten wird. Vor der Pandemie hatten wir Buchpräsentationen in verschiedenen deutschen Städten geplant. Am 14. Mai hätte ich nach Berlin kommen sollen – zum Italienischen Literaturfrühling 2020 des Italienischen Kulturinstituts in Berlin. Als Ersatz fand ein Gespräch zwischen mir und der Leiterin des Aufbau-Verlags Constanze Neumann via Zoom statt, dem eine Einführung durch die aktuelle Leiterin des Kulturinstituts Dottoressa Michela De Riso vorausging. Ich hoffe, dass ich im Herbst nach Deutschland reisen kann.
 
Sind schon vor „Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand“ Texte von dir ins Deutsche übersetzt worden?

Die ersten Texte von mir, die ins Deutsche übersetzt wurden, finden sich in einer Publikation mit dem Titel Due mari/Zwei Meere (übersetzt von Anja Mehrmann) aus dem Jahr 2018. Diese nicht im Handel erhältliche Publikation entstand im Rahmen des Kulturprojekts LeggìIO, das von Francesca Bravi, Dozentin am Romanischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität Kiel geleitet wird. Bravi hält jedes Jahr ein Übersetzungsseminar, zu dem sie Autorinnen und Autoren einlädt, die noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Parallel dazu stellt sie diese auch in anderen deutschen Städten, wie Lübeck, Hamburg, Leipzig und Berlin vor, um sie sowohl italienisch- als auch deutschsprachigen Leserinnen und Lesern auch persönlich bekannt zu machen. Ebenfalls 2018 veröffentlichte außerdem das unabhängige Verlagshaus Nonsolo aus Freiburg in der Anthologie Spiegelungen/Vite allo specchio einen Text von mir. Ziel dieses Kultur- und Verlagsprojekts war es, zeitgenössischer italienischer Literatur durch Übersetzung eine deutsche Stimme zu geben.

Buchcover von „Più in alto del mare“ von Francesca Melandri, Rizzoli 2012
Più in alto del mare | Francesca Melandri | Buchcover © Rizzoli 2012
Was bedeutet für dich „Übersetzung“?

Die Übersetzung von Addio fantasmi stammt von Esther Hansen. Der Verlag hat dafür einen anderen Titel gewählt, Der Morgen, an dem mein Vater aufstand und verschwand. Ich habe den Anfang gelesen und finde ihn wunderschön. Ich habe große Achtung und Respekt vor der Arbeit von Übersetzerinnen und Übersetzern. Ich lasse ihnen freie Hand. Ich kann zwar ein wenig Deutsch, aber ich würde mich nie in ihre Entscheidungen einmischen.
 
Was verbindet dich mit Berlin, mit Deutschland und der deutschen Kultur?

In meinem ersten Roman, Gli anni al contrario (Einaudi, 2015), der bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, gibt es eine Stelle, in der explizit Berlin und die Mauer genannt werden. Die Szene spielt im Frühjahr 1989, vor der Wende. Der Aufbau-Verlag, bei dem jetzt mein erster Roman auf Deutsch erscheint, hat seinen Sitz in Berlin. Außerdem bin ich Deutschland, der deutschen Sprache und Kultur auch aus persönlichen Gründen verbunden. 1999/2000 war ich als Erasmus-Studentin in Oldenburg in Niedersachsen, unweit von Bremen. Ich studierte Philosophie und beschloss in diesem Jahr nur einmal, in den Weihnachtsferien, zurück nach Italien zu fahren. Ich habe Deutsch in der Schule gelernt und danach weiter vertieft und es ist die Fremdsprache, in der ich am meisten gesprochen habe. Aus diesen Gründen fühle ich mich Deutschland verbunden.
 
Wie hast du die deutsche Literatur kennengelernt? Welche Schriftsteller und Schriftstellerinnen schätzt du besonders?

Unsere Deutschlehrerin in der Mittelschule hat uns einmal das Lied von der Loreley von Heinrich Heine vorgelesen. Ich weiß noch, dass ich ganz verzaubert war vom lyrischen Ich des Dichters und vom Bild dieser Sirene am Rhein mit ihrem goldenen Haar. Als Jugendliche schwärmte ich für die Gedichte von Goethe und ich spüre, dass sie mich geprägt haben. Der Sturm und Drang und die deutsche Romantik faszinierten mich. Mit zwanzig stieß ich dann zum ersten Mal auf Christa Wolf und begann daraufhin bewusst Autorinnen meiner Generation zu lesen. Darunter zum Beispiel die Berliner Illustratorin Nadia Budde, die in Italien das Buch Sangue dal naso e altre avventure (Topipittori, 2017) veröffentlicht hat, in dem sie von ihrer Kindheit in der ehemaligen DDR erzählt (Originalfassung: Such dir was aus, aber beeil dich!). Oder auch die Brandenburger Schriftstellerin und Journalistin Claudia Rusch, die das wundervolle Buch Meine freie deutsche Jugend geschrieben hat, das in Italien unter dem Titel La stasi dietro il lavello (Keller, 2009) erschienen ist.

Du bist in Messina geboren und in Messina spielt auch dein Roman, der jetzt in Deutschland herauskommt. Wohin möchtest du deine deutschen Leser und Leserinnen gedanklich entführen?

Bei meinen Besuchen in Deutschland habe ich jedes Mal eine große Begeisterung der Deutschen für bestimmte Orte, insbesondere für die Toskana und Sizilien wahrgenommen. Ich frage mich immer, ob eine Geschichte auch an einem anderen Ort oder in einer anderen Zeit spielen könnte. Die Geschichte, die ich geschrieben habe und die ich erzähle, hat etwas Universelles – gleichzeitig hätte sie so nur in Messina passieren können. Messina repräsentiert dabei die Provinz und könnte als solche problemlos in den Hintergrund treten. Aber ich bringe die Leser und Leserinnen direkt dorthin. Mir gefällt die Idee, dass die Deutschen auf diese Weise einen Abstecher abseits der üblichen Routen machen.

Welche Frauen waren für dich in deiner Kindheit, in deiner Jugend kulturelle Leitfiguren beziehungsweise welche sind es jetzt, im Erwachsenenalter?

In meiner Kindheit war das Laura Gonzenbach, eine sizilianische Schriftstellerin und Ethnologin, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte. Ihre Familie war Teil der Schweizer Gemeinschaft in Messina. Laura Gonzenbach beschäftigte sich mit mündlichen Erzählungen und veröffentlichte das Buch Sicilianische Märchen. Die Sammlung stammt aus dem Osten Siziliens und entstand noch vor den Arbeiten von Giuseppe Pitrè.
Als Jugendliche dann zweifellos Simone de Beauvoir. Memoiren einer Tochter aus gutem Hause und Das andere Geschlecht waren zwei sehr wichtige Bücher für mich in dieser Zeit.
Im Erwachsenenalter schließlich Rita Levi Montalcini – aufgrund der Leidenschaft und Beharrlichkeit, mit der sie Dingen auf den Grund ging, Wissenschaft betrieb und forschte.

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